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# taz.de -- Ungereimtheiten im NSU-Prozess: Es ist was faul im Staate D
> Mehrere Zeugen sterben während der Ermittlungen zum Terror-Netzwerk an
> scheinbar alltäglichen Unfällen. Kann das noch Zufall sein?
Bild: Vorhandlungssaal am OLG München. Irgendetwas läuft schief.
TÜBINGEN/BERLIN taz | Die 20-jährige Melissa M. ist vier Wochen nach ihrer
Aussage im NSU-Untersuchungsausschuss von Baden-Württemberg plötzlich
gestorben. [1][Laut einem Obduktionsbericht erlag sie einer Lungenembolie].
Sie ist nicht die erste Zeugin, die im Laufe der Ermittlungen tot
aufgefunden wurde. Und dies sind nicht die einzigen Ungereimtheiten, die
sich im NSU-Prozess ergeben: Ein Kollege des NSU-Opfers Michèle Kiesewetter
hatte Beziehungen zum Ku-Klux-Klan, ein Verfassungsschützer befand sich
während einer der NSU-Morde am Tatort. Die „Zufälle“ reißen nicht ab.
Zufall 1: Der Aussteiger aus der rechten Szene sagt, er wisse, wer Michèle
Kiesewetter getötet habe. Vor seiner Vernehmung verbrennt er in seinem Auto
Florian H. ist am 16. September 2013 in seinem Auto in Stuttgart-Bad
Cannstatt verbrannt. Am Abend dieses Tages hätte der Aussteiger aus der
rechten Szene zum wiederholten Mal vernommen werden sollen. Er soll sich
selbst mit Benzin übergossen und angezündet haben – zu diesem Ergebnis kam
die Staatsanwaltschaft Stuttgart wenige Tage nach seinem Tod und schloss
die Akte.
Florian H. war in der rechten Szene aktiv und hat schon vor Auffliegen der
Terrorzelle NSU gesagt, er wisse, wer die Polizistin Michèle Kiesewetter in
Heilbronn umgebracht habe. Er habe die rechte Szene verlassen wollen und
sei deswegen massiv bedroht worden, berichtet die Familie.
Trotz der Brisanz des Falls wurde nach Florian H.s Tod vermutlich schlampig
ermittelt. Die Polizei hat einen Laptop und ein Handy, das sie im Autowrack
gefunden hatte, nicht ausgewertet. Das Wrack hatte die Polizei schon kurz
nach der Tat im September 2013 zur Verschrottung freigegeben. Doch die
Familie schritt ein, auch aus emotionalen Gründen, berichtete die
Schwester, Tatjana H., und holte den schwarzen Kleinwagen bei den
Ermittlern ab. Erst vor wenigen Tagen will die Familie in dem Auto weitere
Gegenstände wie den vermissten Autoschlüssel und eine Pistole gefunden
haben.
Ob die Ermittler all das übersehen haben oder ob es erst später ins Auto
gelegt wurde, will der Untersuchungsausschuss herausfinden. Die Ermittler
haben ihre Arbeit im Fall Florian H. Mitte März 2015 wieder aufgenommen –
wegen Erkenntnissen, die der Untersuchungsausschuss zutage gefördert hat.
Zufall 2: Als die Polizistin mutmaßlich vom NSU erschossen wurde, war ein
Polizeibeamter mit Ku-Klux-Klan-Vergangenheit in der Nähe
Am 25. April 2007 werden auf der Heilbronner Theresienwiese die Polizistin
Michèle Kiesewetter mit einem Kopfschuss getötet und ihr Kollege
lebensgefährlich verletzt. Auf der Suche nach den Tätern jagt die Polizei
jahrelang der falschen Spur nach, dem „Phantom von Heilbronn“. Wegen
verunreinigter Wattestäbchen, die für DNA-Proben vom Tatort verwandt
wurden, glauben die Beamten bis 2009 an einen Zusammenhang mit anderen
Morden quer durchs Bundesgebiet - nicht aber an eine Verbindung mit den
anderen NSU-Morden. Bis heute ist dagegen unklar, ob Kiesewetter bloßes
Zufallsopfer war oder gezielt ausgewählt wurde.
Die Beamtin stammte aus dem Ort Oberweißbach in Thüringen, in den auch
Neonazis aus dem NSU-Umfeld Kontakt hatten. Zudem hatte am Tattag in
Heilbronn ein Gruppenführer der Polizei, Timo Heß, Dienst, der zuvor
Mitglied im deutschen Ableger des Ku-Klux-Klan war und austrat, als
erstmals V-Leute über ihn berichteten. Timo Heß kommt kurz nach den
Schüssen am Tatort an und kontrolliert zwei Inder, die er als mögliche
Verdächtige betrachtet - ohne Ergebnis.
Zufall 3: Der V-Mann war sehr nah dran am NSU. Kurz bevor er dazu vernommen
werden soll, stirbt er an einer unentdeckten Diabetes
Am 7. April 2014 wird der frühere V-Mann „Corelli“ alias Thomas Richter
kurz vor einer Vernehmung tot in seiner Paderborner Wohnung aufgefunden.
Die Staatsanwaltschaft stellt als Todesursache eine bis dahin unentdeckte
Diabetes-Krankheit fest. Corelli war 2012 im Zuge der NSU-Ermittlungen
enttarnt worden und hatte anschließend eine neue Identität erhalten.
Bereits 2005 soll Richter dem Verfassungsschutz eine Daten-CD geliefert
haben, auf der sich Dateien mit der Bezeichnung NSU/NSDAP fanden. Der
Verfassungsschutz will aber erst im Herbst 2014, also nach Corellis Tod,
die CD aufgefunden haben.
Auch von weiteren frühen Hinweisen auf die Existenz des NSU hat das
Bundesamt angeblich nichts mitbekommen. Bereits 2002 veröffentlichte das
Nazi-Magazin Der weisse Wolf einen Dank an den NSU für eine Geldspende -
Richter hatte dem Fanzine Serverplatz im Internet zur Verfügung gestellt.
2014 gibt es Streit um die Gutachten zu Richters Tod: NRW-Justizminister
Thomas Kutschaty (SPD) weigert sich, sie dem Bundestag zur Verfügung zu
stellen. Nur Sonderermittler Jerzy Montag (Grüne) bekommt sie.
Zufall 4: Beim NSU-Mord an Halit Yozgat in Kassel saß der
Verfassungsschützer und V-Mann-Führer Andreas Temme im Café
Am 6. April 2006 wird in seinem Internetcafé in Kassel Halit Yozgat als
vorletztes Mordopfer des NSU erschossen. Am Tatort zugegen ist auch der
hessische Verfassungsschützer Andreas Temme - ein früherer Postler, der aus
Angst vor der Privatisierung der Post beim VS angeheuert hatte. Temme,
V-Mann-Führer des Neonazis Benjamin G. (Deckname „Gemüse“), surfte zum
Tatzeitpunkt in einem Datingportal. Von dem Mord will er nichts mitbekommen
haben.
Am Mordtag hatte G. kurz vor 13 Uhr auf Temmes Handy angerufen. Später,
rund 50 Minuten vor den Schüssen, ruft Temme den V-Mann von seiner
Dienststelle zurück. 20 Minuten nach dem Telefonat verlässt Temme seine
Dienststelle - und fährt ins Internetcafé. Belege dafür, dass Temme gezielt
wegen des Mordes in das Café gelotst wurde, gibt es nicht.
Die Aufklärung beförderte der hessische Verfassungsschutz aber auch nicht:
Für seine Zeugenaussage stellte es Temme einen Anwalt. Und bei dem Anruf
eines hessischen VS-Beamten bei Temme fällt der Satz: „Ich sage ja jedem,
wenn er weiß, dass irgendwo so etwas passiert, bitte nicht vorbeifahren.“
30 Mar 2015
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## AUTOREN
Lena Müssigmann
Martin Reeh
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