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# taz.de -- Streit um das bessere Leben: Essen mit Anspruch
> In Kreuzberg soll ein Aldi raus aus der Markthalle Neun. Eine
> Verdrängungsgeschichte, bei​ der es um mehr als nur einen Discounter
> geht.
Bild: Zwei Einkaufkonzepte, in der Markthalle Neun noch an einem Standort verei…
Berlin taz | Die Tür des Kreuzberger Stadtteilzentrums in der Lausitzer
Straße 8 steht offen an diesem Sonntagmittag. Drinnen drängeln sich mehrere
Menschen an der Tür zum Hinterzimmer, eine Frau steht auf einem Stuhl, um
besser sehen zu können. Rund 60 Menschen haben sich in dem Raum versammelt,
dessen Wände mit in Schwarz-Weiß ausgedruckten Aushängen bedeckt sind:
„Kiez-Markthalle statt Luxus Food-Halle“ steht in Großbuchstaben darauf,
oder „Aldi bleibt“.
Vorne spricht ein Mann, der sich als „Andreas aus der Muskauer“ vorstellt.
Er trägt einen schwarzen Kapuzenpullover, sein Mitstreiter neben ihm Hemd
unter dem Pullover mit V-Ausschnitt. „Ich finde zuallererst mal: Aldi soll
bleiben“, sagt Andreas Wildfang, wie der Mann mit vollem Namen heißt. Die
meisten Anwesenden nicken. Aldi sei für viele Anwohner ein Treffpunkt im
Kiez. Ein Kiez, dessen Charme „gar nicht so ein erzwungenes Miteinander,
sondern eher ein respektvolles Nebeneinander ist“, findet Wildfang, der in
den achtziger Jahren das Eiszeit-Kino gleich um die Ecke mitgegründet hat,
eine Kreuzberger Institution, die im vergangenen Jahr nach Streitigkeiten
mit dem Vermieter schließen musste.
Ob nun Mit- oder Nebeneinander: Mit beidem gibt es momentan ein Problem
hier im Kiez rund um den Lausitzer Platz in Kreuzberg 36.
Seit die Betreiber der [1][Markthalle Neun] in der Eisenbahnstraße
angekündigt haben, dass der in der Markthalle ansässige Aldi-Supermarkt zum
31. Juli schließen und Anfang 2020 durch eine Filiale der Drogeriekette dm
ersetzt wird, gibt es in der Nachbarschaft lautstarken Protest. Jeden
Sonntag soll es nun eine Anwohnerversammlung zu dem Thema geben, an diesem
Samstag ist eine [2][Kundgebung vor der Markthalle] geplant.
## Für wen ist dieser Ort?
Wer der Versammlung hier im Stadtteilladen zuhört, merkt schnell: Die
Aldi-Schließung ist für viele nur der berühmte Tropfen, der das Fass zum
Überlaufen brachte.
Eigentlich geht es um mehr: Um die Frage, zu was für einem Ort die Ende des
19. Jahrhunderts für die [3][Lebensmittelversorgung] der armen Bevölkerung
gebaute Eisenbahnmarkthalle geworden ist, seit sie 2011 von der Stadt
verkauft wurde und seitdem als Markthalle Neun betrieben wird. Und vor
allem geht es darum, für wen dieser Ort ist und für wen nicht.
Der Konflikt spielt in einem Kiez, der sich in den letzten Jahren stark
verändert hat, aber noch lange nicht „durchgentrifiziert“ ist. Ende 2016,
zum Zeitpunkt der letzten Erhebung durch das Monitoring soziale Stadt,
bezogen fast 30 Prozent der Anwohner im Planungsraum Lausitzer Platz
staatliche Transferleistungen. Deutlich weniger als zehn Jahre zuvor, der
Arbeitslosenanteil etwa hatte sich in diesem Zeitraum fast halbiert. Doch
auch zu diesem Zeitpunkt lag etwa der Anteil der Kinder und Jugendlichen,
die in Hartz-IV-Familien leben, mit mehr als 40 Prozent noch gut zehn
Prozentpunkte über dem Berliner Durchschnitt.
Gar nicht so verwunderlich also, dass der schon seit Langem schwelende
Konflikt um die Markthalle Neun nun mit der angekündigten Aldi-Schließung
an Fahrt aufnimmt. Nachdem der Drogeriemarkt Drospa und der
Textildiscounter Kik aus der Halle auszogen, der Trinker-Treffpunkt in der
Hallenmitte einem Kaffeestand weichen musste und auch der Schreibwarenladen
in der Eisenbahnstraße von der erkrankten Besitzerin aufgegeben wurde,
wirkt die Aldi-Filiale in der Halle wie das letzte Relikt aus einer anderen
Zeit.
Um dieses Relikt wird nun gestritten, und das mit Vehemenz: Seit an
Straßenlaternen Zettel aufgetaucht sind, auf denen in Anlehnung an ein Lied
von Ton Steine Scherben gefordert wird, doch endlich „Bernd und Nikolaus
und Florian“, die drei Markthallenbetreiber also, aus Kreuzberg
rauszuschmeißen, wird dem Protest in einigen Medien attestiert, über das
Ziel hinauszuschießen.
## Eine sympathisch klingende Idee
Auf der Versammlung im Stadtteilzentrum wird an diesem Sonntag allerdings
immer wieder angemahnt, die Situation differenziert zu betrachten. „Es ist
nicht alles Schwarz-Weiß, gut und böse“, sagt eine Frau.
Wie gut oder böse Aldi ist, da ist man sich hier auch schlicht gar nicht
einig: „Ich bin nicht dafür, dass wir uns für einen turbokapitalistischen
Großkonzern einsetzen, für dessen Produkte auf der ganzen Welt Menschen
ausgebeutet werden“, sagt ein hagerer junger Mann. Eine ältere Dame in der
ersten Reihe schüttelt den Kopf, kurz vorher hatte sie erzählt, wie wichtig
ihr der Aldi als Einkaufsmöglichkeit sei. Kurz sieht es so aus, als würde
sie gehen wollen, ihre Handtasche hat sie schon gegriffen, überlegt es sich
dann aber offenbar doch anders.
Was die Versammelten eint, ist das Gefühl, dass da etwas schief gelaufen
ist mit der Entwicklung der Markthalle, dass sie, die Anwohner, von denen
sich viele damals gegen einen Verkauf der Halle an einen Großinvestor und
für die sympathisch klingende Idee der heutigen Betreiber eingesetzt
hatten, irgendwo auf der Strecke geblieben sind. „Wir bieten das
Lokalkolorit für ihre Events, ansonsten sind wir unerwünscht“, sagt ein
älterer Mann, und viele im Raum nicken.
Donnerstagmittag in der Markthalle, wenige Tage nach der Protestversammlung
im Stadtteilzentrum. Es ist Mittagessenszeit, die in der Halle
aufgestellten Bierbankgarnituren sind gut gefüllt, die meisten Portionen
kosten zwischen sieben und zehn Euro. Risotto, Maultaschen, Tapas,
thailändischer Papayasalat und amerikanisches Pulled-Pork-Sandwich: Das
Angebot ist in etwa so international wie die Kundschaft, wobei
international in Berlin natürlich nicht automatisch touristisch heißt. Eine
Befragung der Markthallenkunden aus dem Jahr 2017, die eine Mitarbeiterin
der Markthalle für ihre Bachelorarbeit durchführte, beziffert den Anteil
derjenigen Besucher, die in Berlin wohnen, auf 78 Prozent.
## Die Kosten der Lebensmittel
Im ehemaligen Welt- und heutigen Markthallenrestaurant an der Pücklerstraße
sitzt Florian Niedermeier, grüner Wollpullover und abgewetzte Turnschuhe,
vor einem Teller Eintopf. Niedermeier, einer der drei
Markthallen-Betreiber, nimmt sich viel Zeit für den Termin. Er zeigt das
Konzept, mit dem sich das Team damals um die Markthalle beworben hat, im
ersten Konzeptverfahren der Stadt überhaupt. „Wir verstehen, dass uns der
Aldi jetzt um die Ohren gehauen wird“, sagt Niedermeier, dem seine
Augsburger Herkunft an einem leichten Dialekt anzuhören ist. „Wir behaupten
auch nicht, dass wir bisher alles richtig gemacht haben.“ Er sagt aber
auch: „Wer in Deutschland Geld für Essen ausgibt, gerät sofort unter
Verdacht.“
Man kann sich, auch aus linker Perspektive, trefflich darüber streiten, wie
viel Lebensmittel kosten dürfen oder müssen. Klar ist: 1,49 Euro für ein
ganzes Suppenhuhn vom Discounter ist ein Preis, der ohne Ausbeutung von
Menschen, Tieren und Umwelt nicht zu machen ist. Klar ist aber auch: Den
Familieneinkauf auf dem Wochenmarkt in der Markthalle Neun zu erledigen,
wäre für viele Anwohner finanziell allerhöchstens möglich, wenn es tagein,
tagaus Möhreneintopf geben soll.
Das weiß auch Niedermeier. „Für mich ist die Antwort auf dieses Problem
aber nicht, den Erzeugern und Händlern weniger zu zahlen, sondern die Leute
müssen mehr Geld haben, um sich den wahren Preis von Lebensmitteln leisten
zu können“, sagt er. Erhöhung des Mindestlohns, der Hartz-IV-Sätze, der
Sozialausgaben: Das alles seien Forderungen, die er „hundertprozentig“
unterschreiben würde.
Das hat Niedermeier, der gleich um die Ecke der Markthalle wohnt,
sicherlich mit vielen seiner Nachbarn gemein. Nur: Es sind auch
Forderungen, deren Erfüllung alles andere als vor der Tür steht. Momentan
stehen Hartz-IV-Empfängern für die Ernährung ihrer Kinder bis zum sechsten
Lebensjahr 2,77 am Tag zu. Das macht den Einkauf auch beim Discounter
schwierig. In der Markthalle bekommt man dafür einen Cappuccino.
Auf der Website der Markthalle steht seit einigen Wochen ein Text, in dem
auf einzelne Argumente der Kritiker eingegangen wird. „Wer sich auskennt
und mit der Saison kocht, kann sogar günstiger einkaufen als im
Supermarkt“, steht dort als Antwort auf die Kritik an der Preisgestaltung.
Ein Tonfall, der von vielen auf der Anwohnerversammlung als belehrend und
überheblich empfunden wird.
Klar ist nämlich auch: Es geht bei dem Streit um die Markthalle nicht nur
darum, was Lebensmittel kosten dürfen und wer sich was leisten kann. Es
geht auch darum, wer in der Markthalle willkommen ist und wer sich
ausgeschlossen fühlt, in der eigenen Nachbarschaft.
## Es bleibt nur Ah und Oh
„Wenn Aldi raus ist, dann bin ich in der Markthalle nicht mehr Kundin, dann
bin ich Besucherin“, sagt Eva Schmidt auf der Versammlung im
Stadtteilzentrum. Seit 21 Jahren wohnt sie nach eigenen Angaben im Kiez.
„Dann kann ich da stehen und Ah und Oh machen, aber ich bin nicht mehr
gleichberechtigt mit den Leuten, die da einkaufen.“ Später erzählt die Frau
mit dem dunklen Pferdeschwanz davon, wie es sich anfühle, wenn morgens
wieder einmal der Markthallenlieferverkehr die Straße zuparke, oder wenn
sie von Securities durch einen Korridor zum Aldi gelenkt werde, weil der
Rest der Markthalle für ein eintrittspflichtiges Event gesperrt sei.
„Die breiten sich immer mehr aus, die ganze Nachbarschaft wird in
Mitleidenschaft gezogen“, sagt Schmidt. Auch die Initiative Bizim Kiez, die
eine ausführliche und durchaus differenzierte Stellungnahme veröffentlicht
hat, adressiert dieses Problem: Es müsse Schluss gemacht werden damit, „im
Betrieb der Markthalle Profite zu privatisieren, aber die Kosten (Lärm,
Müll, Verkehr, Gentrifizierungsdruck, Verdrängung) der Nachbarschaft
aufzubürden, ohne dass sie Mitspracherechte hätte“, wird dort gefordert.
Immer wieder wird auf der Versammlung außerdem betont, dass doch gerade
Aldi mit seinem Biosortiment die Möglichkeit biete, sich auch mit wenig
Geld gesund zu ernähren. „Wir sind auch bio!“, empört sich ein Mann, und
viele nicken. Es geht hier auch darum, dass man sich nicht abstempeln
lassen will als ignoranter Discounterkunde, der nichts will, als sich mit
billiger Tiefkühlpizza vollzustopfen.
Was die Verträglichkeit der Erzeugung von Lebensmitteln für Mensch und
Umwelt angeht, liegen Welten zwischen dem, was bei Aldi als bio angeboten
wird, und den Produkten, die an den Ständen in der Markthalle verkauft
werden. Ob der ökologische Fußabdruck der Markthallenkunden aber wirklich
kleiner ist als der derjenigen, die bei Aldi einkaufen, ist damit noch
lange nicht gesagt: Fernflüge, Sushi-Mahlzeiten und der ein oder andere SUV
müssten hier schließlich ebenfalls eingepreist werden.
## Eine gemeinsame Sprache finden
Aber auch kleinere Fragen als die nach der ökologischen Gesamtbilanz
spielen in dem Streit eine Rolle. Zum Beispiel die, auf welcher Sprache man
kommuniziert.
In der Markthalle Neun findet viel auf Englisch statt, es gibt den Street
Food Thursday, das Try Foods Tasting und den Breakfast Market. Auch in der
Halle selbst und besonders im von der Markthalle betriebenen Café sprechen
nicht nur viele Gäste, sondern auch einige der Angestellten nur englisch.
Florian Niedermeier sagt, er verstehe, dass sich Leute davon ausgeschlossen
fühlten. Gleichzeitig schätze er an Berlin aber auch die Internationalität,
die er in Augsburg vermisst habe. Und in einer internationalen Stadt sei
Englisch oft auch eine inklusive Lösung. Trotzdem: „Es stimmt schon, dass
wir da noch mal nachdenken sollten, was wir besser machen können, damit
sich hier wirklich auch die Anwohner willkommen fühlen“, sagt er. Sämtliche
Produkte im Café nur auf Englisch anzupreisen, sei vielleicht nicht die
beste Lösung.
Es klingt ehrlich, gleichzeitig ist aber auch klar: Die
Markthallenbetreiber haben schon seit einer ganzen Weile die Gelegenheit,
über diese Fragen nachzudenken und bessere Lösungen zu finden. Denn fast
von Beginn an gab es immer nicht nur Zuspruch aus, sondern auch Konflikte
mit der Anwohnerschaft.
## Der Billigmarkt als Störfaktor
„Markthalle für alle“, das sei damals, als der Verkauf der Markthalle an
einen Großinvestor drohte, die Forderung der Anwohner gewesen, sagt
Niedermeier. „Wir haben schon damals gesagt: Eine Markthalle wie in den
fünfziger Jahren wäre nur möglich, wenn die Menschen auch wieder ihren
kompletten Lebensmitteleinkauf dort erledigen würden – das ist heutzutage
komplett unrealistisch.“
Eine Vermutung, der man mit Blick auf Umfragen zum Einkaufsverhalten der
Deutschen zustimmen muss: 2016 gaben bei einer Umfrage des Instituts für
Demoskopie Allensbach 84 Prozent der Befragten an, ihren
Lebensmitteleinkauf beim Discounter zu erledigen. Nur 17 Prozent teilten
mit, dafür keine Supermärkte, sondern kleine Lebensmittelgeschäfte zu
besuchen.
Alles also nur ein großes Missverständnis, von einer Markthalle für alle
war nie die Rede?
Auch wenn dieser Slogan im Bewerbungskonzept von damals nicht vorkommt,
finden sich dort andere Formulierungen, die zu Recht Erwartungen in der
Anwohnerschaft schüren. „Die enge Einbindung der Nachbarschaft ist ein
zentrales Anliegen des Konzepts“, heißt es dort etwa, oder als ganz
konkrete Vision: „Am Abend treffen sich die Anwohner beim täglichen Einkauf
an der Metzgertheke und verweilen auf ein Glas Bier oder Wein.“ Sollten sie
den Zuschlag bekommen, so das damalige Versprechen der
Markthallenbetreiber, werde die Markthalle ein Ort für Menschen „jeden
Alters, aller sozialer Schichten und Nationalitäten“.
Genau diese soziale Durchmischung ist es, deren vollständiger Verlust durch
die Schließung der Aldi-Filiale nun befürchtet wird. Als „Störfaktor“ ha…
der Billigmarkt der „Homogenisierung des Publikums“ entgegengewirkt,
schreibt die Initiative Bizim Kiez, selbst aus einer Rettungsaktion für
einen kleinen, unabhängigen Lebensmittelhändler entstanden.
Dass die Aldi-Filiale, deren Mietvertrag alle sechs Monate verlängert
werden müsse, eines Tages ausziehen werde, war von Anfang an im Konzept der
Markthallenbetreiber angelegt, eigentlich sogar bereits für einen früheren
Zeitpunkt geplant. Dass der Discounter durch einen Drogeriemarkt ersetzt
wird, davon findet sich allerdings nichts im Konzept – auch dm mit mehr als
3.500 Märkten in 13 Ländern ist schließlich alles andere als der
Tante-Emma-Laden von nebenan.
Auf der Website der Markthalle wird der dm-Einzug auch damit begründet, die
Unternehmensphilosophie der von dem Anthroposophen und Multimillionär Götz
W. Werner gegründeten Kette passe besser zur Markthalle als die von Aldi.
Im Gespräch mit Niedermeier hört sich die Begründung etwas anders an. Viele
in der Nachbarschaft wünschten sich einen Drogeriemarkt, sagt er, vor allem
aber: „Die Hoffnung ist, dass das Angebot von dm, anders als bei Aldi,
nicht in Konkurrenz zu unseren Markthändlern steht, sondern zusätzlich ein
Publikum anzieht, dass dann auch in der Halle einkauft.“
## Eine Markthalle für alle
Denn zur Wahrheit gehört auch, dass die Halle bisher noch nicht so läuft,
wie es ihre Macher im ursprünglichen Konzept erhofften: Ein Fisch- und ein
Gemüsehändler hätten vor Kurzem ihre Stände aufgegeben, weil sich der
Betrieb nicht lohne, sagt Niedermeier. Die dm-Filiale garantiert
Mieteinnahmen, deren Verzicht sich die Markthalle noch nicht leisten kann –
auch deswegen die Abweichung vom ursprünglichen Vorhaben, den Aldi durch
Markthändler zu ersetzen.
Ohne die vergleichsweise hohen Standmieten und zusätzliche Einnahmen durch
eintrittspflichtige Veranstaltungen sei der Betrieb der ehemals defizitären
Halle wirtschaftlich nicht machbar, argumentieren die Betreiber.
Ob private Eigentümer überhaupt das richtige Modell für die Markthalle
seien, wird auf der Anwohnerversammlung diskutiert. „Was ist denn, wenn die
die Markthalle irgendwann verkaufen, und dann wird alles noch viel
schlimmer?“, fragt eine Frau. Dann fliegen Begriffe durch den Raum:
Community Land Trust, Genossenschaftsgründung, Rekommunalisierung.
Prinzipiell wolle man sich keiner Diskussion verschließen, sagt Niedermeier
zu diesen Vorschlägen. Von einer Rekommunalisierung halte er allerdings
wenig angesichts der Stiefmütterlichkeit, mit der das Thema Ernährung von
der Berliner Politik behandelt werde: „Ich habe nicht den Eindruck, dass es
auf städtischer Seite Konzepte für eine Stadtentwicklungspolitik gibt, die
eine nachhaltige, ökologisch und sozial verträgliche Ernährungspolitik
berücksichtigt“, sagt er. Anders als etwa in Barcelona, wo die Stadt ihre
Markthallen als zentralen Bestandteil der Infrastruktur erkannt habe und
entsprechend behandle, stecke das Thema in Berlin noch in den
Kinderschuhen.
Es gibt erste Versuche der rot-rot-grünen Regierung, das zu ändern. So ist
im Koalitionsvertrag festgehalten, „den Anteil an Bioessen in
Kindertagesstätten, Schulen, Kantinen, Mensen und beim Catering in
öffentlichen Einrichtungen bis 2021 deutlich [zu] erhöhen“. Dabei helfen
soll das sogenannte House of Food, ein Konzept aus der dänischen Hauptstadt
Kopenhagen. In diesem Modellprojekt solle Großküchen und Caterern gezeigt
werden, „wie der Anteil an Bioprodukten, saisonalen und Frischzutaten durch
Weiterbildung und Beratung weitgehend kostenneutral erhöht und wie
Lebensmittelverschwendung und -verluste vermindert werden können“, heißt es
im Koalitionsvertrag. Eine Million Euro sind im Doppelhaushalt 2018/2019
für dieses Vorhaben eingestellt, für den nächsten Haushalt will die
Senatsverwaltung für Verbraucherschutz mehrere Millionen für das Projekt
beantragen.
Noch bis Ende März läuft die Bewerbungsphase für den Betrieb des geplanten
Schulungszentrums. Zu den Bewerbern gehört auch die Markthalle Neun: Über
der neuen dm-Filiale, so der Plan, soll eine zweite Ebene eingezogen
werden, die das House of Food beherbergen werde.
## Andere Töne aus der Politik
Bislang gab es für die Markthalle Neun viel Lob aus der Stadtpolitik, was
den Zuschlag für das House of Food wahrscheinlich erscheinen lässt. Die
Übernahme des Großmarkts Beusselstraße in Moabit, um die sich die
expansionswillige Markthalle ebenfalls beworben hatte, scheiterte
allerdings vor einem Jahr an Wirtschaftssenatorin Ramona Pop (Grüne), die
die Markthalle zwar ebenfalls als „sehr erfolgreich“ lobte, vor eine
mögliche Privatisierung der bislang landeseigenen Beusselhallen aber
zunächst einen „Zukunftsdialog Großmarkt“ schalten will.
Angesichts der Anwohnerproteste kommen nun auch aus der Bezirkspolitik
andere Töne: Zur letzten Bezirksverordnetenversammlung (BVV) am Mittwoch
wollte die SPD zunächst sogar einen Antrag einbringen, mit dem das
Bezirksamt dazu verpflichtet worden wäre, sich für den Erhalt der
Aldi-Filiale einzusetzen. Kurz vor der Sitzung am Mittwoch wurde der Text
geändert und um die Formulierung „oder ein vergleichbarer Einzelhändler“
ergänzt – ein Störsignal in Richtung Markthalle ist der Antrag, der von der
BVV angenommen wurde, dennoch. Ebenfalls verabschiedet wurde ein Antrag der
Grünen, die einen runden Tisch zum Thema einrichten wollen. „Die
Markthallenbetreiber müssen die Offenheit mitbringen, wirklich Angebote für
alle zu entwickeln“, sagt Julian Schwarze, Fraktionssprecher der
Kreuzberger Grünen. „Wochenmärkte schaffen das schließlich auch.“
Prinzipiell steckten hinter dem Konflikt zwar größere politische Fragen,
etwa die nach der ungleich verteilten Subventionierung von Lebensmitteln.
Trotzdem glaubt Schwarze, dass die Situation kurzfristig verbessert werden
könnte. „Die Gründung eines Markthallenrats, über den die Anwohner Einfluss
auf die Ausgestaltung nehmen können, wäre ein Schritt in die richtige
Richtung“, sagt er. Aldi zum „Retter der Kiezstruktur“ zu erklären, sei
übertrieben. „Aber es stimmt, dass es Treffpunkte geben muss, an denen ich
mich auch ohne Konsumzwang aufhalten kann.“
Die Markthallenbetreiber selbst hatten bereits für Dienstagabend zu einem
runden Tisch geladen, um den es allerdings ebenfalls Streit gab: Weil die
Anwohnerinitiative zu spät eingeladen worden sei, sagten auch Bizim Kiez
und das Kreuzberger Gewerbetreibendenbündnis Ora Nostra ihre Teilnahme ab.
Statt fand das Treffen trotzdem, das Protokoll liegt der taz vor. Dort wird
unter anderem folgender Satz festgehalten: „Ziel aller Beteiligten: Eine
‚Markthalle für Alle‘ gestalten!“ Die Markthallenbetreiber werden künft…
also nicht mehr darum herum kommen, sich an dieser Parole messen zu lassen.
30 Mar 2019
## LINKS
[1] https://markthalleneun.de/
[2] https://kiezmarkthalle.noblogs.org/
[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Markthallen_in_Berlin
## AUTOREN
Malene Gürgen
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