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# taz.de -- Soziologin über Heranwachsende: „Scham hat ein Geschlecht“
> Wieso ist Teenagern so vieles peinlich? Und wann geht es eigentlich los
> mit dem Gefühl? Soziologin Karin Flaake über den zweifelhaften Nutzen von
> Scham.
Bild: Mädchen in der Pubertät sind besonders von Scham betroffen
taz: Frau Flaake, in welchem Alter beginnt man, sich zu schämen?
Karin Flaake: Das kann schon früh anfangen – sobald ein Kind ein Minimum an
Selbstreflexion hat. Bei Scham spielen die Botschaften der sozialen
Umgebung eine große Rolle. Wir schämen uns, [1][wenn wir ein Signal von
außen bekommen], das unser Selbstbewusstsein beeinträchtigt.
taz: Gibt es im Aufwachsen eine Phase, in der man sich besonders viel
schämt?
Flaake: Die Pubertät ist eine Zeit, die mit großer Verunsicherung verbunden
ist. Der [2][Körper verändert sich], ganz gleich, ob Jugendliche es wollen
oder nicht. Sexuelle Wünsche und Fantasien entwickeln sich. [3][Wofür genau
man sich schämt,] das ist kulturell bedingt, aber dass man sich schämt,
kennen wahrscheinlich die meisten Menschen.
taz: Scham gilt nicht nur als ansozialisiert, sondern auch als Teil der
menschlichen Evolutionsgeschichte, unserer Gene. Aber welchen
Überlebensvorteil hat dieses unangenehme Gefühl uns denn bitte gebracht?
Flaake: Die hilfreiche Funktion der Scham ist, dass man für sich behält,
was einen verletzlich macht oder angreifbar in einer Gruppe.
taz: Das mag zu früheren Zeiten der Menschheitsgeschichte besonders wichtig
gewesen sein, als Alleinsein tödlich enden konnte. Aber können wir uns
nicht heute unabhängiger machen von den Blicken und Bewertungen der
anderen?
Flaake: Das ist schwierig, weil wir Menschen von Anbeginn des Lebens an in
soziale Beziehungen eingebunden und für unsere Entwicklung darauf
angewiesen sind, dass wir freundliche, positive Resonanz bekommen.
taz: Scham ist also sozusagen die Schattenseite unseres sozialen
Menschseins?
Flaake: So kann man es sagen.
taz: Ist es auch möglich, sich allein zu schämen?
Flaake: Durchaus. Man kann sich vorstellen, was wäre, wenn ich jetzt mit
anderen wäre und die Erwartungen nicht erfülle, die an mich gestellt
werden. Ich nehme vorweg, was in der Realität noch gar nicht eingetreten
ist und vielleicht auch nie eintreten wird.
taz: Und dann mache ich etwas gar nicht erst, weil ich denke, es könnte
eine schamhafte Situation entstehen.
Flaake: Ja, weil es peinlich werden könnte.
taz: Hat Scham ein Geschlecht?
Flaake: In gewisser Weise hat Scham ein Geschlecht, ja. Mädchen in der
Pubertät sind besonders von Scham betroffen. Das hängt mit der besonderen
gesellschaftlichen Bedeutung des weiblichen Körpers zusammen – er steht in
westlichen Kulturen für sexuelle Attraktivität, für die Möglichkeit,
begehrt zu werden. Junge Frauen erleben häufig, dass sie mit den
körperlichen Veränderungen der Pubertät, zum Beispiel dem Wachsen der
Brüste auf sexualisierende Blicke treffen. Viele erleben das zunächst als
einen Übergriff, weil sie noch keine innere Bereitschaft haben – und sie
schämen sich für etwas, für das sich der sie Anblickende eigentlich schämen
müsste, denn er ist der Übergriffige.
taz: Ist da auch viel fantasierte Scham dabei, weil Schönheitsnormen
nahelegen, wie man aussehen müsste? Und dann schäme ich mich, weil ich so
nicht bin?
Flaake: Ja und nein. Dass die Körper der Mädchen kommentiert werden, in der
Schulklasse, aber auch zu Hause, ist ja real. Zu Hause läuft das dann eher
unter dem Motto „lockere Familienkommunikation“. Dass die Mutter zum
Beispiel sagt: „Jetzt sieht man ja schon Brüste bei dir.“
taz: Aber eine Brust ist doch ein ganz normales Körperteil. Was spricht
denn gegen die Normalisierung von dessen Betrachtung?
Flaake: Es ist eine Gratwanderung. Ich kann das Gefühl von Stolz haben,
dass mein Körper jetzt Bildern von Weiblichkeit entspricht. Aber es macht
mich auch verletzlicher für die Kommentierungen anderer.
taz: Einerseits sind gerade Mädchen und junge Frauen durch Social Media
ständig der Bewertung ihrer Körper ausgesetzt. Andererseits gab es ja in
den vergangenen Jahren eine starke Body-Positivity-Bewegung, die klar sagt:
Jeder Körper ist gut so, wie er ist! Welche Seite überwiegt aus ihrer
Sicht?
Flaake: Das ist von Mädchen zu Mädchen unterschiedlich. Die jungen Frauen
haben es am besten, die in ihrer Familie schon früh ein gutes
Selbstbewusstsein mitbekommen haben, die nicht schon als Kind zu oft
bewusst oder unbewusst beschämt wurden. Die können dann auch
selbstbewusster mit den Veränderungen der Pubertät umgehen.
taz: Schule ist neben Familie sicher der Ort, an dem Menschen am meisten
beschämt werden, bis hin zum Mobbing. Hat das auch etwas mit Geschlecht zu
tun?
Flaake: Vom Mobbing sind eigentlich alle Geschlechter betroffen, nur die
Inhalte sind andere. Die Jungs werden für alles gemobbt, was man an ihnen
als weiblich assoziiert. Mädchen werden eher dafür gemobbt, wenn sie
Schönheitsidealen nicht entsprechen. Auch für queere Jugendliche sind
gesellschaftliche Normalitätserwartungen eine Quelle von Scham.
taz: Inwiefern?
Flaake: All die werden beschämt, die den heteronormativen Vorgaben des
Patriarchats nicht entsprechen. Wir müssen uns doch nichts vormachen: Trotz
voranschreitender Akzeptanz von Homosexualität und Transidentität erleben
queere Jugendliche in der Schule Mobbing dafür, wer sie sind.
taz: Zu dem eh schon niederschmetternden Gefühl der Scham kommen noch die
körperlichen Reaktionen: Man wird knallrot, fängt an zu schwitzen, kann
nicht mehr klar denken. Dadurch bekommen die anderen das auch noch mit! Wie
kommt man da wieder raus?
Flaake: Ich glaube, am besten ist es, die eigene Scham zu benennen: „Oh,
das ist mir aber jetzt peinlich!“ Dann fühlt es sich schon nicht mehr ganz
so schlimm an. Man macht sich auf diese Weise zur aktiven Gestalterin der
Situation und erleidet sie nicht nur passiv. Und das schafft wieder
Selbstbewusstsein.
taz: Da gehört aber schon wieder eine Menge Mut dazu.
Flaake: … oder ein offenes Umfeld, in dem Scham und Beschämung thematisiert
werden. Das geht zum Beispiel über Schulprojekte, in denen allen klar wird,
dass sich jede und jeder schämt.
taz: Wir erinnern uns selbst noch an Schüler*innen, aber auch an
Lehrer*innen, die uns beschämt haben. Glauben Sie, dass die Schulen sich da
wirklich weiterentwickelt haben?
Flaake: Das hoffe ich doch sehr für die Jugendlichen!
7 Mar 2025
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## AUTOREN
Manuela Heim
Franziska Schindler
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