# taz.de -- Russen und der Krieg in der Ukraine: Wodka und Tränen | |
> Die im Krieg in der Ukraine gestorbenen Soldaten verklärt der Kreml zu | |
> Helden. Viele Menschen in Russland scheinen gefangen in Gleichgültigkeit | |
> und Hass. | |
Bild: Zum Sterben in die Ukraine: zerstörter russischer Panzer in der Region C… | |
NORDRUSSLAND/MOSKAU TAZ Wenn es Nacht wird im Dorf X, holt Andrei* ein | |
Gläschen. Er befüllt es leise aus seiner silbernen Flasche. „Meine | |
Spezialmischung“, nennt er das, Primasprit mit Wasser. Es ist oft Nacht im | |
Dorf X, fünfzig Kilometer südlich davon verläuft der Polarkreis. Im Winter | |
gibt es hier nur ein paar Stunden Schummerlicht am Tag. „Die natürliche | |
Dunkelheit ist einfacher zu ertragen als die Dunkelheit, die sich über | |
unser Land gelegt hat, die dein Inneres zerfrisst, die auch dann da ist, | |
wenn es hell ist über deinem Kopf“, sagt Andrei und nippt am Gläschen. | |
Im Fernsehen laufen Hits der neunziger Jahre, es ist seine bewusste | |
Entscheidung, [1][die immer schriller werdende Staatspropaganda] nicht in | |
seine Küche zu lassen. „Diese Schufte haben in meinem Haus nichts zu | |
suchen“, fährt er selbst Bekannte an, wenn sie „nur kurz Putins Ansprache�… | |
sehen wollen. Er habe Prinzipien, sagt Andrei. | |
Sein richtiger Name und sein Wohnort sind verfremdet, auch das ist eine | |
Folge der immer weiter um sich greifenden Repressionen im Land. Die Angst, | |
sie sitzt tief in jedem Menschen hier, die Vorsicht, die Sorge, irgendeine | |
Linie zu überschreiten, auch wenn niemand von ihnen weiß, wo diese Linie | |
ist, wie sie aussehen könnte. | |
Im „hybriden Totalitarismus“, [2][wie der russische Politikbeobachter | |
Andrei Kolesnikow die russische Staatsform mittlerweile nennt], regiert die | |
allumfassende Willkür. Die Stimmung in Russland? „Wir halten durch“, sagt | |
Andrei. | |
## Putins Untertanen | |
Zwei Jahre dauert der Krieg in der Ukraine an. Tag für Tag Zerstörung, Tod, | |
Leid, weil der russische Präsident Wladimir Putin mit Drohnen, Bombern und | |
Panzern seiner Logik der historischen Gerechtigkeit folgt und von seinem | |
Volk die vollkommene Unterstützung seiner Macht einfordert, die Menschen zu | |
seinen Untertanen macht. Diese, jedes Bürgerdaseins beraubt, unterwerfen | |
sich in Massen den „militärischen Heldentaten“, sie poltern gegen „diese | |
Nazis, die auf unserem Territorium unsere Leute töten“. Sie schauen weg und | |
sagen: „Was ist schon dabei?“ | |
Sie sind so in ihrer Gleichgültigkeit gefangen, [3][dass kein Funken | |
Empathie sie erreicht], scheinbar nichts kann die Millionen | |
Konformist*innen in dieser brüchigen Routine erschüttern. Bis dann der | |
Mann an die Front muss, der Sohn im Zinksarg zurückkommt. Sie weinen, sie | |
klagen, den Krieg aber stellen sie nicht infrage. | |
Sie schlucken die Bitterkeit herunter und schleppen sich ermüdet durch ihr | |
Leben, als wäre nichts geschehen, auch wenn sie wissen, dass etwas | |
Monströses passiert. Manche von ihnen können dieses „Etwas“ nicht in Worte | |
fassen und schieben es weg, als könnten sie sich von der Realität loslösen. | |
Einige spüren das Unrecht, das sich gegen sie richtet, sie tragen weiße | |
Kopftücher, diese Farbe der Unschuld, und [4][bringen Blumen an die | |
Kremlmauer]. „Mein Mann soll zurückkommen von der Front“, fordern sie. Es | |
sollen andere dorthin, die Soldaten, die Freiwilligen, sagen sie dann. Die | |
Systemfrage stellen sie nicht. | |
Es ist schwer, in Russland die Systemfrage zu stellen. [5][Alexei Nawalny] | |
hatte sie gestellt, immer und immer wieder. Er tat es auch, ironisch | |
feixend, noch hinter den Mauern seiner Strafkolonie, in der Dunkelheit | |
hinter dem Polarkreis. Er erlag der staatlichen Folter und mit ihm starb | |
auch die Hoffnung vieler Russ*innen auf Veränderung. Auf eine Zukunft. | |
## Ende der Hoffnungen | |
Sein Tod ist nach dem Überfall der zweite Schlag innerhalb von zwei Jahren, | |
ein neues „Es darf nicht sein, und es passiert doch vor unseren Augen“, das | |
ihnen jegliche Zuversicht raubt. Sie versuchen, optimistisch zu sein, | |
versuchen, Nawalnys Aufforderung „Gebt niemals auf! Habt keine Angst!“ als | |
Leitlinie für sich selbst in Gang zu setzen. Es gelingt den wenigsten, noch | |
sitzt der Schock zu tief. | |
Ein neues Grauen, während der Horror vom 24. Februar 2022 sich tief | |
eingegraben hat und weiter anhält. Wie auch nicht? Sie spüren ihr | |
Verlorensein, die Übermacht der Hurrapatriot*innen, der Krakeeler*innen, | |
die ihnen ins Gesicht spucken: „Ihr seid die fünfte Kolonne! Vom Westen | |
beeinflusst! Ihr zieht unser Land in den Dreck!“ | |
Andrei verzweifelt an „solch einem Unvermögen, selbst zu denken“, | |
verzweifelt daran, wie unverfroren der Staat seinen Müttern und Vätern die | |
Söhne entreißt und diese Mütter und Väter sich fügen. Geht es denn anders? | |
„Mein Sohn hat sich dafür entschieden, dem Staat zu dienen. Nun muss er ihn | |
verteidigen, dazu habe ich ihn erzogen“, sagt Andreis Bekannte Lena*. | |
## Wieder diensttauglich | |
Minuten später ruft dieser Sohn, vor einigen Wochen verletzt aus der | |
Ukraine heimgekehrt, an und berichtet ihr, die Wehrkommission habe ihn | |
wieder für diensttauglich erklärt. In zwei Wochen müsse er wieder | |
einrücken. Lena dreht sich weg, weint und sagt: „Er tut das für unser | |
Land.“ | |
Andrei hat es aufgegeben, sein Umfeld zu belehren. „Das Regime hat die | |
Menschen in die Armut getrieben, sie kämpfen ums Überleben“, sagt er. „Da | |
ist es einfach, ihnen ein Gefühl für die Einmaligkeit und Großartigkeit der | |
russischen Nation unterzujubeln. Sie lassen sich leicht verführen, geben | |
ihre Menschlichkeit fast schon bereitwillig auf.“ Er hatte sich jahrelang | |
politisch engagiert, für „mein normales Land“, ein Russland, „das sich | |
nicht selbst zerstören soll“, und er hatte auch mit Nawalnys Ideen | |
sympathisiert. | |
Nicht alles an dem Oppositionspolitiker begeisterte ihn, die Kraft des | |
Jüngeren aber, Andrei ist über fünfzig, imponierte ihm, diese Fähigkeit, | |
den eigenen Idealen zu folgen – bis zum Äußersten. Andrei sagt, „solch | |
übermenschlichen Kräfte“ besitze er nicht, und er floh aus der Stadt ins | |
Dorf. Zu nah war ihm der Sicherheitsapparat bei seinen politischen Aktionen | |
gekommen. Er wollte die Freiheit, nicht den Knast. „Natürlich mache ich | |
weiter, aber nicht mehr sichtbar.“ | |
Die zwei Jahre Krieg haben auch in Russland Verheerungen hinterlassen. Tote | |
Soldaten, Tausende Festnahmen Andersdenkender, Verurteilungen wegen | |
„Diskreditierung der russischen Armee“ und „Verbreitung von Fakes“, | |
Umdichtung der Geschichte, Umformung der Gesellschaft, vom Kindergarten an. | |
## Panzer in der Manege | |
„72 Prozent aller Kinder von 5 bis 19 Jahren sollen bis Ende 2024 vom | |
patriotischen Bildungssystem erfasst sein“, forderte die für die | |
Sozialpolitik zuständige Vizeministerpräsidentin Tatjana Golikowa. Das ist | |
seit Jahren im vollen Gange und äußert sich auch darin, dass bei | |
Familienvorstellungen im Zirkus plötzlich ein Panzer in der Manege steht. | |
[6][Lehrer*innen haben kein Problem, den Kindern das Lesen und Schreiben | |
mit Texten beizubringen wie diesem: „Tolik will Soldat sein und alle seine | |
Feinde mit seiner Pistole erschießen. Er ist ein Held.“] | |
„Wer die Luft des Terrors atmet, stirbt, auch wenn er zufällig am Leben | |
bleibt“, hatte Nadeschda Mandelstam in ihren Erinnerungen geschrieben. Die | |
sowjetische Autorin hatte ihren Mann Ossip, der in seinen Gedichten Stalin | |
angegangen war, 1938 im Gulag verloren. | |
Heute weihen Politiker in ihren Städten Stalinbüsten ein, Schüler*innen | |
defilieren vorbei. Sie sehen sich als Teil einer großen Mission und sind | |
Hasser geworden, an deren taubblinder Weltsicht jedes Argument abprallt. | |
Es ist ein erheblicher Teil der Gesellschaft. „Es bleiben Wodka und | |
Tränen“, sagt Andrei an seinem Küchentisch im Dorf X. Seine silberne | |
Flasche steht am Fenster. | |
26 Feb 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Propaganda-Show-in-Russland/!5976361 | |
[2] /Willkuer-in-Russland/!5929033 | |
[3] /Repression-in-Russland/!5913826 | |
[4] /-Nachrichten-im-Ukraine-Krieg-/!5983816 | |
[5] /Umgang-des-Kremls-mit-Nawalnys-Tod/!5990214 | |
[6] /Militarismus-an-russischen-Schulen/!5953204 | |
## AUTOREN | |
Inna Hartwich | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Zwei Jahre Krieg in der Ukraine | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Wladimir Putin | |
Schwerpunkt Zwei Jahre Krieg in der Ukraine | |
Alexei Nawalny | |
Russland | |
Russland | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Sicherheitsexpertin über Ukraine-Krieg: „Kein Interesse an Eskalation“ | |
Die finnische Sicherheitsexpertin Minna Ålander fordert zuverlässige | |
Waffenlieferungen vom Westen. Verhandlungen mit Moskau sieht sie derzeit | |
nicht. | |
Julia Nawalnaja: Für ein freies Russland kämpfen | |
Nach dem Tod ihres Mannes sagt Julia Nawalnaja in einer emotionalen Rede | |
Putin den Kampf an. Sie nimmt damit eine neue politische Rolle ein. | |
Tod des russischen Oppositionellen: Nelken für Nawalny | |
An spontanen Gedenkstätten legen Tausende quer durch Russland Blumen für | |
Alexei Nawalny ab. Die Polizei durchbricht die stille Trauer – teils mit | |
rabiaten Mitteln. Ein Vorortbericht. | |
Militarismus an russischen Schulen: Neues Schulfach Handgranatenwurf | |
Zum neuen Schuljahr führt Russland ein Geschichtsbuch ein, das den Westen | |
verdammt. Auch auf dem Lehrplan: militärische Ausbildung der Schüler*innen. |