# taz.de -- Urteil zum Vergessenwerden im Internet: Chance auf einen Neuanfang | |
> Auch Straftäter können grundsätzlich das „Recht auf Vergessenwerden“ im | |
> Netz beanspruchen. Offen ist noch, was konkret von Medien verlangt wird. | |
Bild: Festplatte kaputt, Daten weg? So einfach ist das nicht immer | |
KARLSRUHE taz | Verurteilte Straftäter können nach „Zeitablauf“ eine | |
Korrektur von Pressearchiven verlangen. Ihr Name muss dann zum Beispiel | |
geschwärzt werden, um ihre Resozialisierung nicht zu gefährden. Dies | |
[1][entschied jetzt das Bundesverfassungsgericht] und korrigierte damit den | |
[2][Bundesgerichtshof (BGH), der einen solchen Korrekturanspruch bisher | |
ablehnte]. | |
Konkret ging es um einen heute rund 80-Jährigen Mann, der 1981 auf der | |
Segelyacht „Appolonia“ in der Südsee zwei Menschen getötet hat. Der Mann | |
wurde ein Jahr später vom Landgericht Bremen zu lebenslanger | |
Freiheitsstrafe verurteilt. Der Spiegel berichtete damals über den | |
Mordprozess, die Berichte sind [3][im Online-Archiv des Spiegels heute noch | |
abrufbar]. Wer den Namen des alten Mannes googelt, [4][stößt zuerst auf die | |
alten Berichte über die Gerichtsverhandlung]. Das wollte der Ex-Segler, der | |
nach 16-jähriger Haft 1997 entlassen wurde, verhindern. | |
Doch der BGH lehnte 2012 eine Korrektur des Spiegel-Archivs ab. Es gebe ein | |
„anerkennenswertes Interesse der Öffentlichkeit“, zeitgeschichtliche | |
Ereignisse auch anhand der unveränderten Medienberichte recherchieren zu | |
können. Wenn alle „identifizierenden Darstellungen“ in Online-Archiven | |
gelöscht werden müssten, dann werde „Geschichte getilgt“ und ein Straftä… | |
„vollständig immunisiert“, argumentierte der BGH. | |
Dagegen legte der verurteilte Mörder Verfassungsbeschwerde ein – mit | |
Erfolg. Sein Persönlichkeitsrecht habe hier Vorrang vor der Pressefreiheit, | |
entschieden jetzt die Verfassungsrichter. Es bestehe eine hohe | |
Wahrscheinlichkeit, „dass Freunde, Nachbarn und insbesondere auch neue | |
Bekannte aus einem oberflächlichen Informationsinteresse heraus den Namen | |
des Beschwerdeführers im Suchfeld einer Suchmaschine eingeben“. | |
Wenn gleich die frühere Straftat auftaucht, werde die „Wahrnehmung in | |
seinem sozialen Umfeld nachhaltig hierdurch geprägt“. Es bestehe sogar die | |
Gefahr, dass der Mann aus Angst, wieder mit seiner Vergangenheit | |
konfrontiert zu werden, neue Bekanntschaften meidet. So werde die „Chance | |
eines Neuanfangs“ nach der Haftentlassung nachhaltig behindert. | |
## Nur nach ausdrücklicher Aufforderung | |
„Die Möglichkeit des Vergessens gehört zur Zeitlichkeit der Freiheit“, | |
schreiben die Verfassungsrichter poetisch. Die Richter erkennen damit ein | |
grundsätzliches „Recht auf Vergessenwerden“ an. | |
Allerdings müssen Medien nun nicht von sich aus ständig ihre Online-Archive | |
prüfen, sondern nur nach ausdrücklicher Aufforderung durch Betroffene. Nach | |
wie vielen Jahren ein Anspruch auf Korrektur besteht, hängt ganz von den | |
Umständen des Einzelfalls ab. Ein Straftäter, der ein Buch über sein Leben | |
schreibt, kann nicht gleichzeitig die Korrektur von Pressearchiven | |
verlangen. Auch bei Taten im politischen Kontext, etwa den RAF-Morden, wird | |
vermutlich anderes gelten als bei gewöhnlicher Kriminalität. | |
Das Urteil könnte auch Menschen zugute kommen, die in Skandale verwickelt | |
waren. „Die Rechtsordnung muss davor schützen, dass sich eine Person | |
frühere Positionen, Äußerungen und Handlungen unbegrenzt vor der | |
Öffentlichkeit vorhalten lassen muss“, heißt es in dem Karlsruher | |
Beschluss. Zunächst müssen die Medien eine Abwägung vornehmen, im | |
Streitfall die Gerichte. | |
## Noch offen, was von Medien verlangt wird | |
Offen ist noch, was konkret von Medien verlangt wird. Gegenüber einer | |
Schwärzung von Namen könne es auch mildere Mittel geben, „die zumindest | |
gegen die Auffindbarkeit der Berichte durch Suchmaschinen bei | |
namensbezogenen Suchabfragen einen gewissen Schutz bieten“. | |
In einem zweiten Beschluss bestätigte das Verfassungsgericht ein Urteil des | |
Oberlandesgerichts Celle von 2016. Dort ging es um die Suchmaschine Google. | |
Eine Unternehmerin wollte verhindern, dass Google bei der Suche nach ihrem | |
Namen einen Beitrag des NDR-Politmagazins „Panorama“ mit dem Titel | |
„Kündigung: die fiesen Tricks der Arbeitgeber“ verlinkt. | |
In dieser Sendung hatte sie 2010 gerechtfertigt, dass ein Beschäftigter, | |
der mit seinem Kind zwei Stunden zum Arzt wollte, dafür eine Woche Urlaub | |
nehmen muss. Das OLG durfte damals dem Informationsinteresse der | |
Öffentlichkeit und der Pressefreiheit des NDR Vorrang geben vor dem | |
Persönlichkeitsrecht der Unternehmerin, entschieden jetzt die | |
Verfassungsrichter. Der Panorama-Link musste nicht aus der | |
Google-Trefferliste entfernt werden. | |
27 Nov 2019 | |
## LINKS | |
[1] /Urteil-des-Verfassungsgerichts/!5644805 | |
[2] /Kommentar-Recht-auf-Vergessenwerden/!5513961 | |
[3] https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-14355425.html | |
[4] /Recht-auf-Vergessen/!5367144 | |
## AUTOREN | |
Christian Rath | |
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