# taz.de -- Tod des russischen Oppositionellen: Nelken für Nawalny | |
> An spontanen Gedenkstätten legen Tausende quer durch Russland Blumen für | |
> Alexei Nawalny ab. Die Polizei durchbricht die stille Trauer – teils mit | |
> rabiaten Mitteln. Ein Vorortbericht. | |
Bild: Auch in Sankt Petersburg findet am Denkmal für die Opfer politischer Rep… | |
MOSKAU taz | Sie kommen in der Nacht, sie kommen mit schwarzen Müllsäcken | |
und in dunklen Kapuzen. Sie handeln schnell, geschützt von der Polizei. Sie | |
stopfen die abgelegten Blumen, die aufgestellten Fotos, die Kerzen in ihre | |
Säcke und verschwinden. Sie schänden das, was Hunderte von Menschen – | |
voller Tränen die einen, voller Stille die anderen, voller Wut und | |
Hilflosigkeit und Hass zuweilen – hier abgelegt haben, weil sie trauern: um | |
den in Haft hinterm Polarkreis umgekommenen [1][Alexei Nawalny, den | |
Kremlkritiker schlechthin]. Ihr Idol. Weil der 47-Jährige Politik möglich | |
machte, in einem Land, in dem Politik unmöglich gemacht wurde – und dafür | |
mit dem Leben bezahlt hat. | |
Die Blumen aber sind am nächsten Tag wieder da. Frische Nelken und Rosen, | |
rote, weiße, gelbe, mit schwarzem Band und kurzen Nachrichten. Sie liegen | |
in Moskau und Sankt Petersburg, in Nowosibirsk und Samara, in Tscheljabinsk | |
und Tomsk und Ulan-Ude. Sie liegen da, obwohl die Polizei die Menschen | |
wegscheucht, obwohl sie in ihre Megafone schreit: „Weitergehen!“ Obwohl sie | |
manche Frauen und Männer teils brutal an Armen und Beinen packt und in die | |
am Straßenrand abgestellten Polizeitransporter schleppt. Knapp 300 | |
Festnahmen meldet die Menschenrechtsorganisation OWD-Info am | |
Samstagnachmittag. | |
„Habt keine Angst“, hat jemand mit einem blauen Edding auf ein kariertes | |
Blatt geschrieben und dieses am Solowki-Stein in Moskau neben dem | |
Blumenmeer hinterlassen. Gegenüber thront der ockerbräunliche Klotz der | |
Lubjanka, der mächtigen Zentrale des russischen Geheimdienstes FSB. Früher, | |
als der Dienst noch Tscheka und später KGB hieß, fällten die Henker hier | |
die Urteile, die Millionen von Menschen im Gulag – angefangen von den | |
Solowki-Inseln im Weißen Meer – das Leben nahm, auch wenn sie überlebten. | |
Der Stein erinnert an die Opfer des Stalinismus. | |
Am menschenfressenden, staatlich gezüchteten Monster aus Isolation, | |
Bestrafung und Zerstörung hat sich in Russland bis heute nichts geändert. | |
Auch die Strafkolonie von Charp, in der Nawalny verendete – am „Syndrom des | |
plötzlichen Todes“, wie die Stafvollzugsbeamten Nawalnys Mutter und seinem | |
Anwalt allen Ernstes am Samstag in der Regionalhauptstadt Salechard | |
mitteilten –, entstand zu der Zeit des Gulag. | |
„Ich will ihm wenigstens die letzte Ehre erweisen“, sagt eine ältere Frau | |
mit buntem Schal am Solowki-Stein am Samstagnachmittag. Der Menschenstrom, | |
den die Polizei durch die Unterführung an der Lubjanka leitet und dabei | |
jeden filmt, hört nicht auf. Frauen und Männer – jung, alt, mittelalt – u… | |
selbst ganze Familien stapfen durch den matschigen Schnee, strecken sich, | |
um ihre Blumen auf den Findling abzulegen, versuchen, kurz innezuhalten, | |
manch einer zündet eine Kerze an. Ein Taxi hupt, ein Elektrobus rauscht die | |
Straße entlang. „Junge Frau, nicht stehen bleiben“, brüllt ein Polizist i… | |
Mikrofon. „Machen Sie den Weg frei“, schreit ein anderer und weist ein | |
älteres Paar vom Stein. | |
## „Ein Volksaufstand würde die im Kreml wecken“ | |
Es war Nawalny, der den Menschen zeigte, was ein politisches Subjekt | |
ausmacht. Der sie spüren ließ, was einen Menschen zu einem Bürger macht. Er | |
verlor diesen Kampf gegen einen Staat, der selbst mit seiner Leiche ein | |
Katz-und-Maus-Spiel veranstaltet. Ljudmila Nawalnaja, die Mutter von | |
Nawalny, berichtet russischen Journalist*innen, wie sie von einer | |
Institution zur nächsten geschickt wird. [2][Wo ihr toter Sohn sich | |
befindet, was mit ihm gemacht wird: alles unklar]. | |
„Alexei war einer der wichtigsten Menschen, die mir geholfen haben zu | |
glauben, dass Politik nicht der langweilige, graue, klebrige Scheiß ist, | |
mit dem diese Anzüge im Fernsehen vollgestopft sind, sondern buchstäblich | |
mein Leben“, schreibt eine, die Russland nach dem Überfall auf die Ukraine | |
verlassen hatte, in ihrem Telegram-Kanal. Ein anderer, noch in Moskau, | |
meint: „Ein Volksaufstand würde die im Kreml wecken. 100.000 Menschen | |
müssten es wenigstens sein.“ Doch selbst dabei mitmachen? „Nee, zu | |
gefährlich.“ Die Widerständigen, sie sind zu Hunderttausenden ins Exil | |
gegangen. Immer repressivere Gesetze nehmen den im Land Gebliebenen die | |
Möglichkeiten, auf die Politik einzuwirken. Es gibt kein Ventil, keine | |
Partei, die eine Alternative sein darf. Es gibt keine Opposition. | |
Die parlamentarischen Pseudo-Oppositionellen nicken alles ab, ducken sich, | |
sind Teil des Regimes. Eines Staates, der seine ganze Macht einsetzt, | |
[3][um Kritiker*innen verstummen zu lassen]. Wie weit dieser zu gehen | |
bereit ist, zeigte die politische Verfolgung Nawalnys. Das zeigt auch sein | |
Tod, der nicht einfach ein Tod ist, sondern ein politischer Mord. „Nicht | |
einmal trauern lässt man uns in Ruhe. Schau, in Amsterdam können die | |
Menschen zusammenstehen und zusammen weinen. Und wir? Uns scheucht der Typ | |
da mit seinem Schlagstock weg. Und wir gehen weg, natürlich“, sagt ein | |
älterer Mann am Solowki-Stein zu einer Frau. Zwei jüngere Freundinnen, die | |
nach dem Blumenniederlegen am Museum nebenan stehen bleiben und auf den | |
Findling in der Ferne schauen, meinen: „Widerstand? Ohne Nawalny? Wer soll | |
es machen? Wir haben alle nicht den Mut dafür.“ | |
Ob ihn Julia Nawalnaja hätte oder Darja Nawalnaja, die Ehefrau oder die | |
Tochter Nawalnys? Sie haben seine Ideen, vor allem nach Nawalnys Vergiftung | |
und während seiner Haft in die Welt getragen, haben sich mit allem, was sie | |
konnten, für seine Freilassung eingesetzt. [4][Der Auftritt von Julia | |
Nawalnaja auf der Münchner Sicherheitskonferenz], kurz nach der Mitteilung | |
der russischen Behörden vom Tod ihres Mannes, ist so beklemmend wie | |
beeindruckend zugleich. Sie wird für die Aufklärung seines Todes kämpfen, | |
wie sie stets gekämpft hat. Das politische Erbe Nawalnys werden andere | |
übernehmen müssen. Wenn sie aus der Erstarrung entkommen können. | |
17 Feb 2024 | |
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## AUTOREN | |
Inna Hartwich | |
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