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# taz.de -- Bericht über Jugendverfehlung zulässig: Pressefreiheit überwiegt
> Ein Unternehmer wollte verhindern, dass ein Magazin über seinen
> Uni-Täuschungsversuch berichtet – zu Unrecht, entschied das
> Verfassungsgericht.
Bild: Ulrich Marseille, hier gemeinsam mit Ronald Schill 2002, hat schon immer …
Karlsruhe taz | Medien dürfen grundsätzlich auch über Jugendverfehlungen
von Prominenten berichten. Auch nach Jahrzehnten gibt es kein schematisches
[1][“Recht auf Vergessenwerden“]. Das entschied jetzt das
Bundesverfassungsgericht im Fall des Unternehmers Ulrich Marseille.
Das Manager-Magazin hatte 2011 ein ausführliches und wenig vorteilhaftes
Portrait Marseilles gebracht. Dieser war damals Mehrheitsaktionär und
Vorstandsvorsitzender der bundesweit tätigen Marseille-Kliniken AG. In dem
Portrait wurde erwähnt, dass Marseille 1984 im juristischen Staatsexamen
bei einem Täuschungsversuch ertappt wurde und deshalb das Studium ohne
Abschluss beenden musste. Er hatte im Hamburger Abendblatt per
Chiffre-Anzeige einen Ghostwriter gesucht, der ihm „bei guter Bezahlung“
die Examensarbeit schreibt. Das sah ein Mitarbeiter des Prüfungsamts und
meldete sich. So flog der Schwindel auf.
Auf Klage von Marseille untersagte das Oberlandesgericht Hamburg dem
Manager-Magazin, den lange zurückliegenden Vorfall weiter zu erwähnen. Das
„Ausgraben“ der alten Geschichte setze den Unternehmer der Missbilligung
und Häme aus. Marseille werde wegen eines einmaligen Fehlverhaltens
dauerhaft an den Pranger gestellt und als Mensch porträtiert, der bereit
sei, unredliche und betrügerische Mittel einzusetzen.
Gegen dieses Berichterstattungs-Verbot erhob das Manager-Magazin
Verfassungsbeschwerde. Mit Erfolg: Eine mit drei Richtern besetzte Kammer
des Bundesverfassungsgerichts gab der Klage nun statt. Der Unternehmer
müsse im Rahmen eines kritischen Portraits auch die Erwähnung seines lange
zurückliegenden Täuschungsversuchs dulden. Die Möglichkeit der Presse, über
unliebsame Details aus der Vergangenheit zu berichten, erlösche nicht
schematisch durch bloßen Zeitablauf.
## Anleger haben berechtigtes Interesse an „Verlässlichkeit“
Es gebe zwar eine „Chance auf Vergessenwerden“, so die Verfassungsrichter,
bei einer Abwägung im Fall Marseille überwiege aber das Recht der Presse,
wahrheitsgemäß zu berichten. Schließlich sei Marseille stets öffentlich
tätig gewesen und habe auch die Öffentlichkeit gesucht. So habe das
Unternehmen „Marseille-Kliniken AG“ seinen Namen getragen (heute:
MK-Kliniken AG).
Die Anleger hätten ein berechtigtes Interesse an der „Verlässlichkeit“ des
Vorstandsvorsitzenden. 2003 habe sich Marseille als Spitzenkandidat der
rechtspopulistischen Schill-Partei in Sachsen-Anhalt auch politisch
exponiert. Und schließlich habe Marseille in seinem öffentlichen Lebenslauf
selbst auf sein Jura-Studium hingewiesen.
Die Erwähnung des Täuschungsversuchs von 1984 sei auch noch aktuell
gewesen, so die Richter, da Marseille in der Zeit vor dem Manager
Magazin-Bericht zwei mal strafrechtlich verurteilt wurde, unter anderem
wegen Bestechung einer Krankenkassen-Gutachterin.
In zwei Grundsatzentscheidungen hatten sowohl der Europäische Gerichtshof
2014 als auch das Bundesverfassungsgericht 2019 ein grundsätzliches „Recht
auf Vergessenwerden“ anerkannt, das aber immer mit der Pressefreiheit
abgewogen werden müsse.
Az.: 1 BvR 1240/14
Hinweis der Redaktion: Der taz wurde von dem selben Landgericht Hamburg
ebenfalls untersagt, über den Betrugsversuch von Ullrich bei der
juristischen Prüfung und das Verfahren wegen Nötigung und Falschaussage
gegen Ulrich MArseille zu berichten. Die taz hat das Verbot seinerzeit
bestandskräftig werden lassen und ist daher daran im konkreten
Berichtszusammenhang des seinerzeitigen Berichts jetzt gebunden. Die taz
wird zukünftig im Falle weiterer Berichte jeweils den vom
Bundesverfassungsgericht geforderten Abwägungsprozeß neu anstellen.
9 Jul 2020
## LINKS
[1] /Urteil-zum-Vergessenwerden-im-Internet/!5641030
## AUTOREN
Christian Rath
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Schwerpunkt Pressefreiheit
Vergessenwerden
Bundesverfassungsgericht
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Bundesverfassungsgericht
Recht auf Vergessen
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