# taz.de -- Steigende Mieten in Großstädten: Pseudovorbild Wien | |
> Wenn es ums Mieten geht, blicken viele Großstädte neidisch auf Wien. Ein | |
> Trugschluss, denn die Stadt privilegiert vor allem die Alteingesessenen. | |
Bild: Blick auf die Wiener Altstadt: Da wohnt man doch gern | |
Fällt der Name Wien, bekommen viele glänzende Augen: Diese wunderschönen | |
Altbauten, diese alten Kaffeehäuser, und dazwischen das Rattern der | |
Pferdekutschen über Kopfsteinpflaster. Hier scheint die Zeit stehen | |
geblieben zu sein, auch was Wohnraum und Mietpreise angeht. Anders als etwa | |
in Berlin, wo gerade über Mietendeckel und Enteignung diskutiert wird, | |
[1][gilt Wien stets als absolutes Positivbeispiel], das seit Jahren alles | |
richtig macht. Die Schlussfolgerung lautet dann oft: Andere Metropolen | |
müssten sich nur an der österreichischen Hauptstadt orientieren. | |
Der sehnsüchtige Blick in Richtung Südosten gilt vor allem den viel | |
gepriesenen Gemeindebauten, von der Stadt Wien errichtet und zu einem | |
gedeckelten Quadratmeterpreis von um die 5 Euro vermietet, plus | |
Betriebskosten und Steuern. 32 Prozent der Mietwohnungen gehören der Stadt, | |
weitere 26 Prozent fördert sie. Oft sind es beeindruckende Bauten, luftig | |
durchzogen von grünen Innenhöfen. Für Mieter*innen in anderen europäischen | |
Großstädten klingt das nach gelebter Utopie. | |
Dabei haben viele Menschen in Wien gar keinen Zugang zu diesen Wohnungen. | |
Nur wer dort mindestens zwei Jahre hauptgemeldet ist, kann sich bewerben. | |
In der Realität muss man oft viel länger warten. Menschen, die neu nach | |
Wien ziehen, etwa Studierende aus anderen Bundesländern oder Migrant*innen, | |
haben erst mal keine Chance auf eine geförderte Wohnung. Und gerade diese | |
Gruppen sind auf günstigen Wohnraum angewiesen. Selbst wer Anspruch hat, | |
muss von dieser Möglichkeit erst einmal erfahren und beim | |
Bewerbungsverfahren durchsteigen. Für Nichtmuttersprachler*innen schier | |
unmöglich. | |
An eine Wohnung im Gemeindebau zu kommen ist auch deshalb schwierig, weil | |
diejenigen, die einmal eine ergattert haben, diese so schnell nicht wieder | |
hergeben. So wohnt ein Bekannter seit seiner Studienzeit in einer | |
Zweizimmerwohnung im Gemeindebau in bester Lage. Obwohl er heute als | |
Informatiker ziemlich gut verdient, zahlt er für 55 Quadratmeter keine 500 | |
Euro warm, inklusive Strom und Internet. Müsste er sich die Wohnung frei | |
finanzieren, würde er locker 1.000 Euro hinblättern, sagt er selbst. Schön | |
dumm, wer so eine Wohnung wieder abgibt. Im selben Haus wohnt auch eine | |
ältere Frau allein in einer Dreizimmerwohnung, über die sich so manche | |
Familie sicher freuen würde. | |
Natürlich kann man von einer 80-Jährigen nicht verlangen, umzuziehen. Die | |
Gerechtigkeitsfrage drängt sich hier trotzdem auf. Denn um die geförderten | |
Wohnungen entsteht oft ein dubioses Geschacher: Einzelne Zimmer und ganze | |
Wohnungen werden illegal untervermietet oder durch das „Eintrittsrecht“ | |
legal an Familienmitglieder weitergereicht – ohne dass die Bedürftigkeit | |
noch mal geprüft würde. Denn das geschieht nur beim Einzug. In Wien kennt | |
man deshalb Politiker und Richterinnen, die im Gemeindebau wohnen. | |
Währenddessen werden die Wartelisten für Menschen, die auch mal gerne dran | |
wären, immer länger. So hilft der Gemeindebau vor allem jenen, die schon | |
lange in Wien wohnen, ganz nach dem Motto: Wiener first! | |
Dabei wächst Wien – verhältnismäßig sogar noch schneller als Berlin. | |
Voraussichtlich 2027 wird die österreichische Hauptstadt die | |
2-Millionen-Marke knacken. Wo sollen diese neu Zugezogenen also hin? Ihnen | |
bleibt abseits der Gemeindebauten und genossenschaftlich geförderten | |
Wohnungen nur der freie Mietmarkt, der immerhin noch über 40 Prozent | |
ausmacht. Dort steigen die Preise extrem, auch in Wien. Der Markt gilt hier | |
sogar als noch weniger reglementiert als in Deutschland. | |
Laut einer Studie der Plattform Immobilienscout24 aus dem Vorjahr ist in | |
Wien das Mieten auf dem privaten Markt gemessen an der Kaufkraft sogar | |
teurer als in Berlin. Wiener*innen geben dort für die Miete einer | |
durchschnittliche Wohnung 55 Prozent ihres Nettoeinkommens aus, | |
Berliner*innen 46 Prozent. Und obendrein hat sich die unsägliche Praxis | |
eingebürgert, vor allem befristete Verträge zu vergeben. Menschen, die aus | |
verschiedenen Gründen keinen Anspruch auf eine Wohnung im Gemeindebau | |
haben, sind diesem Mietmarkt ausgeliefert. | |
Auch Wien ist nicht gefeit vor Gentrifizierung. Als Studentin habe ich im | |
15. Bezirk gewohnt, der als schmuddelige Ecke galt. Als ich vor Kurzem dort | |
war, habe ich meine alte Straße kaum wiedererkannt: Die meisten Imbisse, | |
schummrigen Kneipen und der kleine Laden für Briefmarkensammlungen waren | |
verschwunden. Stattdessen ein hipper Taco-Laden und ein Bioladen. Mein | |
altes, damals noch kackbraunes Wohnhaus erstrahlt jetzt in grellem Weiß. | |
Wegen der Sanierung mussten meine WG und die anderen Mieter*innen damals | |
ausziehen. Zwar verläuft Gentrifizierung in Wien noch sanfter als anderswo, | |
Verdrängung gibt es aber auch hier. | |
## Eigene Strategien finden | |
Ganz so neidisch müssen andere Großstädte also nicht auf Wien schauen, das | |
gerade 100 Jahre Gemeindebau feiert. Darauf darf sich auch Wien nicht | |
ausruhen, wenn so viele Menschen gar keinen Zugang zu diesem günstigen | |
Wohnraum haben. Außerdem hatten die Gemeindebauten dort 100 Jahre Zeit, zu | |
wachsen. Berlin und Co können das gar nicht so schnell aufholen. Sie müssen | |
andere, eigene Strategien finden, um mit Wohnungsmangel umzugehen. | |
Andere Städte sollten weniger auf den Gemeindebau, dafür mehr auf die | |
Bodenpolitik und die Bautätigkeiten der österreichischen Hauptstadt | |
schauen. Beim Neubau kommt Wien dem Bedarf nämlich besser nach als viele | |
deutsche Großstädte. Auf ehemaligen Bahnhofsarealen entstehen derzeit | |
Stadterweiterungsprojekte, mit der [2][Seestadt Aspern wird vor den Toren | |
Wiens] gerade eine ganze neue Stadt inklusive See und erweiterter | |
U-Bahn-Linie fertiggestellt. Also lieber nicht neidisch 100 Jahre | |
zurückblicken, sondern mit innovativen Ansätzen in die Zukunft. | |
30 Jul 2019 | |
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## AUTOREN | |
Jana Lapper | |
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