# taz.de -- Traumatisierte ehemalige Heimkinder: Opfer sollen warten | |
> Vor zehn Jahren wurden die drei Haasenburg-Heime in Brandenburg | |
> geschlossen. Die Entschädigung der betroffenen Kinder verzögert sich | |
> weiterhin. | |
Bild: Seit 2013 sind die Haasenburg-Heime geschlossen | |
BREMEN taz | Kürzlich waren Renzo Martinez und Christina Witt zum Gespräch | |
ins Büro der Bremer Sozialsenatorin Anja Stahmann geladen. Die | |
Grünen-Politikerin entschuldigte sich bei den beiden für das Leid, das sie | |
als Kinder in den Haasenburg-Heimen in Brandenburg erfahren hatten. Damit | |
folgte sie der Forderung [1][eines Antrags] von Linken, SPD und Grünen in | |
[2][der Bremischen Bürgerschaft]: „Erfahrenes Leid anerkennen – Solidarit�… | |
mit den geschädigten früheren Heimkindern“. | |
In diesem Jahr ist es zehn Jahre her, dass die drei Haasenburg-Heime in | |
Brandenburg geschlossen wurden, nachdem [3][eine Untersuchungskommission] | |
ihren Bericht vorgelegt hatte. „Das pädagogische Selbstverständnis in den | |
Heimen der Haasenburg war von überzogenen, schematischen und | |
drangsalierenden Erziehungsmaßnahmen geprägt“, sagte die zuständige | |
Brandenburger Jugendministerin Martina Münch (SPD) und entschuldigte sich | |
bei den Kindern und Jugendlichen dafür, dass sie nicht besser geschützt | |
worden waren. | |
Im Februar 2021 nahm sich der ehemalige [4][Bewohner Jonas L. das Leben]. | |
Seine Mutter sagte, die Haasenburg habe ihn psychisch kaputt gemacht. | |
Seither streiten die Betroffenen um eine Entschädigung, denn viele von | |
ihnen sind aufgrund des Erlebten arbeitsunfähig und leben in Armut. Eine | |
von Christina Witt und einer Mitstreiterin gestartete Petition erlangte | |
über 36.000 Unterstützer. „Wir wurden monatelang in unseren Zimmern | |
eingesperrt, ohne Kontakt zu anderen Jugendlichen. Wir wurden vor | |
Erziehern bloßgestellt“, schrieben sie. „Es gab Prellungen, Brüche und | |
vor allem psychische Verletzungen.“ Doch man habe die Betroffenen mit den | |
Schäden alleingelassen. | |
Brandenburgs gerade zurückgetretene Jugendministerin Britta Ernst (SPD) | |
[5][sprach nicht persönlich mit Witt]. Stattdessen hielt sie es für eine | |
gute Idee, sie an das bestehende „Opferentschädigungsgesetz“ für | |
Gewaltopfer zu verweisen. Nötige Hilfe bei der Antragstellung könnten die | |
Versorgungsämter leisten. Die Kollegen dort seien „geübt“, deshalb seien | |
dort „auch die Betroffenen der Haasenburg sehr gut aufgehoben“, schrieb | |
Ernsts Mitarbeiterin an Christina Witt. | |
## Mit Gurten fixiert | |
Woraufhin Witt und Martinez, die beide [6][in Bremen wohnen], beim dortigen | |
Amt einen solchen Antrag stellten. Martinez beschreibt darin, dass er auch | |
körperliche Gewalt erfuhr, zum Sport gezwungen und mit Gurten fixiert | |
wurde. Er benannte zehn Zeugen und legte Gutachten vor, dass er an einer | |
Belastungsstörung leidet, die auf traumatische Erlebnisse schließen lässt. | |
„Ich bin heute in Behandlung wegen ‚weißer Folter‘ vom Schweregrad eines | |
Kriegsgefangenen“, schreibt er ans Amt. | |
Doch bis heute – da ist Martinez sicher – wurde keiner der Zeugen vom | |
Bremer Versorgungsamt kontaktiert. Denn Witts und Martinez’ Anträge liegen | |
quasi auf Eis. Sie würden bearbeitet, wenn „das noch laufende | |
Gerichtsverfahren zur Schließung der Haasenburg GmbH“ beendet sei, schrieb | |
ihnen das Amt im letzten Oktober. | |
Auch bei besagtem Gespräch am 17. März mit Sozialsenatorin Stahmann war | |
Entschädigung ein Thema. Leider habe sich Bremen auf Länderebene nicht mit | |
der Idee eines Entschädigungsfonds durchsetzen können, erfuhren die beiden. | |
Ein Mitarbeiter sagte ihnen, beim Antrag auf Opferentschädigung sei das | |
Problem, dass man ja eine Form des Nachweises brauche, die gerichtliche | |
Entscheidung, die diesen Nachweis erbringen könne, aber noch bevorstünde. | |
Es geht um ein Verfahren beim Verwaltungsgericht Cottbus, in dem | |
entschieden werden soll, ob das Brandenburger Jugendministerium der | |
Haasenburg GmbH zu Recht die Erlaubnis entzog, diese Heime zu betreiben. | |
Die taz fragt immer mal wieder nach dem Prozesstermin. Jüngste Auskunft vom | |
28. März 2023: „Es ist nicht absehbar, wann die Sache terminiert wird.“ | |
## In der Sackgasse | |
Wurden also die Betroffenen von Britta Ernst in eine Art Sackgasse | |
gelotst? Statt weiter mit politischen Petitionen für ihre Ansprüche zu | |
streiten, sollen sie nun auf den Abschluss eines Verfahrens warten, beim | |
dem sie als Opfer weder eine Stimme, noch eine Rolle oder gar eine | |
Vertretung haben. | |
Dass es auch anders ginge, zeigte bei der Bremer Debatte ein Antrag der | |
CDU-Fraktion. Die forderte, den Bremer Opfern eine Entschädigung aus | |
Landesmitteln zu zahlen, die die Menschen nach den vielen Jahren „schnell | |
und unbürokratisch“ erreicht. | |
Ohnehin erscheint dieses Haasenburg-Verfahren seltsam. Ursprünglich sollte | |
der öffentliche Termin am 23. November 2017 stattfinden, wurde aber kurz | |
vorher abgesagt. Nach Auskunft von Jugendhilferechtsexperten werden solche | |
Verfahren „selten durch eine förmliche Gerichtsentscheidung beendet“. Doch | |
eine außergerichtliche Einigung, wie in solchen Fällen möglich, hat es laut | |
Ernsts Ministerium bis dato nicht gegeben. | |
Liest man die bisherigen Gerichtsbeschlüsse in dieser Sache, scheint es | |
hier so viele Fragezeichen nicht zu geben. Der 30-seitige Bescheid, mit dem | |
das Landesjugendamt Brandenburg im Dezember 2013 die Betriebserlaubnis | |
widerrief, wirkt fundiert und nennt eine Reihe von Gründen. In allen drei | |
Heimen stellten vor allem körperliche Zwangsmaßnahmen, | |
„Antiaggressionsmaßnahmen“ genannt, eine „erhebliche Gefahr für das | |
körperliche, geistige und seelische Wohl der Jugendlichen“ dar. Diese | |
hätten phasenweise bei einigen Jugendlichen als „eine Art Standardprogramm“ | |
stattgefunden. Die Entgegnung der Heimfirma, die Maßnahmen nur selten und | |
so respektvoll und empathisch wie möglich durchgeführt zu haben, überzeugte | |
die Richter am Verwaltungsgericht Cottbus im anschließenden Eilverfahren | |
nicht, da dieser Behauptung „schon die von ihr selbst zitierten | |
Beispielfälle widersprechen“. | |
## Vehement vertreten | |
Das Verwaltungsgericht [7][entschied am 13. Januar 2014], die Klage der | |
Heimfirma gegen die Schließung [8][abzuweisen]. Allein dafür arbeiteten die | |
Richter 24 Bände durch und lieferten eine 14-seitige Begründung. Laut | |
damaligem Jugendhilfegesetz war der Entzug der Betriebserlaubnis nur | |
zulässig, wenn der Träger des Heims „nicht bereit oder nicht in der Lage | |
ist, die Gefährdung abzuwenden“. Das traf nach Einschätzung der Richter zu, | |
da der Träger seine Konzeption nach wie vor vehement vertreten und die | |
erhobenen Vorwürfe „bagatellisiert“ habe. Das anschließend befasste | |
[9][Oberverwaltungsgericht] versuchte einen Vergleich, [10][entschied aber | |
am 15. Mai 2014], dass die Heime dicht bleiben. | |
So lange schon steht nun besagtes „Hauptsacheverfahren“ an. Warum, vermag | |
keiner zu erklären. Just am 27. März 2023, als die taz wieder mal | |
nachfragte, wurde laut dem Sprecher des Gerichts in Cottbus die | |
Zuständigkeit einem anderen Richter übertragen: „Wir hoffen, dass es | |
forciert wird.“ | |
Soll also ein Verfahren, in dem es um das Recht auf Berufsfreiheit geht und | |
darum, ob der Anbieter sich nicht hätte verbessern können, dafür | |
ausschlaggebend sein, dass die jungen Menschen entschädigt werden, die dort | |
leben mussten? | |
Bernd Schneider, der Sprecher der Bremer Sozialsenatorin, sagt dazu, es | |
gehe „generell um die Frage, ob es zu Übergriffen gekommen ist. Wir | |
erwarten nicht, dass es personengenau festgestellt wird. Aber dass | |
festgestellt wird, was da los war.“ Das könne sich zugunsten der | |
Antragstellenden auswirken. | |
Doch egal, welche Erkenntnisse noch von dem Cottbusser Gericht zu erwarten | |
sind: Für die psychische Gewalt, die die Heimkinder erfahren haben, sei das | |
Opferschutzgesetz sowieso nicht zuständig, heißt es in dem Beschluss der | |
Bremischen Bürgerschaft. Es gebe eine „Schutzlücke“ für die Jahre nach | |
1975. Entschädigung für psychische Gewalt sei erst für Fälle nach 2024 | |
vorgesehen. Bremen solle sich deshalb für einen Fonds einsetzen. | |
Man sei in dieser Sache im Gespräch mit anderen Ländern wie Brandenburg, | |
sagt Sozialbehörden-Sprecher Schneider. Diese stünden allerdings auf dem | |
Standpunkt, das Verfahren abzuwarten. Aus Bremer Sicht sei das „auf Dauer | |
angesichts der inzwischen sehr langen Verfahrensdauer äußerst unglücklich“. | |
Sollte absehbar sein, dass es keine Gerichtsentscheidung gibt, werde über | |
die Entschädigungsanträge auf Grundlage vorliegender Erkenntnisse | |
entschieden. | |
Renzo Martinez sagt dazu, er verstehe nicht, warum nicht wenigstens seine | |
Zeugen gehört werden. „Es ist für uns wichtig, mit der Sache | |
abzuschließen.“ | |
22 Apr 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Konsequenzen-aus-den-Heim-Skandalen/!5883786 | |
[2] https://www.bremische-buergerschaft.de/drs_abo/2022-10-11_Drs-20-1622_aa6b7… | |
[3] /fileadmin/static/pdf/2013-11-06_Endbericht-der-Kommission-zur-Haasenburg_D… | |
[4] /Tod-eines-ehemaligen-Heimkindes/!5756902 | |
[5] /Gewalt-gegen-Kinder-in-Haasenburg/!5804644 | |
[6] /Grosse-Anfrage-zu-Haasenburg-Heimen/!5850328 | |
[7] /Geschlossene-Heime-der-Haasenburg/!5050827 | |
[8] https://gerichtsentscheidungen.brandenburg.de/gerichtsentscheidung/2600 | |
[9] https://www.berlin.de/gerichte/oberverwaltungsgericht/presse/pressemitteilu… | |
[10] /Gerichtsentscheidung-zu-Kinderheimen/!5042119 | |
## AUTOREN | |
Kaija Kutter | |
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