# taz.de -- Uraufführung von „Ellbogen“: Flucht nach Istanbul | |
> Das Schauspielhaus Düsseldorf startet mit einer Theaterfassung von Fatma | |
> Aydemirs Romandebüt, einer rasanten Coming-of-Age-Story. | |
Bild: Lou Strenger und Cennet Rüya Voß in „Ellbogen“ | |
Vor sieben Jahren sorgten der Regisseur Nurkan Erpulat und der Dramaturg | |
Jens Hillje mit der Inszenierung „Verrücktes Blut“ für Furore in der | |
Theaterwelt, denn sie stellte prekäre Migranten-Pubertierende auf die Bühne | |
als nervtötende, gewaltbereite Möchtegernmachos. Das Stück wurde vielfach | |
nachgespielt und kassierte Auszeichnungen. | |
Etwas Vergleichbares erhofft man sich wohl in Düsseldorf, wo nun Jahn | |
Gehler – durch die noch erfolgreichere Uraufführung von „Tschick“ abonni… | |
auf Coming-of-Age-Geschichten – die Romanadaption von „Ellbogen“ auf die | |
Bühne bringt. Gespielt wird in der Ersatzspielstätte Central. | |
Das Romandebüt von Fatma Aydemir sorgte im Frühjahr für Aufsehen, denn die | |
Autorin schildert in ihrem aus der Ich-Perspektive erzählten Roman die | |
Geschichte einer gescheiterten Selbstfindung in der engen Welt einer | |
türkischen Mädchen-Gang. Die Hauptfigur und Ich-Erzählerin ist Hazal | |
Akgündüz, eine junge Deutschtürkin, die tagsüber in einer | |
berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahme die Zeit absitzt und aussichtslose | |
Bewerbungen schreibt und danach in der Bäckerei ihres Onkels aushilft. In | |
ihrem lieblosen, traditionellen Elternhaus haben die Mädchen zu gehorchen, | |
und dort wird Erdoğan abgöttisch verehrt. | |
## „Muschis“ und „Opfer“ | |
Hazal hat sich damit eingerichtet: „Ich meine, das Erste, was ich nach dem | |
Sprechen gelernt habe, war das Lügen“, sagt sie. Nachts skypt sie mit | |
Mehmet, einem Deutschtürken, der wegen diverser Delikte abgeschoben wurde | |
und sich nun in Istanbul durchschlägt. Ansonsten hängt sie mit drei | |
Freundinnen ab, mit denen sie kifft und starke Sprüche klopft. Da ist dann | |
die Rede von „Muschis“ und „Opfern“, die Sprache der Girlie-Gang | |
unterscheidet sich nicht im Geringsten von der junger migrantischer Männer. | |
Die Delikte sind zunächst noch harmloser Natur, wie ein Lippenstiftklau. | |
Dann aber will Hazal ihren achtzehnten Geburtstag mit ihren Freundinnen im | |
Berliner Club Berghain feiern, wird an der Tür aber abgewiesen. Auf dem | |
Rückweg eskaliert in der U-Bahn-Station der Frust: Das inzwischen | |
betrunkene Quartett trifft auf einen ebenso betrunkenen Studenten, dessen | |
ungeschickte und provozierende Anmache sie grausam rächen. Sie schlagen ihn | |
nieder und Hazal schubst ihn auf die U-Bahn-Gleise. Am nächsten Tag flieht | |
sie zu ihrem Facebook-Freund Mehmet nach Istanbul. | |
Ihre Tante Semra, eine Sozialarbeiterin, will sie nach Deutschland | |
zurückholen und ermuntert sie, sich den Strafbehörden zu stellen, aber | |
Hazal weigert sich. Dann bricht die große Politik in Hazals Schicksal ein, | |
nun bildet der Putsch gegen Erdoğan das Hintergrundrauschen für ihren | |
langen Schlussmonolog, dessen letzter Satz „Ich öffne die Augen, sehe ein | |
Stück Nacht und lächle mir selbst zu“ auch der Schlusssatz des Romans ist. | |
## Das Prekäre über die Rampe bringen | |
Kühn in der Setzung, dass Gewalt nicht nur männlich ist, ist dieser Stoff. | |
Klug in vielen Beobachtungen, scharfsinnig in den Zuspitzungen und | |
sprachlich stellenweise brillant. Immer dann nämlich, wenn die | |
Macker-Sprache verstummt. Womit wir beim Problem des Romans und des | |
Theaterstücks gleichermaßen wären. Die Darstellung eines prekären, | |
gewaltaffinen Milieus glückt in der Kunstsprache ebenso selten wie auf der | |
Bühne. Es liest sich im Roman ebenso gewollt, wie es auf der Bühne gemacht | |
wirkt. | |
So gelingt es der Inszenierung nicht, dem eruptiven Gewaltausbruch der | |
Mädchen, die sich ansonsten über Lippenstifte und rasierte Beine | |
unterhalten, Glaubwürdigkeit zu verleihen. Das wäre aber dramaturgisch | |
nötig, um die Flucht nach Istanbul und damit die politische Ausweitung des | |
Horizonts glaubwürdig zu machen. | |
Robert Koall hat Aydemirs Roman schnörkellos adaptiert, und ebenso | |
sachdienlich stellt Jahn Gehler das Geschehen auf die karg möblierte Bühne. | |
Ein doppelstöckiger Turm aus riesigen Verstärkern dient als Hintergrund und | |
wird immer wieder erklettert, ein Vorhang aus Glühbirnen kommt später | |
hinzu. Vier Schauspielerinnen übernehmen die Rollen, sprechen manchmal | |
Hazals Text auch chorisch. Cennet Rüya Voß gibt Hazal mädchenhafte, die | |
harschen Texte manchmal Lügen strafende, zarte Töne und macht die Figur | |
dadurch interessanter, als sie angelegt ist. | |
Umso unglaubwürdiger wirkt dann die dramaturgische Keule des Totschlags in | |
der U-Bahn. Lou Strenger, Florence Schüssler und Tabea Bettin sind Voß’ | |
Intensität ebenbürtig und mühen sich redlich, das Prekäre über die Rampe zu | |
bringen. Aber es bleibt, wie so oft bei solchen Versuchen, das taube Gefühl | |
des Gemachten auf der Zunge zurück. | |
17 Sep 2017 | |
## AUTOREN | |
Regine Müller | |
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