# taz.de -- Peinliche Momente: Mein Krampf | |
> Die Auslöser von Scham sind verschieden. Fünf AutorInnen über fünf Dinge, | |
> für die sie sich schämen. | |
Bild: Mach, dass das weggeht | |
## Mach doch, was du willst! | |
Manchmal liege ich im Bett und schaue Backtutorials. Ich beobachte fremde | |
Hände beim Eiertrennen und Teigkneten und sehe zu, wie eingefärbter | |
Zuckerguss auf glänzende Küchenzeilen tropft. Aber ich mag keinen Kuchen. | |
Und ich backe nie. | |
„Ach, das ist halt mein guilty pleasure“, sage ich dazu, wenn die Tutorials | |
wieder ganz oben im Suchverlauf stehen. Meine FreundInnen nicken dann | |
verständnisvoll. Sie alle lesen, schauen oder essen heimlich Dinge, die | |
nicht cool sind. | |
Einer sieht sich beispielsweise leidenschaftlich gerne | |
Führerstandsmitfahrten an. Das sind Videos, für die eine Kamera vorne am | |
Zug angebracht wird. Seine Lieblingsstrecke ist Bergen–Oslo, acht Stunden | |
norwegische Hochebene mit Schnee und Tunneln. Schuldig fühle er sich dafür | |
nicht, sagt er. Aber er grinst viel, wenn er davon erzählt, ganz so, als | |
wolle er seinem Gegenüber sagen: Ich weiß ja selbst, dass das Quatsch ist! | |
Und ich verstehe ihn. Niemals würde ich sagen: „In meiner Freizeit lerne | |
ich Altgriechisch, das ist mein guilty pleasure.“ Nein, ich schäme mich nur | |
für die Dinge, die mich faul oder einfältig wirken lassen. Alte Pur-Platten | |
höre ich bloß ironisch, klar, und bei Dauerwerbesendungen bleibe ich nur | |
hängen, weil die Fernbedienung kaputt ist. | |
Aber das ist falsch. Ich finde, wir sollten aufhören, uns für schöne Dinge | |
zu schämen. Weil sonst vielleicht der Tag kommt, an dem wir sie sein | |
lassen, ein Sonntagnachmittag, an dem wir besteckputzend auf dem Laufband | |
stehen und dabei Kantonesisch lernen. Dann sind wir zwar die perfekten | |
SelbstoptimiererInnen. Aber richtig glücklich sind wir nicht. Sara Wess | |
## *** | |
## Mach das weg, das ist zu viel! | |
Natürliche Haarpracht und zwar überall. Kein Rasieren, Epilieren, Zupfen, | |
Lasern. Keine Rasur auf den Beinen oder unter den Achselhöhlen nach den | |
Wünschen des Patriarchats – in den siebziger Jahren galten Körperhaare als | |
politisches Statement sexuell befreiter Weiblichkeit und wurden verteidigt. | |
Lass wachsen statt waxen. | |
Als ich damals zum ersten Mal meine angeheiratete tunesische Familie | |
besuchte, wollte ich nur den besten Eindruck hinterlassen. Auf die sehr | |
freundlich und mehrfach wiederholten Angebote meiner Schwiegermutter und | |
Schwägerinnen, mir ein Ganzkörperpeeling mit einer | |
Zucker-Zitronensaft-Wasser-Mischung zu verpassen, reagierte ich zunächst | |
ablehnend, irgendwann völlig irritiert und schließlich resigniert | |
zustimmend. | |
Durch das Aufkochen der drei Zutaten erhält man eine zähe Masse, die auf | |
die zu enthaarenden Stellen aufgetragen und mit Hilfe eines Tuchs oder den | |
Fingern wieder abgezogen wird. Glatte Haut, überall. Nur mein Gesicht | |
konnte ich vor dem klebrigen Zugriff retten. | |
Es tat weh. Aber es tat vor allem weh, mich mit ihren Augen zu sehen – | |
ungepflegt, unhygienisch. Ein Empfinden, wie es bei mir heute die | |
sprießenden Bärte der neuen Islamisten in den Straßen von Tunis auslösen. | |
Ganzkörperenthaarung ist, besonders für Frauen, in der muslimischen Kultur | |
Reinlichkeitsgebot und Schönheitsideal. Und nicht nur da. Auch die Mosaiken | |
der phönizischen und römischen Epoche im Bardo-Museum von Tunis zeigen nur | |
glatte Männer- und Frauenkörper. | |
Mein um Haaresbreite verpatzter Antrittsbesuch bei der Schwiegermutter war | |
eine nachhaltige Verunsicherung und eine peinliche Lektion im kulturellen | |
Perspektivwechsel. Ich jedenfalls waxe bis heute. Edith Kresta | |
*** | |
## Bitte mach, dass das nicht passiert ist! | |
Aufgewachsen bin ich in Baden-Württemberg, da war es üblich, dass man | |
gläubig war. In meinem Dorf fühlte es sich an, als gäbe es nur einen Weg, | |
richtig zu glauben, und der hieß: katholisch zu sein. Die Dorfkirche war | |
mit goldenen Engeln verziert, vor der Erstkommunion fragte ich meine | |
Mutter, was ich bei der verpflichtenden Beichte wohl beichten könne. Und in | |
Klasse 6 war ich längst daran gewöhnt, Gebete zu schreiben. | |
Mein Religionslehrer ließ sie uns selbst verfassen. Nach und nach musste | |
jeder sein Gebet zu Beginn einer Stunde vorlesen. In meiner Erinnerung, die | |
meinen Scham-Moment nicht verklärt, sondern verschlimmert haben mag, | |
mussten wir dabei sogar stehen. | |
Ich stand also und las mein Gebet vor, auf das ich eigentlich ziemlich | |
stolz war. „Lieber Gott …“, fing es an, logisch, so fingen es bei allen a… | |
Aber anders als die anderen hatte ich nicht einfach an mich und meine | |
Familie gedacht, nicht an die Opfer des Bürgerkrieges in Nepal und der | |
sonstigen Bürgerkriege dieser Welt. | |
Ich betete für Tiere. | |
Und zwar für die kleinsten. | |
In vielen drastischen Worten bemängelte ich, wie rücksichtslos die Menschen | |
waren. Und dass sie, „zum Beispiel, wenn sie einen Käfer zertreten, oft gar | |
kein schlechtes Gewissen haben“. | |
Es war ein Gebet für mehr Respekt – und ich konnte kaum zu Ende beten, da | |
kicherten die ersten schon. „Käfer“, „Käfer“, „Käfer“ drang es a… | |
Klassenzimmerecken, und als wäre das nicht genug, befand mein Lehrer mit | |
einem Lächeln: „Das finde ich schön, dass du dich der Käfer angenommen | |
hast!“ | |
Noch Jahre später wurde ich auf mein Käfer-Gebet angesprochen. Es dauerte | |
lange, bis mir dämmerte, was ich eigentlich falsch gemacht hatte: Ich war | |
11 oder 12 gewesen, und damit im falschen Alter noch kindlich. Annabelle | |
Seubert | |
*** | |
## Mach jetzt bloß nichts falsch! | |
Als krankhafter Perfektionist erlaube ich mir – „mir erlauben“ ist | |
wortwörtlich zu verstehen – so gut wie keine Fehler. Jede Macke, jede | |
Ungenauigkeit beschämt mich: ein Witz, bei dem keiner lacht, ein | |
eingebrachter Fakt, der sich als falsch erweist, eine Unbeherrschtheit oder | |
Ungeschicklichkeit. | |
Entsprechend fängt meine Scham oft schon vorm Ereignis an: Meine vielleicht | |
größte Angst ist, bei einem Fehlverhalten ertappt zu werden. Deswegen habe | |
ich als Teenager nie Ladendiebstahl probiert (gut). Deswegen würde ich mich | |
nie trauen, eine andere Person einfach zu küssen, selbst wenn alles | |
Zwischenmenschlich-Atmosphärische dafür spricht, allein die Erwartung eines | |
„Wie konntest du ernsthaft glauben, dass ich das auch will?“-Talks lässt | |
mich erstarren (weniger gut). | |
Deswegen sage ich Freunden ungern, wenn mir gewisse Dinge an ihnen nicht | |
passen – weil so ein Gespräch dazu führen kann, dass sie es umgekehrt auch | |
tun. Ich schweige lieber (auch nicht so gut). | |
Mein Scham geht so weit, dass ich auch dauernd Fremdscham empfinde, wenn | |
Leute in Filmen oder Serien in ähnlich schambesetzte Situationen geraten | |
oder auch nur möglicherweise zu geraten drohen. Leider fällt mir dazu jetzt | |
kein gutes Beispiel ein, und dafür schäme ich sehr. Michael Brake | |
*** | |
## Hab ich das gerade wirklich gemacht? | |
Mitten in dem riesigen Garten hinter dem Mehrfamilienhaus, in dem ich groß | |
wurde, stand ein riesiger Walnussbaum. Ich verbrachte oft Zeit in diesem | |
Garten, saß auf der grünen Plastikbank unter dem Baum und hörte auf meinem | |
ersten Walkman eine Kassette mit aus dem Radio aufgenommen schwülstigen | |
Popsongs. Eines Tages hatte ich plötzlich das große Bedürfnis, den | |
Walnussbaum zu umarmen. | |
Ich stellte mich auf die Bank und tat es. Höchstens ein paar Sekunden, dann | |
hatte ich das Gefühl, beobachtet zu werden. Ich drehte mich, den Baum noch | |
umschlungen, um und sah meine Mutter am Fenster stehen und den Kopf | |
schütteln. | |
Bis heute schäme ich mich dafür. Ich habe nie wieder einen Baum umarmt. Ich | |
wüsste auch nicht, warum. Und ich weiß bis heute nicht, woher der Impuls | |
kam, es damals zu tun. Doris Akrap | |
9 Feb 2020 | |
## AUTOREN | |
Doris Akrap | |
Michael Brake | |
Sara Wess | |
Annabelle Seubert | |
Edith Kresta | |
## TAGS | |
Scham | |
Psychologie | |
Schwerpunkt Obdachlosigkeit in Berlin | |
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