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# taz.de -- Studieren in Italien: In Forlì fühlte ich mich frei
> Unsere Autorin mit Behinderung hat ein Jahr in Italien studiert. Dort hat
> sie erfahren, wie schön es ist, nicht angestarrt zu werden.
Bild: Andrea Schöne auf dem Platz vor der Kathedrale in Forlì
Berlin taz | Ich bin kleinwüchsig, also 110 Zentimeter groß. Ich kann
laufen, aber nicht zu lange Strecken, zur Fortbewegung nutze ich ein
speziell für mich angefertigtes Dreirad, und ich habe in Italien studiert.
Noch bevor ich angefangen habe zu studieren stand für mich fest, dass ich
auf jeden Fall ein Auslandssemester machen möchte. Zu diesem Zeitpunkt war
mir bereits bekannt, dass einige deutsche Universitäten Studierenden mit
Behinderung ein Auslandssemester verwehren, weil es zu viel
Verwaltungsarbeit sei.
Umso positiver überrascht war ich von den Reaktionen der Verantwortlichen
an meiner Universität für die Planung von Auslandssemestern und der
Unterstützung meiner Professoren. Auch während meines Auslandsstudiums in
Italien kamen wider aller Befürchtungen keine Zweifel auf, ob ich das mit
meiner Behinderung überhaupt schaffen würde.
## Ohne Barrieren im Hörsaal
Ich habe durch das Erasmus-Programm der EU zwei Semester lang in Forlì,
Norditalien, studiert. Dort wohnte ich in einem Studentenwohnheim mit
Zimmern, die speziell für Rollstuhlfahrer*innen ausgestattet waren. Das
bedeutet, dass sie unter anderem groß genug waren, um genug Raum zum Wenden
zu haben, und die Dusche ebenerdig und mit einem Sitz ausgestattet war.
Da Kleinwüchsige und Rollstuhlfahrer andere Bedürfnisse bei der
Wohnungseinrichtung haben, waren Großteile der Einrichtung immer noch zu
hoch für mich. Dennoch empfand ich es als großen Fortschritt, dass es in
dem Studentenwohnheim überhaupt Zimmer für Studierende mit einer
Behinderung gab. Und dieses Glück, das eigentlich eine
Selbstverständlichkeit sein sollte, zog sich weiter durch, als ich am
ersten Tag das Gebäude meiner Universität betrat.
Zum allerersten Mal in meinem Studentenleben musste ich mir über Barrieren
keine Gedanken machen, einfach, weil es keine gab: Der Eingang zum Gebäude
war ohne Stufe, ein Aufzug führte zu jedem Stockwerk, in dem jeweils eine
Behindertentoilette zu finden war. Selbst in jedem Vorlesungssaal gab es
ausgesparte Plätze für Rollstuhlfahrer*innen und einen Schiebetisch.
## Barrierefreie Cafés
Im öffentlichen Leben in Forlì habe ich jeden Tag Menschen mit Behinderung
gesehen, sowohl mit körperlicher als auch geistiger Behinderung. Und da
Forlì weitestgehend barrierefrei ist, konnten sie sich selbstständig und
ohne Begleitung durch die Stadt bewegen.
Anders als in Deutschland konnte auch ich mich mit meinem Dreirad frei
fortbewegen und fühlte mich nicht wie ein Wesen von einem anderen Stern,
weil mich die Menschen wegen meines Kleinwuchses ständig anstarren oder gar
anfassen, ich war dort einfach ein Mensch – der das Straßenbild mitgeprägt
und dazugehört hat. Ich fühlte mich auf Augenhöhe wahrgenommen und
respektiert.
In Cafés und Restaurants konnte ich mich ebenfalls frei und somit
selbstbewusst bewegen. Die meisten waren barrierefrei zugänglich, eine
Behindertentoilette absoluter Standard. In Deutschland braucht es mitunter
viel Geduld, eine Gaststätte mit Behindertentoilette zu finden. In Italien
konnte ich mich darauf verlassen, dass eine vorhanden ist.
## Ängste abbauen
Kaum war ich nach einem Jahr zurück in der deutschen Wirklichkeit, habe ich
begriffen, wie fortgeschritten die Inklusion in Italien im Gegensatz zu
Deutschland ist. Während der Prozess der Inklusion erst 2009 mit der
UN-Behindertenrechtskonvention angestoßen wurde, die einen gemeinsamen
Schulbesuch von Kindern mit und ohne Behinderung vorschreibt, ist es in
Italien seit den Siebzigern Normalität, dass behinderte Menschen
chancengleich am gesellschaftlichen Leben teilnehmen.
Viele meiner Freunde in Deutschland und auch in Italien behaupten, dass sie
erst durch die Freundschaft mit mir gelernt haben, mit Menschen mit
Behinderung umzugehen und vorher Berührungsängste hatten. Der Schulbesuch
von Kindern mit und ohne Behinderung wäre ein erster Anlaufpunkt, um Ängste
abzubauen.
In Italien habe ich gelernt, dass Inklusion zumindest für
mobilitätseingeschränkte Menschen möglich sein kann und dass es Zeit
braucht, bis diese auch in den Köpfen der Menschen angekommen ist. Solange
Menschen es nicht für nötig halten, dass Behinderte ein Recht auf ein
gleichwertiges Leben haben, kann man noch viele Rampen und Aufzüge bauen.
2 Dec 2016
## AUTOREN
Andrea Schöne
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Bildung
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