# taz.de -- Sicherheitsexpertin über Ukraine-Krieg: „Kein Interesse an Eskal… | |
> Die finnische Sicherheitsexpertin Minna Ålander fordert zuverlässige | |
> Waffenlieferungen vom Westen. Verhandlungen mit Moskau sieht sie derzeit | |
> nicht. | |
Bild: Ein ukrainischer Soldat mit einem Raketenwerfer sowjetischer Bauart im Do… | |
taz: Frau Ålander, zwei Jahre nach Beginn des russischen Angriffskriegs auf | |
die Ukraine ist kein Ende in Sicht. Wie steht es um die ukrainische Armee? | |
Minna Ålander: Nicht besonders gut. Die Ukraine hat schon länger [1][mit | |
Munitionsmangel] zu kämpfen, und das zeigt sich dann auch an der Front. | |
Das Beispiel Awdijiwka in der Ostukraine hat gezeigt, dass die Ukraine | |
einer Dauerbelagerung durch die russische Armee nicht standhalten kann. Was | |
bedeutet das? | |
Awdijiwka zeigt, [2][wie dieser Krieg momentan abläuft.] Es sind harte | |
Kämpfe um wenige Quadratkilometer. Die Front hat sich seit letztem Sommer | |
nicht viel bewegt. Und man sieht auch auf der russischen Seite, wie die | |
Eroberung eines kleinen Dorfes gefeiert wird. Es geht für beide Seiten um | |
Meter und Zentimeter. Im Fall von Awdijiwka musste die Ukraine aufgeben | |
nach einem sehr langen, harten Kampf. Russland ist es besser gelungen, als | |
wir gehofft haben, die eigenen Vorräte aufzustocken. Zudem konnte Russland | |
in den letzten zwei Jahren die Kriegsproduktion stark erweitern und | |
steigern. Trotz der westlichen Sanktionen. Das sind alles schlechte | |
Nachrichten. | |
Wie stark ist die russische Armee wirklich? | |
Die Wahrheit liegt irgendwo in der Mitte. Wir haben am Anfang des Krieges | |
und vor allem vor der Großinvasion die russische Armee überschätzt. In | |
vielen westlichen Ländern dachte man, die Ukraine hätte keine Chance gegen | |
Russland. Deshalb hat man die Ukraine vor der Invasion erst mal nicht | |
unterstützt. Auch nach dem 24. Februar 2022 kam die Unterstützung nur sehr | |
zögerlich. Dann waren viele überrascht, wie schlecht es doch für Russland | |
lief. Die Einschätzung über den Zustand der russischen Armee schwingt von | |
einem Extrem ins andere. | |
Aber: Russland hat einen größeren Pool an möglichen Wehrpflichtigen, wenn | |
eine neue Mobilisierungswelle kommt. Russland hat dank Nordkorea, Iran oder | |
auch teilweise China die Kriegsproduktion steigern können. Die Waffen sind | |
zwar nicht hochtechnologisiert, dennoch effektiv genug. Russland setzt auf | |
Masse, und das funktioniert leider. Im Westen sollten wir Russland nicht | |
unter-, aber auch nicht überschätzen. | |
Was braucht die ukrainische Armee konkret? | |
Munition vor allem. Sie braucht aber auch eine bessere Luftverteidigung und | |
noch mehr Raketen. Damit kommen schnell die politischen Grenzen des Westens | |
ins Spiel. Darf und soll sie auch tiefer im russischen Territorium | |
angreifen? Wenn die Ukraine in diesem Jahr F-16-Kampfjets bekommt, wird | |
dies einen Unterschied machen. Aber auch mehr Landsysteme, nicht nur | |
Kampfpanzer, sondern alles, was dazugehört, würde helfen. Aber am Ende | |
kommt es auf ausreichende Mengen an Munition an. Kein einzelnes | |
Waffensystem wird den Kriegsverlauf entscheiden, aber jedes System ist ein | |
Teil des Ganzen. Die Unterstützung muss vor allem langfristig geplant sein | |
und aufrechterhalten bleiben. Die Logistikketten müssen funktionieren, | |
damit es – wenn es aus politischen Gründen Ausfälle bei den westlichen | |
Partnern gibt, keine Lücken gibt. | |
Was erwarten Sie von den westlichen Verbündeten? | |
Es braucht schnelle Lösungen. Die größten Sorgen bereiten derzeit die USA. | |
Die Unterstützung für die Ukraine ist leider Gegenstand des politischen | |
Geschehens im Wahljahr für einen neuen US-Präsidenten geworden. Welche | |
Entscheidung in den USA getroffen wird, wird zur Schicksalsfrage für | |
Europa. Sind wir in der Lage und vor allem willens, jetzt unseren Beitrag | |
zu erhöhen, damit die Ukraine weiterkämpfen kann? Die Sicherheitsabkommen | |
mit Frankreich, Deutschland und Großbritannien sind ein sehr gutes Zeichen, | |
dass Europa weiterhin am Ball bleibt. | |
Aber diese Abkommen müssen nun mit tatsächlichen Inhalten und Taten gefüllt | |
werden. Die Worte: „Wir stehen der Ukraine bei, solange wie nötig“ – das | |
dürfen keine leeren Worte bleiben. Die Frage bleibt aber: Reichen die | |
Kapazitäten in Europa aus, falls wir tatsächlich im Ernstfall für den | |
Beitrag der USA aufkommen müssen? Das ist im Moment sehr fraglich. | |
In Deutschland wird seit Monaten über die Lieferung von Marschflugkörpern | |
vom Typ Taurus diskutiert. Wäre aus militärstrategischer Perspektive eine | |
solche Waffe überhaupt sinnvoll? | |
Ja, absolut. Raketen aller Art sind wichtig für die Verteidigung der | |
Ukraine. In dieser Diskussion zeigt sich erneut das Problem der beständigen | |
Versorgung. In Europa sind die Vorräte nicht sonderlich groß. Ähnliche | |
Waffen wie die britischen Storm Shadow oder die französischen Scalp kommen | |
bereits zum Einsatz. Käme der Taurus dazu, könnte das Arsenal aufgestockt | |
werden. Es würde für die Ukraine einen deutlichen Unterschied machen, wenn | |
sie militärische Ziele auf russischem Territorium treffen könnte. Im | |
Kanzleramt denkt man offenbar, das geht zu weit und man erhöht damit das | |
Eskalationsrisiko. | |
Leuchtet Ihnen dieses Argument nicht ein? Mit einer Reichweite von bis zu | |
500 Kilometern kann der Taurus Russland treffen. | |
Ob es zu einer neuartigen Eskalation kommen würde, kann keiner sagen. | |
Russland eskaliert täglich mit neuen Angriffen auf die ukrainische | |
Zivilbevölkerung. Kanzler Scholz spricht davon, dass die Ukraine nicht | |
verlieren darf, und Russland darf nicht gewinnen, aber nicht umgekehrt. Und | |
das macht eben einen Unterschied, was für Unterstützung man bereit ist zu | |
gewähren. Kanzler Scholz ist offenbar bereit, die Ukraine dabei zu | |
unterstützen, ihre Städte vor russischen Luftangriffen zu schützen. | |
Aber er zögert, die Ukraine so weitgehend zu unterstützen, dass sie | |
Russland daran hindern könnte, ukrainische Städte anzugreifen. Ich | |
persönlich halte es für sehr unwahrscheinlich, dass es zu einer nuklearen | |
Eskalation kommt. Ich glaube auch, dass Russland kein wirkliches Interesse | |
daran hat. Wahr ist auch, [3][dass der Taurus den Kriegsverlauf nicht | |
entscheiden] oder den Krieg gar beenden wird. Aber es wäre enorm nützlich | |
für die Ukraine, auch dieses System zu haben und ihre Vorräte an Raketen | |
aufstocken zu können. | |
Mit der Schlagkraft der Marschflugkörper könnte die Ukraine auch | |
Versorgungswege auf die Krim kappen. | |
Militärstrategisch wäre das sinnvoll. Es wäre dann möglich, die Brücke zur | |
Krim zu zerstören und militärische Infrastruktur dort zu eliminieren. Die | |
Krim ist für Russland ein wichtiger Punkt, um die Ukraine anzugreifen. Auch | |
hier bleibt die Frage: Ist Deutschland bereit, die Ukraine so weitgehend zu | |
unterstützen, dass Russland tatsächlich an weiteren Angriffen gehindert | |
werden kann? | |
Kanzler Scholz hat kurz nach dem 24. Februar 2022 eine Zeitenwende in | |
Deutschland eingeläutet. Inwiefern hat sich auch die Bedeutung des | |
Militärbündnisses Nato mit dem Krieg verändert? | |
Der Nato-Beitritt Schwedens und Finnlands war und ist ein Momentum. Er | |
stärkt die Rolle der Nato und zeigt, dass das Bündnis die stärkste | |
Abschreckung bietet. Leider laufen wir im Moment Gefahr, dass die USA | |
dieses Momentum verpassen und verpuffen lässt. Schuld daran sind die | |
innenpolitischen Spiele um die Unterstützung der Ukraine und dann natürlich | |
die jüngsten Aussagen von Ex-Präsident Trump über Nato-Partner, die nicht | |
das 2-Prozent-Ziel erfüllen. Die Relevanz der Nato ist ganz klar, aber die | |
Instabilität der USA ist ein großes Problem geworden. | |
Was bedeutet der Nato-Beitritt Finnlands, ihres Heimatlandes, konkret für | |
die Entwicklungen im Ukrainekrieg? | |
Die finnische Beteiligung ändert so ziemlich alles, vor allem in der | |
Ostseeregion. Für die Nato gab es zuvor die große Frage, wie können die | |
baltischen Staaten effektiv im Ernstfall verteidigt werden. Diese Frage | |
klärt sich jetzt mit dem Beitritt Finnlands und Schwedens vor allem für | |
langfristige Planungen. Hinzu kommt: Erstmals seit dem Kalten Krieg | |
bereitet die Nato wieder regionale Verteidigungspläne vor. Es erleichtert | |
diese Planung wesentlich, Finnland und Schweden als Vollmitglieder | |
dabeizuhaben. Finnland hat die Fähigkeiten seiner nationalen | |
Landesverteidigung über die Jahre aufrechterhalten. | |
Das macht die Lage für Russland deutlich komplizierter. Gäbe es einen | |
Angriff auf die baltischen Staaten, müsste Russland [4][die lange Grenze | |
mit Finnland] berücksichtigen, immerhin verläuft diese von der Ostsee bis | |
in die Arktis. Das ist ein enormer Unterschied zu früher. Auch deshalb ist | |
es nicht wahrscheinlich, das Russland demnächst die baltischen Staaten | |
angreift. | |
Stärkung der Nato einerseits. Sehen Sie andererseits auch den Moment für | |
eine echte gemeinsame Verteidigungs- und Sicherheitspolitik in der EU? | |
Die Notwendigkeit ist da – und nun kommt es auf die nächsten Jahre an. Die | |
EU hat die Ukraine direkt militärisch unterstützt, die Nato hat dies | |
absichtlich nicht direkt getan, sondern die Bündnisländer tun dies auf | |
bilateraler Ebene. Auch das Ramstein-Format, ein Forum verschiedenster | |
Staaten, die die Ukraine militärisch unterstützen, ist kein Nato-Format, | |
sondern Bündnisstaaten koordinieren ihre Hilfe. [5][Die EU ist kein | |
Militärbündnis], weshalb sie eine andere Koordinierungsebene für | |
europäische Länder bietet. Eine Arbeitsteilung zwischen der EU und der Nato | |
kann im Eskalationsmanagement gut funktionieren. Wenn es etwas Positives in | |
dieser düsteren Situation gibt, dann ist es die neue aktive Rolle der EU. | |
Aufrüstung kostet und erfordert Sparmaßnahmen. Müssen wir das in Kauf | |
nehmen? | |
Es wird einerseits auf die Haushaltslage in den jeweiligen Ländern | |
ankommen, aber andererseits auch auf ihre Rolle in den neuen | |
Verteidigungsplänen der Nato. Nicht jedes Bündnismitglied muss in alles | |
investieren, und nicht alle können sich jede militärische Fähigkeit | |
leisten. Größere Länder mit stärkerer Wirtschaftsleistung müssen | |
gegebenenfalls in Systeme investieren, die der gesamteuropäischen | |
Verteidigungsplanung zugutekommen. Allerdings ist der wirtschaftliche Druck | |
derzeit überall enorm hoch. Investitionen in Panzer oder Kindergärten? Das | |
werden schwierige Debatten werden in manchen Ländern. | |
In anderen stellt sich die Frage nicht, weil die Bedrohung als dringender | |
wahrgenommen wird. Zum Beispiel in Finnland ist es klar, dass Panzer eine | |
Voraussetzung für das Fortbestehen der Kindergärten sind. Die | |
Verteidigungsausgaben werden steigen, aber mehr als auf die Summe wird es | |
darauf ankommen, wofür das Geld ausgegeben wird – ob die Hälfte des | |
Wehretats etwa aus Rentenzahlungen besteht. Auch hier ist eine gute | |
Gesamtplanung gefragt. | |
Die Kriegslage ist verfahren. Sehen Sie eine Chance für Verhandlungen? | |
Um Verhandlungen sinnvoll führen zu können, muss man erst mal einen Punkt | |
erreichen, an dem Russland sich gezwungen sieht, ehrlich zu verhandeln. | |
Dieser Zeitpunkt ist in weiter Ferne. Russland kann momentan keine | |
unabhängige, in den Westen integrierte Ukraine akzeptieren. Deshalb gibt es | |
hier keine Kompromissmöglichkeiten. Entweder hat jedes Land das souveräne | |
Recht zu entscheiden, ob es der Nato oder der EU beitreten will, oder kein | |
Land hat es. Russland hat den Minsk-Prozess zu seinen Gunsten ausgenutzt, | |
um seine Positionen in der Ostukraine zu festigen und auch eine | |
Großinvasion zu ermöglichen. Auch ältere Abkommen, wie das Budapester | |
Memorandum, das der Ukraine Sicherheitsgarantien geben sollte, hat Russland | |
nicht respektiert. Momentan gibt es deshalb keine Vertrauensbasis, mit | |
Russland zu verhandeln. | |
23 Feb 2024 | |
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## AUTOREN | |
Tanja Tricarico | |
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