| # taz.de -- Unter denen, die das Glück suchen: Europa to go | |
| > Die EU verspricht Wohlstand für alle. Aber kann sie das auch halten? Eine | |
| > Busfahrt von Stuttgart ins kroatische Hinterland. | |
| Bild: Die Autorin kennt die Aus-Frust-wird-Hoffnung-Geschichten aus ihrer Famil… | |
| Die junge Frau auf dem Sitzplatz neben mir sieht aus, als würde sie | |
| nachdenken. Seit drei Stunden sieht sie so aus. Als ich ihr das sage, | |
| antwortet sie, sie denke auf einem Satz herum: „Jeder ist seines eigenen | |
| Glückes Schmied“, das Glück klingt wie Gluck. Sie hat die Beine angezogen, | |
| ihren grauen Wollpulli über die Knie gestülpt und die Arme um sich | |
| geschlungen. Den Satz hat sie von ihrem Chef, sie weiß nicht so richtig, | |
| was er bedeutet. | |
| Es ist 4 Uhr nachts, und unter den Rädern des grünen Doppeldeckers liegt | |
| die A10. Deutschland im Rücken, der östlichste Zipfel von Kroatien noch | |
| mehr als zwölf Stunden entfernt. Gesichter hängen auf Schultern, vereinzelt | |
| brennen Leselampen. Zwei Männer schnarchen im Kanon. | |
| Ich fahre von Stuttgart in Richtung Štitar. Viel S, viel t – das ist auch | |
| das Einzige, was diese beiden Orte gemeinsam haben. Seit 26 Jahren fahre | |
| ich diese Strecke, früher im Kindersitz auf der Rückbank meiner Eltern, | |
| dann im weißen Čazmatrans-Omnibus, heute im Flixbus. Dieses Mal werde ich | |
| nicht in Županja aussteigen, von wo aus es nur noch wenige Kilometer bis | |
| Štitar sind, sondern erst zwei Stationen später, in Vukovar. Endstation, | |
| hinterstes Hinterland, nur die Donau trennt Kroatien hier von Serbien. | |
| Seit 2013 sind meine deutsche und meine kroatische Heimat im gleichen | |
| Verein. Und der heißt: Europäische Union. In Kroatien, dem jüngsten | |
| Mitgliedsland der EU, wächst eine Generation auf, die den Jugoslawienkrieg | |
| nur aus Erzählungen kennt. Junge Menschen, die früh die Möglichkeit | |
| bekommen haben, legal in Deutschland zu arbeiten. | |
| Vor allem im kroatischen Hinterland gibt es kaum Arbeit. Die Menschen | |
| verlassen ihre Dörfer, brechen auf, um in Deutschland, Österreich und | |
| anderen Ländern nach einer Zukunft zu suchen. Früher hießen sie | |
| Gastarbeiter, heute nennt man sie Arbeitsmigranten. Allein 2017 haben | |
| 80.000 Menschen Kroatien verlassen. 10 Prozent aller Kroaten, 400.000 | |
| Menschen, leben in Deutschland, 90.000 in Österreich, 80.000 in der | |
| Schweiz. Die meisten Auswanderer stammen aus Slawonien, einer Region im | |
| Osten Kroatiens, die an Südungarn, Bosnien und Serbien grenzt. | |
| Von dort kommt mein Vater. Und dort wird diese Busreise enden. | |
| Ich kenne die Aus-Frust-wird-Hoffnung-Geschichten aus meiner Familie. Mein | |
| Vater kam 1987 durch den Fußball nach Stuttgart, spielte in einem | |
| deutschgriechischen Verein und arbeitete nebenher schwarz in einem | |
| griechischen Restaurant, das dem Cousin eines Cousins eines Vereinskollegen | |
| gehörte. Danach arbeitete mein Vater als Dachdecker, später bei Daimler. | |
| Seit über 30 Jahren ist er in Deutschland. | |
| Mein kroatischer Cousin ist vor zwei Jahren mit seiner Frau nach | |
| Süddeutschland ausgewandert, die 500 Euro Gehalt von seinem Job im Sägewerk | |
| von Štitar boten keinen Platz für Träume – dabei waren seine Träume | |
| wirklich nicht groß: einen eigenen Tisch und dann Kinder, die ihre Füße | |
| darunterstrecken können. Seine Mutter, meine Tante, pflegt alte Menschen in | |
| Österreich, pendelt im Vierwochentakt zwischen den Welten. Onkel, Tante, | |
| Tante sind weg, samt Familie, nach Slowenien, Bosnien und in die Schweiz. | |
| Nur eine andere Tante hatte Glück, sie arbeitet bei der Stadt Štitar. | |
| Mein kleiner Cousin versteht schon lange nicht mehr, warum ich zu Besuch | |
| komme. „Was willst du hier in diesem Loch?“, fragt er, wenn ich mal wieder | |
| an seine Tür klopfe. | |
| Štitar, das Dorf, in dem meine Familie lebt, wirkt jedes Mal, wenn ich zu | |
| Besuch komme, mehr wie die Kulisse eines schlechten Films. Der nächste | |
| Nachbar weg, die Fenster verrammelt, das Vieh verkauft. Auch viele junge | |
| Menschen, mit denen ich früher Melonen geklaut und Hühner gejagt habe, | |
| wandern aus. Es hat gedauert, bis ich begreifen konnte, dass alles, was ich | |
| an diesem kleinen Dorf so liebe, für die Menschen, die dort leben, nicht | |
| unbedingt cool ist. Wenig asphaltierte Wege, kaum Handyempfang, letztes | |
| Jahr erst ans kommunale Wasser angeschlossen. Keine Industrie, keine | |
| Touristen, keine Arbeit. | |
| In Kroatien überprüft gerade eine ganze Generation – meine Generation – d… | |
| Versprechen der Europäischen Union: In der EU gibt es Arbeit, in der EU | |
| gibt es eine Zukunft. Aber hält die EU diese Versprechen? Liefert sie | |
| Wohlstand, Sicherheit, Solidarität? Und glauben die Passagiere im Flixbus | |
| N952 daran? | |
| ## 0.30 Uhr, Stuttgarter Flughafen | |
| Der Parkplatz, der Busbahnhof genannt werden will, sieht Ende November aus | |
| wie eine Kuchenplatte nach einer Fressattacke. Vereinzelt liegen Leute auf | |
| Bänken und schlafen, ein verwaister Koffer steht vor dem Snackautomaten, | |
| der nur noch Haribo-Lakritz hat. Am Bahnsteig 15 leuchtet in dämmrigem | |
| Grün: N952 Richtung Vukovar. | |
| Seit dem Sommer 2016 startet jeden Abend um 21.10 Uhr ein Doppeldecker der | |
| Firma Flixbus vom Frankfurter Hauptbahnhof über Stuttgart, München und | |
| Ljubljana nach dem kroatischen Hinterland. Wenn man die Haltestellen zählt, | |
| liegt Zagreb genau in der Mitte. Auf der Karte kommt rechts davon nicht | |
| mehr viel. Die Städte werden kleiner und die Abstände zwischen den Häusern | |
| am Straßenrand größer. | |
| Am Bahnsteig 15 steht eine Handvoll Menschen im Kreis. Aus der Entfernung | |
| hört man nur kroatisches Gemurmel und sieht Zigarettenqualm aufsteigen. | |
| Eine junge Frau mit Bommelmütze zerrt ihren prallen Koffer über den | |
| Asphalt. Ihre Nase rot von der Kälte, ihr Gesicht erschöpft. Sie steuert | |
| auf den Kreis zu und stellt sich mit einer Selbstverständlichkeit daneben, | |
| als ginge es jetzt auf Klassenfahrt. Die Fremden rücken auf, machen Platz | |
| für den Neuankömmling. „Arschkalt, hm?“, sagt ein Mann zur Begrüßung auf | |
| Kroatisch, die junge Frau antwortet: „Total.“ Und die Sache ist geritzt. | |
| Eine Zigarette später fährt der Bus ein, Taschen werden in den Kofferraum | |
| gehievt. Der Busfahrer, der aussieht wie jemand, dessen Tochter man lieber | |
| nicht das Herz bricht, begrüßt jeden mit einem kurzen Nicken. „Willkommen | |
| im Flixbus auf der Fahrt nach Vukovar“, knirscht es kurze Zeit später durch | |
| den Lautsprecher. Die deutschen Wörter klingen ein wenig aufgeraut, nur das | |
| Wort Vukovar klingt so, als würde sich der Busfahrer darin zu Hause fühlen. | |
| ## 4.10 Uhr, österreichisches Grenzgebiet | |
| Meine Sitznachbarin, die nicht so genau weiß, was das mit dem Schmied und | |
| dem Glück bedeuten soll, arbeitet seit drei Jahren in der Küche einer | |
| Gaststätte in der Nähe von Stuttgart, 1.150 Kilometer entfernt von ihrer | |
| Heimat Vukovar. Sie ist 25 Jahre alt, ein Jahr jünger als ich. Ihre Mutter | |
| hat fünf Jahre als Pflegerin in Österreich gearbeitet, erzählt sie. Ich | |
| denke an meine Tante und sage: „Harter Job.“ Meine Sitznachbarin nickt und | |
| sagt: „Harter Job.“ Irgendwann konnte die Mutter nicht mehr. Dann war sie | |
| dran. | |
| Sie ist das älteste von vier Kindern, war in der Schule gut in Deutsch, und | |
| die Familie brauchte das Geld. Der Vater kam 1992 aus dem Krieg als ein | |
| anderer zurück. „Er kann nicht mehr arbeiten“, sagt sie. In Deutschland hat | |
| sie zum ersten Mal von etwas gehört, das nach Post und Traum klingt. | |
| Posttraumatische Belastungsstörung. Sie glaubt, dass ihr Vater das hat. | |
| 2015 kam sie, die ausgebildete Krankenschwester, nach Deutschland. Heute, | |
| drei Jahre später, denkt sie, dass sie zurück nach Hause will. Und | |
| gleichzeitig fragt sie sich: „Können meine Eltern alles bezahlen, wenn ich | |
| ihnen kein Geld mehr aus Deutschland schicken kann? Ne znam“ („ich weiß es | |
| nicht“), diese zwei kleinen Wörter klingen erschöpft. Von ihrem Gehalt | |
| schickt sie ihren Eltern jeden Monat 500 Euro. Das ist derselbe Betrag, den | |
| ich jahrelang monatlich als Unterstützung von meinen Eltern bekommen habe. | |
| Ich sage das nicht laut. | |
| Und dieses Sprichwort? Wieso hat ihr Chef das gesagt? Vor zwei Tagen ging | |
| sie in der Mittagspause zu ihm und sagte: „Ich habe Heimweh.“ – „Das | |
| verstehe ich“, sagte er. – „Ich überlege, zurückzugehen, also ganz und … | |
| immer“, sagte sie, die sich fast nicht getraut hätte, überhaupt etwas zu | |
| sagen. Der Chef sagte: „Okay“, und „jeder ist seines eigenen Glückes | |
| Schmied.“ | |
| Sie schaut wieder aus dem Fenster, wo jetzt die österreichischen Berge in | |
| der Dunkelheit vorbeihuschen. Es nieselt. Ich denke: Jeder ist für sein | |
| Glück selbst verantwortlich – das klingt so, als hätte jeder die gleichen | |
| Chancen. Ich schaue meine Sitznachbarin an, und auf einmal kriecht die | |
| Scham in meinen Kopf. Weil ich immer „wir Kroaten“ denke und sage. Ich, mit | |
| meinem Das-Beste-aus-zwei-Welten-Leben. Sie sagt: „Lass uns ein bisschen | |
| schlafen.“ Und ich sage: „Okay.“ | |
| ## 5.05 Uhr, auf der A10 Richtung Slowenien | |
| Noch drei Stunden bis Ljubljana. Seit zehn Minuten ruckle ich so leise wie | |
| möglich an meinem Sitz, nichts ist bequem. Ich bin genervt, aber nicht | |
| davon. Mein Jetzt-Ich findet mein Vor-fünf-Stunden-Ich zum Kotzen, wie es | |
| da in Stuttgart in diesen Bus steigt, sich wie die Botschafterin der | |
| Kroaten fühlt und denkt, mit diesem Text kann man den Deutschen mal zeigen, | |
| wie „wir Kroaten“ die Sache sehen. | |
| Ich fühle mich blöd, weil ich immer wieder in dieses Denken rutsche, obwohl | |
| ich es besser weiß. Und ein bisschen einsam. So wie damals, als ich zum | |
| ersten Mal verstanden habe, dass ich weder ganz deutsch noch ganz | |
| kroatisch bin. | |
| Ich war eines dieser Kinder, deren Nachname nie richtig ausgesprochen | |
| wurde. Ein verhuschtes „Sara Tomsick, spricht man das so?“ war die Regel. | |
| Ich bin ein Arbeiterkind mit Migrationshintergrund. Untere | |
| Mittelschicht. In Deutschland geboren, in einem liebevollen Elternhaus | |
| aufgewachsen, wo immer versucht wurde, alles möglich zu machen. Abitur, | |
| Studium, der Weg in einen Beruf, der mich bereichert. | |
| Zu Europa hatte ich immer schon einen ambivalenten Bezug. Wenn mein | |
| kroatischer Onkel bei einer Zigarette über die EU schimpfte, konnte ich | |
| jedes seiner Worte fühlen. Gleichzeitig saß ich im Politikunterricht der | |
| Schule, völlig entflammt für diese Idee eines geeinten Europas, die da als | |
| Mindmap an der Tafel stand. Vielleicht ist das der Unterschied zwischen | |
| Theorie und Wirklichkeit. | |
| Gleichzeitig fühlt man sich dem Schwächeren immer mehr verbunden. Und in | |
| diesem Europa waren und sind das die Kroaten. Ich wollte eine von ihnen | |
| sein. Ich wollte genauso hart im Nehmen sein. Nur gab es in meinem Leben | |
| nichts, was ich hart hätte nehmen können. | |
| Als Teenager ging ich meinem kroatischen Onkel auf die Nerven, weil ich | |
| ständig seinen Stall ausmisten wollte. Ich machte es schlecht und | |
| verschreckte die Viecher. Aber in meinem Kopf war das Erdung, echtes Leben, | |
| was mit den Händen machen. Meine Familie ließ mich gewähren und erklärte | |
| mir immer wieder sehr geduldig, dass dieses „echte Leben“ im | |
| abgeschnittenen kroatischen Hinterland auch hart und anstrengend und | |
| ätzend sein konnte. | |
| Ich, stolz auf meine Wurzeln, schlappte dreimal im Jahr nach Štitar, atmete | |
| tief ein, weil es nach Kuh und Mutter Natur roch, und konnte nach drei | |
| Wochen wieder gehen. Bevor die Flut kam oder die Dürre oder einfach nur das | |
| Monatsende. Das hat mir niemals jemand vorgehalten, aber irgendwann, als | |
| ich dieses Privileg selber begriff, war das nicht so einfach. Ich | |
| beschloss, ab sofort zu sagen: Ich bin Halbkroatin. Aus Respekt. | |
| Im N952 schaue ich Lkw-Lichtern nach, zähle rote Autos und überlege, was | |
| das Wir-Kroaten-Ding mit dem Wir-Europäer-Ding zu tun hat. | |
| Mit dem EU-Beitritt hat sich einiges verändert, aber einiges blieb auch | |
| gleich. Es gibt jenseits der Touristenhotspots kaum Arbeit. Die | |
| Jugendarbeitslosigkeit in Kroatien liegt bei 23 Prozent und beschert dem | |
| Land direkt nach Griechenland, Spanien und Italien Platz vier im | |
| Europaranking. | |
| Auf Platz 6A sitzt eine junge Frau, die gerade 18 geworden ist und aussieht | |
| wie Nena im gleichen Alter. Woher sie kommt? Sie war in Frankfurt, Freunde | |
| besuchen. Was sie von der EU hält? „Super, ich kann mir das Geld für einen | |
| Reisepass sparen, ist ja auch nicht gerade billig“, sagt sie und lacht. | |
| Auswandern? „Auf keinen Fall.“ | |
| Neben ihr sitzt ein Mann, Anfang 30: „Die EU? Pfff.“ Wieso pfff, will ich | |
| wissen, aber da sitzen seine Kopfhörer auch schon wieder auf den Ohren. | |
| ## 6.50 Uhr, die Sonne geht auf | |
| Irgendwo zwischen Österreich und Slowenien kleben Gesichter an | |
| Fensterscheiben. Die roten Ziffern der Digitaluhr im Bus wirken wie | |
| eingefroren. Eine Frau streckt die Arme an die Decke, ihre schwarz | |
| lackierten Fingernägel krabbeln über das Plastik der Lüftung und machen ein | |
| Geräusch, das in den Zähnen zieht. Sie stöhnt. Ich auch. | |
| Der junge Mann auf Sitz 4C, kantiges Gesicht, rote | |
| Manchester-United-Trainingsjacke, tippelt unruhig mit seinen Beinen auf und | |
| ab. Er sieht aus wie ein Süchtiger, der schon lange nicht mehr hat. Raucher | |
| kennen dieses Tippeln. Er steht auf, hangelt sich durch den schwankenden | |
| Bus zum Fahrer nach vorne. 20 Minuten später stehen acht Männer auf einem | |
| Parkplatz im Kreis und rauchen. | |
| Ein Mann mit grauen Haaren und einer Brille, die ständig von der Nase | |
| rutscht, will wissen, was der mit der Trainingsjacke in Deutschland gemacht | |
| hat. | |
| „Fußball.“ | |
| Ein Vertrag in der Kreisliga, letzte Woche abgelaufen. Der Grauhaarige | |
| nickt wissend. Auch er kam durch den Fußball nach Deutschland, damals. | |
| Der junge Mann in der Trainingsjacke ist 25 Jahre alt und angepisst. Sagt, | |
| dass der Fußball sein Leben ist, seine Eintrittskarte nach Deutschland, in | |
| ein besseres Leben. Sagt, dass er bleiben wollte. | |
| Was in Amerika die Geschichte vom Tellerwäscher ist, ist in Kroatien die | |
| des Fußballers. Auch Niko Kovač, Bayern-Trainer und bekanntester Kroate in | |
| Deutschland, hat das einmal im Interview gesagt. Manchmal geht der Plan | |
| auf, manchmal auch nicht. | |
| Als ich den Fußballer frage, ob er an die Idee von Europa glaubt, zieht er | |
| nur eine Augenbraue hoch: „Hä?“ Ich denke: Ja, stimmt. Hä. Und frage nicht | |
| weiter nach. Dann schiebt er hinterher: „Die EU ist schon nicht schlecht. | |
| Meine Geschwister sind auch ausgewandert.“ Da ist es: das, was die EU | |
| möglich macht. | |
| Seine Schwester und sein Bruder, beide älter als er, sind nach Irland | |
| gegangen. Beide haben studiert, sie BWL, er Tiermedizin. Und nun? „In | |
| Dublin arbeiten beide bei Burger King. Sie sind glücklich da“, sagt der | |
| Fußballer und wischt sich mit dem Ärmel übers Gesicht. Die Farbe des | |
| Manchester-United-Wappens ist schon abgeblättert. | |
| Kurz bevor er aussteigt, wird der grauhaarige Mann mit der Brille mich zu | |
| sich heranwinken und flüstern: „Im Sommer 89 spielten wir um den dritten | |
| Platz in der Kreisliga. In der zweiten Halbzeit machte es Plopp. Kreuzband | |
| gerissen.“ Seine Stimme wird noch leiser: „Seitdem putze ich Klos in einer | |
| Autobahnraststätte. Ich wollte das vorhin nicht erzählen, der Junge soll | |
| noch Hoffnung haben.“ | |
| ## 11 Uhr, slowenisch-kroatische Grenze | |
| Durch das Wageninnere zieht ein Schwall Männerdeo, das Frische vorgaukeln | |
| soll. Auch der Busfahrer ist übermüdet. „Aussteigen, bitte die Papiere | |
| bereithalten!“, schreit er ungeduldig in sein Mikrofon. Erst auf Kroatisch, | |
| dann auf Deutsch, die englische Version kürzt er ab auf ein einziges Wort: | |
| „Passportcontrol!“ Es klingt nach einem russischen Schimpfwort. | |
| Alle stellen sich auf, es werden blau-rote Ausweise aus Taschen geholt. | |
| Mein Pass ist der einzige weinrote. Ich bilde mir ein, dass die Farbe total | |
| dekadent aussieht. Einer der mächtigsten Pässe der Welt. Die Schlange, in | |
| der ich stehe, ist mehrspurig, so, wie es Deutsche gar nicht gerne sehen. | |
| Der slowenische Grenzbeamte nickt und nickt und nickt und wünscht eine gute | |
| Reise. An der kroatischen Grenze das gleiche Spiel. Nicken, nicken und: | |
| „Willkommen zu Hause.“ | |
| ## 11.20 Uhr, es wird laut in der letzten Reihe | |
| So, wie früher beim Klassenausflug die coolen Kids hinten saßen, so sind es | |
| heute die politisch Empörten. Fünf Männer sitzen in Reihe 20, Mitte 40 bis | |
| Mitte 50, alle haben Hände, die harte Arbeit verraten. Sie diskutieren | |
| lautstark, sind alle einer Meinung und aufgebracht. Man hört Wörter wie | |
| Ausbeutung, Drecksarbeit, ausbluten. | |
| Mit ausbluten ist Kroatien gemeint, mit Drecksarbeit die Arbeit, die in | |
| Deutschland keiner machen will und die darum von Kroaten und anderen | |
| Migranten übernommen wird. Und Ausbeutung wirft man dem reichen Deutschland | |
| vor. | |
| Hier im Bus sind solche Sätze möglich. In der Öffentlichkeit will keiner | |
| laut über seinen Arbeitgeber oder die EU schimpfen, man ist schließlich | |
| abhängig. Und will vor allem kein Mitleid. Stolz und Scham schließen sich | |
| eben nicht aus. | |
| Zwei Reihen weiter vorne, auf Platz 18D, dreht sich eine junge Frau um. | |
| Rote Haare, freches Grinsen, Rote-Zora-Style. Sie ist in Frankfurt | |
| eingestiegen, bleiben wird sie bis Zagreb, von dort geht es weiter ans | |
| Meer. Sie war nur zu Besuch bei Freunden, mit der Idee vom Auswandern ist | |
| sie schon lange fertig. | |
| 2015 hat sie es für ein Jahr probiert. Hat in Reutlingen in der Gastronomie | |
| gearbeitet. Sie, die ausgebildete Köchin, spülte Teller. Der Chef sagte | |
| anfangs, sie könnte aufsteigen, nach der Probezeit vielleicht auch kochen. | |
| Sie blieb ein Jahr, kochen durfte sie nicht. | |
| Eines Tages hörten ihre Hände beim Spülen nicht mehr auf zu zittern, ihr | |
| kamen die Tränen. Fragt man sie heute, was genau der Grund für ihre | |
| Rückkehr war, kann sie es nicht sagen. Wie erklärt man Heimweh? „Es hat | |
| einfach wehgetan, so weit von zu Hause entfernt zu sein“, sagt sie. Was sie | |
| in Deutschland hatte, war Arbeit, aber kein Leben. | |
| Die Hälfte ihrer Klassenkameraden von früher sei mittlerweile ausgewandert. | |
| Einige mit der Familie, andere allein. Alle paar Monate kommt sie zu Besuch | |
| in ihr Heimatdorf, in dem immer mehr Häuser leer stehen. Ihre ehemalige | |
| Schule hat Mühe, eine Klasse mit 30 Schülern zusammenzubekommen. Als sie | |
| selbst klein war, gab es sechs Klassen à 30 Schüler. | |
| „Mit ausbluten haben die Männer recht“, sagt sie, „was soll aus Kroatien | |
| werden, wenn jeder geht?“ Sie nickt in Richtung der Empörten aus Reihe 20: | |
| „Das ist Europa.“ | |
| Mittlerweile ist es Nachmittag. Vor dem Fenster haben die Hochhäuser der | |
| Hauptstadt dem kroatischen Flachland Platz gemacht. Weite braune Felder, | |
| vereinzelt unverputzte Häuser. Im Bus gehen Kekse rum, Vollkorn von | |
| Leibniz. Jemand hat kroatische Musik auf dem Handy angemacht. Eine Frau | |
| ruft: „Macht das leiser, ihr Affen!“ Zwei junge Männer stehen auf und | |
| tanzen durch den Flur, die Musik wird lauter anstatt leiser. Eine ältere | |
| Dame in Reihe 10 klatscht in die Hände, neben ihr kruschtelt ein Mann nach | |
| dem letzten Keks. | |
| „Leute, kennt jemand von euch den Polizeipräsidenten?“, ruft der Busfahrer | |
| in sein Mikrofon. „Nein? Dann gilt auch in diesem Bus Anschnallpflicht. | |
| Zurück auf die Plätze.“ Man kann sein Lächeln hören. Leises Murren und | |
| lauter Applaus für die Tänzer, die Show ist vorbei. | |
| ## 16.45 Uhr, Endstation in Vukovar | |
| 16 Stunden und 15 Minuten nach der Abfahrt aus Stuttgart sind wir am Ziel. | |
| Vor fünf Stunden ist die rote Zora ausgestiegen, vor zwei Stunden der | |
| Fußballer. Nur noch meine Sitznachbarin, drei ältere Männer und ich sitzen | |
| im Bus. Der Busbahnhof, ein verrostetes Stahlskelett, ist voll, als wir | |
| ankommen. Alle raus, der Busfahrer stöbert nach den Koffern. „Hat jeder | |
| seine Sachen?“, ruft er. Keiner widerspricht, Kofferraum zu, ein Winken. | |
| Feierabend. | |
| Meine Sitznachbarin und ich rauchen eine letzte Zigarette. „Was heißt | |
| eigentlich dieses Sprichwort auf Kroatisch übersetzt?“, fragt sie. Jeder | |
| Mensch ist seines eigenen Glückes Schmied. Es bedeutet, dass jeder selbst | |
| für sein Glück verantwortlich ist, sage ich. Beide Augenbrauen schnellen in | |
| die Höhe: „Ach.“ Sie lacht ein lautes, ehrliches Lachen. Das stimmt | |
| vielleicht, wenn man in Deutschland geboren ist, findet sie. Dann sagt sie: | |
| „Kocke su bačene.“ Dieses Sprichwort gefällt ihr besser. Übersetzt: Die | |
| Würfel sind längst gefallen. | |
| Mein Vater sagt immer, dass er Glück hatte. Glück, dass Daimler gerade | |
| Leute gesucht hat, Glück, dass er zufällig die passende Ausbildung hatte. | |
| Und sein größtes Glück: meine Mutter. Die beiden lernten sich kennen, als | |
| mein Vater drei Wörter Deutsch sprach: „Eine Cola, bitte.“ Meine Mutter | |
| half ihm über bürokratische Hürden und Sprachbarrieren hinweg. Die Liebe zu | |
| ihr linderte das Heimweh. | |
| Heute sagt er, dass er sich in Deutschland wohlfühlt. Gleichzeitig weiß | |
| ich, dass er vieles aus Štitar vermisst. Das Holzhacken, den Geruch der | |
| Tiere, die Stille des Waldes, seine Geschwister, seine Muttersprache. Das | |
| Wort Heimat findet mein Vater schwierig. | |
| Die deutsche Sara in mir will unbedingt an die Idee von Europa glauben. | |
| Mich gibt es, weil zwei Männer – der Vater meiner Mutter ist Italiener – | |
| ihr Land verlassen haben, um in Deutschland ihr Leben zu finden. Was kann | |
| ich also schon gegen die Idee des Auswanderns sagen? Die kroatische Sara | |
| weiß, dass es ein Glücksspiel ist und dass „Arbeite hart, und alles wird | |
| gut“ nicht immer stimmt. | |
| Am Bussteig 8, nur wenige Meter von uns entfernt, steht auf der | |
| Anzeigetafel: München. Ein junges Paar – er kurz geschorene Haare und | |
| konzentrierter Gesichtsausdruck, sie blonder Pferdeschwanz und Kuscheltier | |
| im Arm – verabschiedet sich von Familie und Freunden. Die Freunde haben | |
| Zettel gemalt, auf denen „Macht’s gut“steht. Der Vater hält seinen Sohn … | |
| Arm und streichelt mit seiner Hand über dessen Hinterkopf. | |
| Der Sohn löst sich behutsam aus der Umarmung, küsst seine Mutter auf die | |
| Stirn, nimmt seine Freundin an die Hand und steigt in den Bus, ohne sich | |
| noch einmal umzudrehen. | |
| 12 Jan 2019 | |
| ## AUTOREN | |
| Sara Tomsic | |
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| von Florin Tirt. |