# taz.de -- Sozialismus und Religion: Weniger Befremden – mehr Respekt | |
> Lange herrschte unter Linken der Irrglaube, die Religion werde bald | |
> überholt sein. Tatsächlich gewinnt sie an gesellschaftlicher Bedeutung. | |
Bild: Religion – auch die von Minderheiten – rückt stärker vom privaten i… | |
Die Linke hat es nicht leicht mit dem lieben Gott. Sie fremdelt mit ihm, | |
oder mit ihr, oder sagen wir: mit „Religiosität“. Das zeigt sich auch bei | |
der taz. Bei wohl keinem Thema unterschreitet sie so häufig ihr | |
Durchschnittsniveau wie bei den Themen Religion und Kirche. So sind | |
ironisierende Berichte und übellaunige Kommentare erwartbar, wenn | |
beispielsweise im Land wieder das Himmelfahrtsfest naht oder | |
Kirchentagsbesucher_innen in den U-Bahnen der Großstädte lauthals | |
gesungen haben. | |
Das liegt, so vermute ich, zum einen daran, dass die Gegnerschaft zu | |
Religion und Kirche zurzeit eine der wenigen letzten Frontstellungen ist, | |
auf die sich politisch links denkende Menschen hierzulande milieu- und | |
fraktionsübergreifend in großer Leichtigkeit verständigen können. Nach dem | |
Ende so vieler anderer linker Gewissheiten kann man wenigstens dann mal | |
wieder locker und ironisch klare Kante zeigen, wenn Religiosität im | |
öffentlichen Raum auffällt. | |
Aber da ist noch mehr. Diese Befremdung hat schließlich eine lange | |
Geschichte. Von Beginn an ist Religion der Linken verdächtig gewesen. Karl | |
Marx sah in ihr bekanntlich ein verkehrtes Weltbewusstsein, das die | |
verkehrte Welt widerspiegeln würde, den Seufzer der bedrängten Kreatur und | |
zugleich ihr schmerzlinderndes Opiat. [1][August Bebel] formulierte 50 | |
Jahre später, Christentum und Sozialismus stünden sich gegenüber wie Feuer | |
und Wasser. | |
Damit schien die Sachlage weitgehend geklärt und eine kritische Abgrenzung | |
gegenüber Religion gehörte fortan zum theoretischen und habituellen | |
Bestandteil linksorientierter Parteien und Gruppen sowie kritischer | |
Theoretiker_innen, bis heute. Zwar gab es immer auch ein | |
„Crossover“-Milieu, das sich als „religiöse Linke“ zeigte. | |
## Religionsdistanz war linker Mainstream | |
Ich denke zum Beispiel an [2][Dorothee Sölle] und diverse | |
Befreiungstheologien, an deren frühe europäische Version in der Form des | |
„religiösen Sozialismus“ sowie an die bedeutenden Formulierungen im | |
Godesberger Programm der SPD, insbesondere aber an das gemeinsame | |
politische Engagement in den Bewegungen für Frieden, Gerechtigkeit, | |
Umweltschutz und Klima. | |
Auf der anderen Seite hatte die religionskritische Linke in ihren | |
Evolutions- und Revolutionsvorstellungen mit der Figur des „neuen Menschen“ | |
selbst immer höchst religiöse Vorstellungen in säkularer Form konserviert, | |
beginnend in der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zu den utopischen Entwürfen | |
der neuen sozialen Bewegungen in der zweiten Hälfte des vergangenen | |
Jahrhunderts. | |
Und doch: Religionsdistanz blieb linker Mainstream und mit der | |
soziologischen Säkularisierungsthese setzte sich dann auch übergreifend die | |
Vorstellung durch, Religion sei ein bald überwundenes Relikt in unseren | |
westlichen Gesellschaften. Man ging davon aus, dass die Existenz von | |
Religion soziales Elend, wissenschaftliche Unkenntnis oder staatlichen | |
Zwang zur Voraussetzung habe. | |
Und doch scheint es anders zu laufen. Religiosität ist noch da, auch dort, | |
wo sich Wohlstand, Bildung und Demokratie durchsetzten. Nach Jahrzehnten | |
religiöser Individualisierung, Pluralisierung und Privatisierung und der | |
esoterischen Ausdifferenzierung religiöser Überzeugungen gibt es Hinweise | |
darauf, dass sie gesellschaftlich sogar an Bedeutung gewinnt (freilich ohne | |
dass dadurch in diesem Land voller werdende Gotteshäuser zu erwarten | |
wären). | |
## Religiöse Vorstellungen in säkularer Form | |
Da ist beispielsweise zu beobachten, dass Religion neu politisiert zu | |
werden scheint. Sie wandert „vom Raum des Persönlichen und Privaten in den | |
Raum des Öffentlichen und Kollektiven“, wie der [3][Soziologe Heinz Bude] | |
feststellt, und zeigt sich als eine der Quellen, aus der sich individuelle | |
und kollektive Selbstermächtigungen speisen. Auch religiöse Minderheiten | |
fordern zunehmend Anerkennung und damit eine differenzfreundliche | |
Gesellschaft, in der jede und jeder Platz hat. | |
Und als Statthalterin einer solchen Idee von Gesellschaft, in der man ohne | |
Angst nicht nur leistungsschwach, sondern auch verschieden und verschieden | |
gläubig sein darf, hat es einer Linken jetzt weniger um Religionskritik zu | |
gehen, sondern vielmehr um Anwaltschaft für solche (religiösen) | |
Anerkennungsforderungen. | |
Zu entdecken ist Religion zudem in den öffentlichen Wertedebatten. | |
Spektakulär und für die Linke bedeutsam war in diesem Zusammenhang die | |
Begründungsarbeit des Philosophen Jürgen Habermas in den letzten zwei | |
Jahrzehnten und sein Verweis auf die Fähigkeit religiöser Traditionen, | |
Einsichten zu liefern, die in säkularer Form nicht zur Verfügung stünden, | |
was in Zeiten einer „entgleisenden Modernisierung“ zum Problem werde. | |
Damit formulierte er etwas aus, das schon bei [4][Walter Benjamin] und | |
[5][Theodor W. Adorno] in Ansätzen gefunden werden kann und dreißig Jahre | |
zuvor bei [6][Max Horkheimer] auch formuliert worden war: Religion, so | |
Horkheimer, enthalte eine kritische Utopie. Sie sei der Aufbewahrungsort | |
einer „Sehnsucht danach, dass der Mörder nicht über das unschuldige Opfer | |
triumphieren möge“, ein Reservoir der Begründung menschlicher Humanität. | |
## Sehnsucht nach Gewissheit und Horizont | |
Ganz praktisch zeigt sich sodann mit dem Bedürfnis nach Entschleunigung und | |
Achtsamkeit ein bis tief in die kirchenferne Mittelschicht wahrnehmbares | |
neues Interesse an religiösen Traditionen, an Ritualen und Formen von | |
Spiritualität. „Man merkt es am Aufleben alter Sehnsüchte: nach Gewissheit | |
und Horizont, Heil und vielleicht sogar Erlösung“, wie [7][Evelyn Finger in | |
der Zeit ] schreibt. | |
Und in der Resilienzforschung zeigen sich, Fingers Beobachtung stützend, | |
Hinweise auf gesundheitsfördernde Effekte von individuell gelebter | |
Religiosität. All das ist für traditionell linke Religionskritik | |
irritierend, sowohl theoretisch wie auch praktisch und habituell. Und in | |
diesem Licht wirkt die gegenwärtig in vielen Kreisen der Linken weiterhin | |
noch gepflegte, affektiv ablehnende Haltung gegenüber Religiosität und | |
Spiritualität fast ein bisschen konservativ. | |
Nun muss hier eingeräumt werden, dass die traditionell große Distanz | |
zwischen der politischen Linken und der organisierten Religion in diesem | |
Land über sehr lange Zeit auch vonseiten der christlichen Kirchen emsig | |
betrieben wurde. Und es soll in keinem Fall in Abrede gestellt werden, dass | |
präzise Religionskritik in der Vergangenheit nötig war und bis heute | |
geblieben ist. | |
Es geht mir also nicht um eine Zurückweisung kritischer Religionsanalyse, | |
die wir in Zeiten von Gewaltskandalen, verschiedensten Fundamentalismen und | |
ideologischen Verrücktheiten sehr dringend nötig haben. Es geht mir | |
ebenfalls nicht um eine Verunglimpfung atheistischer Überzeugungen. | |
Vielmehr geht es mir um Ernsthaftigkeit im Umgang mit Differenz – und um | |
Respekt! | |
Hierfür erscheint es mir hilfreich, die Aufmerksamkeit von der Frage nach | |
dem Wahrheitsgehalt religiöser Bekenntnisse abzuwenden und stattdessen den | |
Blick auf den Kern religiöser Praxis zu wenden: auf existenzielle | |
menschliche Erfahrungen der Selbstüberschreitung, des Ergriffenseins und | |
des Sinns. Es sind Resonanzerlebnisse in der Begegnung mit etwas | |
Unverfügbarem, wie der [8][Soziologe Hartmut Rosa] sie beschreibt. | |
Solche Erfahrungen machen alle Menschen und sie haben oftmals das | |
Bedürfnis, hierfür eine Artikulationsform zu finden, also Symbole, Zeichen, | |
Sprache. Und diese finden sie durchaus auch in religiösen Traditionen, die | |
von den vorherigen Generationen hervorgebracht und bewahrt worden sind. | |
Religionen sind, so betrachtet, nicht nur Wertesysteme und Lehrgebäude, | |
sondern, so der [9][Sozialphilosoph Hans Joas], Versuche zur Auslegung | |
menschlicher Erfahrungen der Selbsttranszendenz. | |
Sie sind zu verstehen als Deutungsangebote, die in einem Kulturraum zur | |
Verfügung stehen und sich vielen Menschen als Wahrheit zeigen. Und weil | |
Religiosität in existenziellen Erfahrungen der Selbsttranszendenz und dem | |
Wunsch nach deren sprachlicher Reflexion ihre Quelle hat, ist sie auch | |
nicht still zu stellen. Im Gegenteil. | |
Viele Menschen bemühen sich aktiv um solche Erfahrungen, beispielsweise in | |
der [10][Begegnung mit Natur], Kunst, Tradition und Religion – und sie | |
schöpfen hieraus Kraft und Orientierung für ihr Handeln und ihr Engagement. | |
Das verbindet sie. Es unterscheidet sie aber die Art, wie sie diese | |
Erfahrungen deuten, und somit auch, inwiefern sie diese Erfahrungen als | |
Begegnung mit einer transzendenten Realität verstehen, oder aber profane | |
Ursachen vermuten. Das bleiben Glaubensfragen. | |
Aber wenn wir uns in diesem Sinne grundsätzlich selbst wahrnehmen könnten, | |
dann vergrößert sich vielleicht die Basis für eine wechselseitige | |
Anerkennung der Erfahrungen und Deutungsmuster, die uns jeweils prägen. Und | |
womöglich fördert es auch unsere Fähigkeit, uns weniger befremdet und | |
zunehmend respektvoll über diese eigenen Deutungsmuster und deren Gründe | |
auszutauschen, also über das, was wir jeweils glauben und hoffen, worauf | |
wir vertrauen und was uns im Leben trägt. | |
Ich danke Michaela Grön und Udo Fleige für wichtige Hinweise und Kommentare | |
bei der Ausarbeitung dieses Textes. | |
9 May 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://www.marxists.org/deutsch/archiv/bebel/1874/02/christentum.html | |
[2] https://www.dorothee-soelle.de/ | |
[3] https://www.youtube.com/watch?v=ol6Zflg8mJw | |
[4] /Neue-Biografie-ueber-Walter-Benjamin/!5728844 | |
[5] /Theodor-W-Adornos-50-Todestag/!5611143 | |
[6] https://www.youtube.com/watch?v=npDU_Plntc4 | |
[7] https://www.zeit.de/2021/14/gott-vertrauen-religion-seelsorge-corona-krise-… | |
[8] https://www.youtube.com/watch?v=i5G0sD-Xn2c | |
[9] https://www.mpg.de/9331161/hans-joas | |
[10] https://www.vogue.de/beauty/artikel/baum-umarmen-waldtherapie-baumtherapie… | |
## AUTOREN | |
Matthias Nauerth | |
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