# taz.de -- Vielfalt in Deutschland: Imperiale Nostalgie | |
> Vom schwierigen Umgang weißer Männer mit den postkolonialen Realitäten im | |
> heutigen Deutschland. | |
Gleich zu Beginn der Sitzung war es wieder so weit: Ein gestandener | |
Professor verkündete mit betont ironischem Unterton, dass er sich freue, | |
hier als [1][weißer, alter Mann] noch mitreden zu dürfen. Zustimmung | |
heischend schaute er in die Runde – und tatsächlich quälten sich einige der | |
anwesenden Kolleginnen ein strategisches Lächeln ab. Denn in dem Meeting | |
ging es um die Förderung von Diversität an der Universität. | |
Und wie so oft hielten wir es deshalb für ratsam, im Dienste der guten | |
Sache trotz solcher eigentlich inakzeptabler Äußerungen stillzuhalten. Ich | |
weiß nicht, wie häufig ich Varianten dieses Witzes, der gar nicht witzig | |
ist, in den letzten Jahren gehört habe. Immer schwingt dabei die | |
Überzeugung mit, dass es irgendwie unverständlich oder sogar ungehörig sei | |
zu verlangen, dass man sich selbstkritisch mit strukturellen Privilegien, | |
die ein tief in der Gesellschaft verwurzelter Rassismus und Sexismus so mit | |
sich bringen, auseinandersetzen solle. | |
Das sehen Menschen, die im Visier dieser Diskriminierungen stehen, | |
gemeinhin anders: Frauen* und Queers; Personen, die als nicht (ganz) weiß | |
gelten und Menschen, die mit anderen, jenseits des europäischen Westens | |
imaginierten Religionen und Kulturen assoziiert werden. | |
Gerade aus ihrer Perspektive zeigt sich deutlich, wie berechtigt es ist, | |
auch mal die Haltung derjenigen kritisch zu betrachten, die sich in einer | |
wie selbstverständlich privilegierten, scheinbar eindeutigen Position | |
wähnen und von dort aus kopfschüttelnd über den als | |
[2][„Identitätspolitik“] kleingeredeten Widerstand der Anderen urteilen. | |
Dass diese Privilegien heute tatsächlich herausgefordert werden, ist | |
unübersehbar. | |
[3][Prozesse einer Dekolonisierung] alter Machtverhältnisse, die nicht nur | |
weit weg, sondern auch vor der eigenen Haustür spürbar werden, sind manchen | |
Grund genug, sich in ihren vermeintlich angestammten Vorrechten angegriffen | |
zu fühlen. Formen der Selbstviktimisierung, der Stilisierung als nun selbst | |
von Kolonisierung durch fremde Religionen, Kulturen und Geschlechter | |
Betroffene, wurden zwar von der AfD und anderen in den Diskurs eingeführt, | |
heute sind solche Positionen aber längst gängiger Stoff für Diskussionen im | |
gesellschaftlichen Alltag bis in die Seiten der großen Zeitungen. | |
## „Umgekehrter Rassismus“ als Kampfansage | |
Eine imperiale Nostalgie greift um sich, die offen oder verdeckt der | |
Dominanzkultur einer kolonialen Moderne nachtrauert. Besonders eklatant | |
zeigt sich die zunehmende Aggressivität weißer Selbstüberhöhung in | |
Angriffen auf Wissenschaftler*innen, die zu Rassismus forschen. So | |
geschehen etwa mit Maisha Maureen Auma oder Yasemin Shooman, zwei weithin | |
anerkannten Kolleginnen auf diesem Gebiet. | |
Auma, Professorin für Kindheit und Differenz an der Hochschule Stendal, | |
hatte in einem Interview beklagt, dass Universitäten weitgehend weiße | |
Institutionen seien und die Zusammensetzung des wissenschaftlichen | |
Personals an Hochschulen die postmigrantische Realität nicht im Mindesten | |
abbildeten. Daraufhin bezichtigte der kulturpolitische Sprecher der | |
AfD-Landtagsfraktion in Sachsen-Anhalt Auma eines [4][„Rassismus gegen | |
Weiße“]. | |
[5][Yasemin Shooman], frühere Leiterin der Akademie des Jüdischen Museums | |
und heutige Wissenschaftliche Geschäftsführerin des Deutschen Zentrums für | |
Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM), wurde wiederum der | |
Verharmlosung eines solchen „Anti-Weißen-Rassismus“ beschuldigt. In einem | |
Artikel wird Shooman implizit vorgeworfen, sie verteidige Angriffe auf | |
Deutsche. | |
Der Autor [6][Alan Posener] bezieht sich auf einen Debattenbeitrag Shoomans | |
für die Bundeszentrale für politische Bildung, in dem sie | |
„deutschenfeindliche“ Beleidigungen zwar kritisierte, diese jedoch nicht | |
als Form eines gesellschaftlich verankerten Rassismus gelten ließ – eine | |
Einschätzung, die eine etablierte Position innerhalb der Rassismusforschung | |
widerspiegelt. | |
Interessant ist, dass der Vorwurf der Deutschenfeindlichkeit vor allem an | |
Muslim*innen adressiert und gegen diese in Stellung gebracht wird. Der | |
von Posener pauschal an Shooman festgemachte Vorwurf, wer immer sich mit | |
antimuslimischem Rassismus beschäftige, spiele zudem den muslimischen | |
Antisemitismus herunter, erkläre gar die Muslim*innen zu den neuen | |
Jüd*innen und fördere die israelbezogene Judenfeindschaft, trägt zu einer | |
geradezu demagogischen Simplifizierung der Sicht auf die Verhältnisse bei. | |
Es wird suggeriert, es handele sich bei diesen Auseinandersetzungen um | |
einen Kampf, bei dem sich radikale Religionsfreiheit und islamistischer | |
Terrorismus gegenüberstünden. Ein Kampf, in dem nur die eine auf Kosten der | |
anderen Position eingenommen werden könne. Das ist eine pauschale, geradezu | |
demagogische Simplifizierung der Verhältnisse, in der die Existenz von | |
Kritiker*innen und einem moderaten Mainstream auf beiden dieser | |
scheinbar eindeutigen Seiten unterschlagen wird. | |
Auch in Frankreich nimmt der Diskurs polarisierende Züge an, wenn etwa | |
Präsident Emmanuel Macron nach dem islamistisch motivierten Anschlag auf | |
den Lehrer Samuel Paty ganz unverhohlen eine „linke“, rassismuskritische | |
Universitätskultur beschuldigte, den Hass auf „Weiße“ und „Frankreich�… | |
befördern. Solcher Hass wird implizit generalisierend ‚den‘ Muslim*innen | |
unterstellt. Ebenso implizit und generalisierend wird ‚die‘ | |
nicht-muslimische Gegenseite als säkular und tolerant imaginiert. | |
## Gewaltgeschichten sind verflochten | |
Das ist eine Neuauflage kolonialrassistischer Fremd- und Selbstbilder, die | |
ebenso pauschalisierende Gegenwehr provoziert und damit die existierenden | |
Spielräume eines möglichen Dialogs immer weiter verkleinert. Vor diesem | |
Hintergrund sind differenzierende Stimmen wie die von Yasemin Shooman | |
unverzichtbar. Ihre Berufung in den Unabhängigen Expertenkreis | |
Muslimfeindlichkeit durch Innenminister Seehofer ist ein Zeichen, sich | |
endlich auch mit den gegen Muslim*innen gerichteten Ressentiments aus | |
fundierter wissenschaftlicher Perspektive zu befassen. | |
Die reflexartig vorgebrachten Vorwürfe aus konservativen und rechten | |
Kreisen, wonach es hier eine Schieflage in die andere Richtung gebe, | |
nämlich zu wenig auf Kritiker*innen des Islamismus zu hören, sind | |
ungerechtfertigt. Das Gegenteil ist der Fall, wie wir seit den gefühlt ewig | |
verschleppten und einseitig verzerrten Ermittlungen zu den | |
[7][terroristischen Anschlägen des NSU] wissen. Die Welle der gegen | |
Muslim*innen gerichteten Gewalttaten reißt indes keineswegs ab. | |
Das haben nicht zuletzt die Morde von Hanau deutlich gemacht. Kampagnen wie | |
die gegen Yasemin Shooman tragen nur dazu bei, die diversen Formen | |
extremistischer Gewalt und Rassismus gegeneinander auszuspielen – ohne die | |
Verflechtungen dazwischen in den Blick zu nehmen. | |
Gerade jetzt, wo im Zuge des wiederaufgeflammten Israel-Palästina-Konflikts | |
die Grenze zwischen Antisemitismus und Kritik an der israelischen Regierung | |
in den Protesten vielfach verwischt und überschritten wird, spitzen sich | |
die Attacken auf Kritiker*innen eines antimuslimischen Rassismus weiter | |
zu. So zeigt der jüngste Fall der [8][Journalistin Nemi El-Hassan], dass es | |
immer schwieriger wird, sich in dieser politisch verminten Zone zu bewegen, | |
ohne damit die eigene Karriere in der deutschen Medienlandschaft aufs Spiel | |
zu setzen. | |
El-Hassan wurde vorgeworfen, 2014 durch ihre Teilnahme an einem | |
Al-Kuds-Marsch die antizionistischen Positionen dieses Protests unterstützt | |
zu haben. Davon hat sich die Journalistin längst selbstkritisch | |
distanziert. Dennoch soll sie laut WDR-Intendant Tom Buhrow die Sendung | |
„Quarks“ nicht, wie zugesagt, moderieren – allenfalls könne sie als Auto… | |
hinter den Kulissen beschäftigt werden. | |
Dabei gehe es nun gar nicht mehr um den ursprünglichen Vorwurf der | |
Demoteilnahme, sondern nur noch um problematische Likes aus jüngster Zeit, | |
so Buhrows vage Begründung für die Suspendierung El-Hassans. Die | |
Journalistin wurde durch eine Kampagne der Bild-Zeitung in Verruf gebracht, | |
die auf Recherchen eines AfD-nahen Youtubers zurückgehen. Es ist längst | |
gängige Praxis, Interventionen aus dem rechten Milieu gegen unliebsame | |
Kritiker*innen bereitwillig auch im liberalen Mainstream aufzugreifen | |
und sie in einer Art vorauseilendem Gehorsam zu exekutieren. | |
Eine auf Vielfalt, Ausgewogenheit und auf Vermittlung ausgerichtete mediale | |
Praxis sieht anders aus. Angesichts einer immer weiter zementierten | |
Polarisierung der Positionen auch in unserer Gesellschaft braucht es keine | |
weitere Verschärfung von Feindbildern. Damit entfernen wir uns nur noch | |
weiter von einem notwendigen Verständnis der hochkomplexen | |
postnationalsozialistischen und postkolonialen Realitäten, die heute den | |
Alltag in Deutschland und Europa bestimmen. | |
Kritische Stimmen wie Aimé Césaire oder Hannah Arendt haben sich schon früh | |
dafür eingesetzt, die von Deutschland und Europa ausgehenden | |
Gewaltgeschichten in ihrer Interdependenz, in ihrer gegenseitigen | |
Ermöglichung zu betrachten und von diesen Verstrickungen für eine andere | |
Zukunft zu lernen. So gilt es, die vielschichtigen Relationen zwischen der | |
Massenvernichtung des NS-Regimes und der Gewalt des Kolonialismus sowie | |
deren Nachwirkungen auf die heutigen Gesellschaften und ihre Krisen und | |
Kriege stärker in den Blick zu nehmen. | |
Wer sich dem anschließt, etwa im Sinne des Konzepts einer | |
„multi-direktionalen Erinnerung“, wie sie der US-amerikanische | |
Literaturwissenschaftler [9][Michael Rothberg] vertritt, gerät schnell ins | |
Visier einer vehement auf die Unvergleichbarkeit genozidaler | |
Gewalterfahrungen setzenden Diskussion. Diese Position, die langfristige | |
Verflechtungen und Nachwirkungen von Antisemitismus, Antiziganismus, | |
antimuslimischem Rassismus und Kolonialismus nicht anerkennen will, ist den | |
heutigen Verhältnissen jedoch kaum angemessen. | |
Das gilt ganz besonders für ein durch Migrationen geprägtes Europa, in dem | |
sich die Nachfahren dieser ungleich geteilten Geschichten heute Tür an Tür | |
begegnen. Die zunehmende Gewaltbereitschaft auf allen Seiten ist auch ein | |
Produkt der Ignoranz, mit der wir dieser postkolonialen Textur unseres | |
heutigen Zusammenlebens noch immer begegnen. | |
## Selbstkritische Souveränität statt imperialer Nostalgie | |
Um die Spirale der von allen Seiten gegen diverse Andere gerichteten | |
Aggressivität zu durchbrechen, sind auch die weißen Europäer*innen | |
heute gefordert, sich neu in einer postkolonialen, multipolaren Welt zu | |
orientieren. Das ist keine Frage des guten Willens, sondern eine | |
Notwendigkeit: wir haben keine andere Welt als diese. Die neuen Realitäten | |
sind nicht zuletzt den kolonialen Vorgeschichten der modernen Ausbeutung | |
globaler Naturen und Gesellschaften, vor allem außerhalb der westlichen | |
Welt, geschuldet. | |
Es geht also auch darum, dafür Verantwortung zu übernehmen und sich | |
anderen, kritischen Positionen zu öffnen – und zwar durchaus auch im | |
eigenen Interesse, das letztlich nur auf ein gemeinsames (Über-)Leben | |
gerichtet sein kann. Auf dem Weg dahin ist dann allerdings Verzicht | |
gefordert: auf scheinbar selbstverständliche Deutungshoheiten zugunsten | |
eines offenen Dialogs, der selbstkritisch sein muss. | |
Wie schwer das fällt, sehen wir nicht nur an den erhitzten | |
Raubkunstdebatten und den anhaltenden Schwierigkeiten mit der Rückgabe | |
menschlicher Überreste, die von der Gewalt kolonialer Genozide und einer | |
„rassekundlich“ forschenden NS-Wissenschaft zeugen. Auch [10][Straßennamen, | |
die an koloniale Gewalttäter erinnern] oder rassistische Bezeichnungen für | |
Schwarze Menschen tragen, scheinen vielen immer noch eine Verteidigung | |
wert. | |
Die Vehemenz, mit der hier auf angestammte Rechte gepocht und eine | |
Mitsprache anderer Beteiligter zurückgewiesen wird, wirkt angesichts der | |
globalen Tragweite postkolonialer Herausforderungen kleinlich und borniert. | |
Sich heute noch auf solche Privilegien zu berufen, sie zu verteidigen im | |
Namen einer wissenschaftlichen und demokratischen Freiheit der Wenigen auf | |
Kosten der Freiheit der Vielen, ist weder angemessen noch | |
erfolgversprechend. | |
Vor allem zeugt es nicht von einem souveränen Umgang mit diesen | |
Herausforderungen. Vielmehr artikuliert sich darin eine imperiale | |
Nostalgie, die das Infragestellen einstiger Macht als Kränkung erfährt und | |
dagegen alle Mittel dieser verlorenen Macht in Stellung bringt. | |
9 Oct 2021 | |
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## AUTOREN | |
Regina Römhild | |
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