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# taz.de -- Streit um Bildungspläne in Hamburg: „Unterricht wie vor 100 Jahr…
> Die Vereinigung der Stadtteilschulleiter fordert, die neuen Bildungspläne
> zu stoppen. Die Entwürfe enthielten zu viel vergängliches Faktenwissen.
Bild: Müssen Fakten lernen, die sie in ein paar Jahren ohnehin vergessen haben…
taz: Herr Witting, Hamburg [1][plant Bildungspläne,] die mehr auf
verbindliche Inhalte setzen. Was ist schlecht daran?
Thimo Witting: Die Welt belohnt uns nicht mehr allein für das, was wir
wissen. So steht es im ‚OECD Lernkompass 2030‘. Aber die hier vorgelegten
Bildungspläne folgen einem veralteten Grundsatz aus einer Zeit, als es
darum ging, Wissen in die Köpfe der Schüler zu bringen. Das hilft uns nicht
für die Herausforderungen von morgen: nämlich Probleme zu lösen und sie mit
unseren Emotionen zu verbinden.
Wofür belohnt uns die Welt denn?
Dafür, dass wir unsere zukunftsfähigen ‚21st Century Skills‘ trainieren,
auch vier Ks genannt. Dass wir kompetente, demokratische, soziale Bürger
sind, die kollaborativ arbeiten, die kreativ sind, die miteinander in
Kommunikation stehen.
Aber ist Basiswissen nicht sinnvoll? Zum Beispiel wissen, was der
30-jährige Krieg war?
Geschichte ist ein gutes Beispiel. Es ist wichtig, dass Schülerinnen und
Schüler lernen, was eine Revolution ist, wie sie entsteht und was die
Gründe und Ursachen für Revolutionen in der Welt sind und waren. Sie müssen
das Prinzip einer Revolution verstehen, um daraus Handlungsmuster
abzuleiten. Wir können aber nicht mehr die Zeit damit verbringen,
Jahreszahlen auswendig zu lernen und jede Revolution durchzugehen.
Aber den Überblick über die Jahrhunderte sollten wir schon haben, oder
nicht?
Ja.
Sie sprechen für die Gemeinschaft der Schulleitungen an Stadtteilschulen.
Warum wollen Sie diese Pläne stoppen?
Weil die Bildungspläne einer grundlegenden Überarbeitung bedürfen. Unsere
Kritik ist mit der von vielen anderen Organisationen – etwa der
Elternkammer – fast deckungsgleich. Das vergängliche Faktenwissen darf
nicht mehr in dieser Fülle Bestandteil der Bildungspläne sein. Es raubt
Zeit, die die Schüler benötigen, um sich die notwendigen Kompetenzen
anzueignen.
Was heißt Faktenwissen?
Totes Wissen, was in den Kopf der Schüler transferiert wird, wo aber keine
Anknüpfung in der Art stattfindet, dass die einen Sinn darin entdecken. Wir
müssen sinnvolles Lernen in den Mittelpunkt stellen.
Und solch totes Wissen steckt in den Entwürfen?
Ja. Es war ein Teil des 2019 in Hamburg neu geschlossenen
[2][Schulfriedens], sogenannte ‚Kerncurricula‘ zu schreiben, in dem
Grundwissen aufgeschrieben wird. Nur passiert ist jetzt eine totale
Ausweitung von vergänglichem Faktenwissen. Es hätte das Gegenteil passieren
müssen.
Wie funktionieren denn die gültigen Hamburger Pläne?
Die aktuellen Bildungspläne tragen zwar eine Kompetenzorientierung in sich.
Aber es gibt dennoch seit Jahren Konsens, dass sie entrümpelt werden
müssten. Auch jetzt haben sie eine große Inhalts-Überfrachtung.
Sie sind nicht allein. Es hagelt gerade Kritik: Von Gymnasialschulleitern,
Professoren, der [3][Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft], den
[4][Elternräten der Stadtteilschulen], Teilen [5][der Politik]…
Ja. Und nahezu alle Stellungnahmen weisen in die gleiche Richtung. Diese
Bildungspläne gehen davon aus, dass wir eine homogene Schülerschaft haben.
Alle sollen das Gleiche lernen, und zwar gemessen an Inhalten. Aber das
Lernen muss viel stärker individualisiert werden. Die diverse Gesellschaft
muss im Lernen abgebildet werden.
Für Aufregung sorgt, dass Schulsenator Ties Rabe (SPD) die Bewertung von
mündlicher und schriftlicher Arbeit von 60 zu 40 auf 50 zu 50 verschiebt
und Klausurersatzleistungen streicht. Wie finden Sie das?
Der Ansatz ist falsch. Es müssten Stärken-orientierte Bildungspläne sein.
Alle Schülerinnen und Schüler sollten ihre Stärken ausspielen können. Jene,
die gut schreiben können, sollen ganz viel schreiben und sich dort auch
beweisen, um dann auch vielleicht in anderen Bereichen Kompetenzen zu
entwickeln. Und jene, die gerne Theater spielen, sollen das gerne tun.
Schule muss flexibel die Stärken unterstützen.
Es müssen nicht alle das gleiche Raster erfüllen?
Genau. Der eine ist im Theaterspielen stärker, der andere im Schreiben.
Für alle zu 50 Prozent das Schriftliche zu werten, ist Unterricht wie vor
100 Jahren.
Rabe nennt als Grund, Hamburgs Schüler hätten eine Schwäche beim
Schriftlichen. Man dürfe sich nicht ‚wegmogeln‘. Stimmt das?
Wir betrachten Lernfortschritte individuell. Schreiben lernt man nicht
durch Klausuren, sondern indem man sich ganz kreativ mit Sprache und
Schrift auseinandersetzt und ganz viele Ausdrucksformen hat. Das ist ein
Lernprozess und kein Prüfungsprozess.
Aber bestimmte Standards im Bezug auf Schreibfähigkeiten sollte es doch
geben?
Das sind aber nicht die einzigen Standards. Sich auszudrücken hat viele
Facetten. Die Rechtschreibung wird gern als Beispiel genommen, ist aber nur
eine Facette. Es gibt ganz viele Ausdrucksformen, etwa Argumentieren spielt
eine Rolle, kreative Worte finden, einen Wortschatz haben. Was nützt ein
schlecht argumentierter Text, der aber lupenrein geschrieben ist?
Die Elternkammer fürchtet, dass künftig weniger Schüler den Ersten oder
Mittleren Abschluss oder Abitur schaffen. Teilen Sie diese Sorge?
Also, wir wollen, dass die Potenziale aller Schülerinnen bestmöglichst
geweckt werden. Und das ‚alle‘ ist dabei sehr zentral. Für
Chancengerechtigkeit brauchen wir sehr individuelle und an Stärken
orientierte Lernzugänge. Und den Zugang – da teile ich die Sorge – erreicht
man nicht nur durch Konfrontation mit den Defiziten.
Rabe sichert zu, all die Stellungnahmen würden in seiner Behörde angeschaut
und bis August ein neuer Entwurf verfasst. Ist das kein gangbarer Weg?
Nein. Wir möchten, dass die doch sehr massive und flächendeckende Kritik
politisch aufgenommen wird. Wir erwarten einen Vorschlag, wie mit
Beteiligung derjenigen, die sich hier sehr sachkundig und intensiv mit den
Themen auseinandergesetzt haben, eine grundlegende Überarbeitung der
Bildungspläne geschieht. Und zwar nicht nur eine Kosmetik. Da erwarten wir
einen Vorschlag, damit nicht Politik an den Menschen vorbei gemacht wird.
1 Jun 2022
## LINKS
[1] https://www.hamburg.de/bsb/bildungsplaene-entwuerfe-2022/
[2] /Hamburger-Vorwahlkampf/!5586204
[3] https://www.gew-hamburg.de/themen/schule/teaching-to-the-test-soll-das-die-…
[4] https://gest-hamburg.de/
[5] https://www.linksfraktion-hamburg.de/entwuerfe-der-neuen-bildungsplaene-vor…
## AUTOREN
Kaija Kutter
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