| # taz.de -- Entwicklungsforscher über Gaza: „Radikalisierung droht“ | |
| > Entwicklungsökonom Markus Loewe warnt davor, die Hilfen für die | |
| > palästinensischen Gebiete auszusetzen. Dies würde nur der Hamas in die | |
| > Hände spielen. | |
| Bild: „… die Lage ist kurz vor dem Punkt, wo ein vernünftiges Leben überh… | |
| taz: Herr Loewe, Ägypten und Israel haben zugesagt, humanitäre Güter über | |
| den [1][Grenzposten Rafah] für den Gazastreifen zuzulassen. Wie bewerten | |
| Sie diese Zusage? | |
| Markus Loewe: Noch ist ja nichts passiert, aber es ist wichtig, dass Rafah | |
| aufgemacht wird, damit [2][Hilfsgüter nach Gaza] kommen. Allerdings ist | |
| erstens gar nicht sicher, ob Ägypten überhaupt den Grenzübergang öffnet. | |
| Zweitens ist unklar, ob Israel wirklich zustimmt, und drittens, wie die | |
| Freigabe der Güter seitens der Israelis gehandhabt wird. Israel hat sich | |
| auf den Standpunkt gestellt, dass alles, was reinkommt, auch kontrolliert | |
| werden muss. Das kann zu einer wahnsinnigen Verzögerung führen. | |
| Besteht aber nicht die Gefahr, dass die Hilfsgüter in die Hände der Hamas | |
| fallen, wenn es keinen Waffenstillstand gibt? | |
| Ja, die Gefahr besteht, dass die Hamas bestimmt, wer die Hilfen bekommt und | |
| nach dem Loyalitätsprinzip agiert. Aber was ist die Alternative? Die | |
| Bevölkerung verhungert und verdurstet. | |
| Was muss nach der Grenze passieren? | |
| Internationale Organisationen wie UNRWA – das UN-Hilfswerk für geflüchtete | |
| Palästinenser – haben Verteilungsstrukturen in den vergangenen Jahren | |
| aufgebaut. Sie arbeiten mit lokalen Kräften und die wissen, was zu tun ist. | |
| Aber ein guter Verteilmechanismus hat die Voraussetzung, dass die Hamas | |
| sich nicht einmischt. Ohnehin müssen aber auch von Hilfsorganisationen neue | |
| Verteilstrukturen aufgebaut werden. Denn Menschen, die im Norden bisher | |
| erreicht werden konnten, sind größtenteils in den Süden geflohen und leben | |
| dort an Stellen, wo es keine Verteilstrukturen gibt. | |
| Was wäre aus Ihrer Sicht eine „echte“ Hilfe für Gaza? | |
| Ich plädiere für einen [3][humanitären Korridor], in dem die Transporter | |
| nicht angegriffen werden und internationale Hilfsorganisationen die | |
| Verteilung umsetzen können. Der Sprit geht zu Ende, es gibt kein | |
| aufbereitetes Trinkwasser mehr, der Strom wurde abgeschaltet. Die Situation | |
| in Gaza ist nicht mehr nur schlecht, sondern die Lage ist kurz vor dem | |
| Punkt, wo ein vernünftiges Leben überhaupt nicht mehr möglich ist. Wir | |
| müssen alles dafür tun, damit möglichst viele Güter ins Land reinkommen, um | |
| eine humanitäre Katastrophe zu verhindern, die es in dieser Form vermutlich | |
| seit 1948 oder 1949 nicht mehr gegeben hat. | |
| Wie schätzen Sie die bisherige Lage der Zivilbevölkerung im Gazastreifen | |
| ein? | |
| [4][Die humanitäre Lage im Gazastreifen war schon bisher katastrophal]. Die | |
| Bevölkerung leidet in extremen Maße unter Unterernährung, unter | |
| Mangelversorgung in Sachen Gesundheitsdienstleistungen, zum Teil sogar an | |
| Mangel an Trinkwasser. Die Geber, darunter Deutschland, die EU und andere, | |
| haben sich bemüht, ein halbwegs erträgliches Leben herzustellen. | |
| Ich sehe es als die Verantwortung Deutschlands und Europas an, die | |
| Bevölkerung zu unterstützen, die ja nicht in Haft genommen werden sollte | |
| für die Politik ihrer De-facto-Regierung. | |
| Es gibt auch Stimmen, die Hamas-Kämpfer unter der Zivilbevölkerung vermuten | |
| und daher Hilfe ablehnen. | |
| Wir dürfen uns nicht vorstellen, dass die Palästinenser alle Anhänger der | |
| Hamas sind. Es gibt eben auch sehr viele, die sehr kritisch eingestellt | |
| sind. Das dürfen sie nur nicht sagen, weil die Repression im Gazastreifen | |
| sehr stark ist. Aber wir setzen uns ja auch in Afghanistan dafür ein, dass | |
| den Opfern von Erdbeben geholfen wird. | |
| Wir setzen uns in vielen Ländern dafür ein, dass Notleidende nach | |
| Katastrophen unterstützt werden, auch wenn die Regierungen autoritär sind. | |
| Im Rahmen der humanitären Hilfe wird nie geschaut, was für eine Regierung | |
| da ist, weil man einfach die Bevölkerung nicht in Haft nehmen darf für die | |
| Politik der Regierung. | |
| Nun befürchten aber viele, dass die Hamas auch Hilfsgelder für die | |
| Herstellung von Waffen zweckentfremdet. Muss man da nicht die Hilfe | |
| einstellen? | |
| Meines Erachtens nein. Es ist ja nicht so, dass erst seit diesem Wochenende | |
| bekannt ist, dass die Hamas eine Terrororganisation ist. Wir müssen hier | |
| ganz stark unterscheiden zwischen dem, was im Westjordanland läuft, und | |
| dem, was im Rahmen der deutschen Entwicklungszusammenarbeit im Gazastreifen | |
| gelaufen ist. Das ist vollkommen anders von der Form und von der | |
| Ausrichtung her konzipiert gewesen. | |
| Was meinen Sie damit konkret? | |
| Mit der palästinensischen Autonomiebehörde ist echte | |
| Entwicklungszusammenarbeit durchgeführt worden, wie sie auch mit anderen | |
| Ländern wie Jordanien, wie Ägypten und vielen anderen Ländern läuft. Im | |
| Gazastreifen hat es nur Unterstützung gegeben, die eher mit dem, was man | |
| eigentlich humanitäre Hilfe nennen würde, vergleichbar ist. Das heißt, es | |
| hat keine Kooperation mit der Hamas gegeben und es ist auch kein Geld an | |
| die Hamas geflossen. | |
| Es hat auch kaum einen bilateralen Einsatz gegeben, sondern das, was | |
| Deutschland aufgewendet hat, ist fast ausschließlich an internationale | |
| Organisationen und internationale Nichtregierungsorganisation wie das Rote | |
| Kreuz und den Roten Halbmond geflossen. Dies hat im Wesentlichen dazu | |
| gedient, die humanitäre Situation der Bevölkerung zu verbessern. Das heißt, | |
| es handelte sich um Lebensmittelhilfen, um Unterstützung für die | |
| Gesundheitsversorgung und um die Versorgung mit Trinkwasser. | |
| Entwicklungszusammenarbeit wird vom Bundesentwicklungsministerium, also dem | |
| Haus von Svenja Schulze (SPD), finanziert. Humanitäre Hilfe kommt aus dem | |
| Auswärtigen Amt. Was wurde denn nun wie finanziert? | |
| Es haben verschiedenste Aktivitäten im Westjordanland stattgefunden. Zum | |
| Beispiel hat es Unterstützung im Bereich Berufsbildung gegeben, im Bereich | |
| Schulbau, für die Unternehmensförderung, für einen Industriepark, wo sich | |
| kleine Unternehmen ansiedeln können oder für eine Verwaltungsreform. | |
| Wenn ich sage, die Entwicklungszusammenarbeit mit dem Gazastreifen ist aber | |
| letztlich auch so etwas wie humanitäre Hilfe, dann will ich damit sagen, | |
| dass das Bundesentwicklungsministerium Maßnahmen durchführt, die von der | |
| Natur her so sind wie humanitäre Hilfe. Der Unterschied ist: Sie sind | |
| längerfristig angelegt, das heißt, es gibt längerfristige Zielsetzungen und | |
| Zusagen an internationale Organisationen, um eben medizinische Versorgung | |
| und Nahrungsmittel sicherzustellen. Das läuft dann beispielsweise über das | |
| UN-Flüchtlingshilfswerk für palästinensische Flüchtlinge oder über das | |
| World Food Programm. | |
| Aber in Gaza gibt es eine Ausnahme? | |
| Ja, es wurde mit Mitteln des BMZs eine Kläranlage gebaut. Das Problem des | |
| Gazastreifens ist, dass im Prinzip kein Trinkwasser da ist. Das liegt | |
| daran, dass es eigentlich keine Flüsse dort gibt und dass der | |
| Grundwasserspiegel immer stärker absinkt. Dennoch sind eben zweieinhalb | |
| Millionen Menschen mit Trinkwasser zu versorgen, und das funktioniert nur, | |
| wenn extrem sparsam mit dem wenigen Wasser, was da ist, umgegangen wird. | |
| Dafür wurde die Kläranlage gebaut. Auch das erfolgte aber nicht zusammen | |
| mit der Hamas, sondern in Zusammenarbeit mit unabhängigen Organisationen. | |
| Trotzdem hat Ministerin Schulze mit Beginn des Krieges angekündigt, die | |
| Entwicklungszusammenarbeit auf den Prüfstand zu stellen. Ist das richtig? | |
| Den Vorwurf, Geld könnte indirekt an die Hamas geflossen sein, muss man | |
| ernst nehmen. Man tut alles, um sicherzustellen, dass die Mittel, die | |
| aufgewendet werden, nicht in die Taschen derer fließen, die jetzt hier für | |
| das Problem verantwortlich sind. Aber ganz ausschließen lässt sich das nie. | |
| Die Herausforderung besteht darin, dass man die Wahrscheinlichkeit, dass | |
| das passiert, auf ein Minimum reduziert. | |
| Also doch Einstellen beim kleinsten Zweifel? | |
| Sicherstellen, dass es keinen Missbrauch gibt, kann man nur, indem man die | |
| Hilfe ganz einstellt. Nach dem brutalen Angriff auf Israel ist es die | |
| richtige Reaktion, alle Hilfen zu prüfen. Nach allem, was ich weiß, gehe | |
| ich aber nicht davon aus, dass festgestellt wird, dass hier irgendwo Geld | |
| verschwunden ist. Dazu ist nach meinen Informationen schon bisher so gut | |
| geprüft worden, dass dieses Risiko wirklich auf dem Minimum abgesenkt | |
| worden ist. | |
| Wie wird denn geprüft? | |
| Man muss im Prinzip die gesamte Kette prüfen. Von dem Moment, wo das Geld | |
| aus dem Bundeshaushalt ausgezahlt wird an eine durchführende Organisation, | |
| die dann Material anschafft, die dann Projekte durchführt. Man muss an | |
| jeder Stufe letztlich sicherstellen, dass Lebensmittelhilfen nicht vor | |
| allem an Menschen gehen, die der Hamas nahestehen. Man muss überprüfen, | |
| welche Firmen beauftragt werden, ob deren Gewinne an die Hamas fließen. | |
| Das heißt, in der gesamten Kette, von dem Moment an, wo das Geld angewiesen | |
| wird, bis zu dem Moment, in dem die Steine für irgendein Bauwerk | |
| aufeinandergeschichtet werden oder die Nahrungsmittelhilfe an die | |
| Bevölkerung ausgegeben wird oder die Gesundheitsversorgung erfolgt, muss | |
| eben jeder Schritt einzeln überprüft werden, ob an irgendeiner Stelle | |
| überproportional an Personen oder Institutionen überwiesen wird, die dann | |
| eben doch der Hamas nahestehen. Es hat niemand Interesse daran, dass Geld | |
| verschwindet. | |
| Nun wird geprüft, unter Umständen fließt kein Geld mehr. Lässt sich die | |
| Hamas davon beeindrucken? | |
| Nein, auf gar keinen Fall. Der Hamas ist es ziemlich egal, wie es der | |
| Bevölkerung geht und wie der Westen reagiert. Die Hamas ist eine hochgradig | |
| ideologische Organisation, und sie hat schon bisher bewiesen, dass sie sich | |
| durch rein gar nichts in ihren Aktivitäten einschüchtern lässt. Das | |
| Einstellen der Hilfe würde die Bevölkerung strafen, aber sicherlich nicht | |
| die Hamas. | |
| Könnte dies gar eine Radikalisierung der Bevölkerung bedeuten? | |
| Natürlich führt ein Einstellen der Hilfe zu einer weiteren Radikalisierung. | |
| Wenn die Menschen im Gazastreifen darüber informiert sind, dann verlieren | |
| sie natürlich ihren letzten Glauben daran, dass der Westen sich überhaupt | |
| noch um sie kümmert. Die einzige Organisation, die dann wirklich noch für | |
| sie da ist, ist dann tatsächlich die Hamas. | |
| Was ist Ihre Prognose für eine Bodenoffensive in Gaza? | |
| Wir müssen mit sehr vielen Toten und mit sehr großen, auch materiellen | |
| Verlusten rechnen. So oder so wird sich die humanitäre Situation im | |
| Gazastreifen noch weiter zuspitzen. Es werden von islamistischen und | |
| propalästinensischen Organisationen überall auf der Welt Bilder gemacht | |
| werden, und man wird sagen, die Israelis sind doch auch nicht besser. | |
| Ich teile diese Argumente nicht, aber wir müssen eben mit diesen Reaktionen | |
| rechnen. Dies wird zu einer wahnsinnigen Polarisierung zumindest im Nahen | |
| Osten, aber vermutlich weltweit führen. Der alte Palästinakonflikt war nie | |
| überwunden. Er wird die Staatenwelt wieder stärker in Lager aufteilen. | |
| Meine Befürchtung ist, dass dann jegliche Kooperation islamischer Staaten | |
| mit Israel sehr schwierig wird, weil die eigene Bevölkerung in diesen | |
| Ländern schon fast reflexhaft und unreflektiert Partei ergreift für die | |
| palästinensische Seite. | |
| Entwicklungszusammenarbeit ist auch Versöhnungsarbeit. Sehen Sie dafür | |
| überhaupt eine Chance? | |
| Die Entwicklungszusammenarbeit der klassischen Form, wie wir es mit | |
| Jordanien oder Marokko machen, ist sowieso im Gazastreifen nicht möglich, | |
| war es nie und wird es auch nicht sein, solange die Hamas da ist. | |
| Humanitäre Hilfe wird noch mehr notwendig sein als bisher, weil Häuser | |
| zerstört werden, weil Menschen gesundheitliche Versorgung brauchen werden, | |
| weil die Versorgung mit Lebensmitteln noch schwieriger sein wird. | |
| Das wird natürlich für eine begrenzte Zeit logistisch schwierig werden. Die | |
| internationalen Organisationen verfügen über Erfahrungen. Aber wir reden | |
| hier nicht von Entwicklungszusammenarbeit, wie sie in der Westbank den | |
| Aufbau von Institutionen, von Versorgungsinfrastruktur unterstützt. Wir | |
| reden hier von der Versorgung der Bevölkerung mit dem Allernotwendigsten. | |
| 20 Oct 2023 | |
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| Tanja Tricarico | |
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