# taz.de -- Sommerliches Festival made in Berlin: Bewegung im Stillstand | |
> Anstelle der „Wassermusik“ bringt das HKW in diesem Jahr mit „20 Sunset… | |
> Künstler*innen aus Berlin zusammen. Das Programm kann sich sehen lassen. | |
Bild: Robert Lippok war am Samstagabend im Haus der Kulturen der Welt | |
Hach, wie schön, wieder auf der Dachterrasse des [1][Hauses der Kulturen | |
der Welt] zu sitzen, wie immer um diese Jahreszeit: ein bisschen | |
Kontinuität in seltsamen Zeiten. Normalerweise findet hier allsommerlich | |
die [2][Wassermusik] statt, ein Festival, das sich dadurch auszeichnet, | |
dass wechselnde regionale Schwerpunkte global interpretiert werden. | |
Letztes Jahr widmete man sich dem „Black Atlantic“, dieses Jahr wären die | |
Traditionen des Mississippi dran gewesen, aber das muss nun warten. Reisen | |
ist bekanntermaßen schwierig, für US-amerikanische Künstler gar unmöglich, | |
und sowieso ist lokal das neue Global. | |
Und so freut man sich diesmal eben an dem Gewässer, das hinter dem HKW | |
entlang fließt, und an dem Umstand, dass dieser interdisziplinär | |
aufgestellte Ort spontan ein Programm aus dem Ärmel geschüttelt hat, für | |
das niemand reisen musste, das sich aber sehen lassen kann. Die im Rahmen | |
der „[3][20 Sunsets]“ auftretenden Künstler sind allesamt in Berlin | |
beheimatet. | |
An den beiden vergangenen Wochenenden wurde da unter anderem arabischer Pop | |
neu interpretiert, von dem Violinisten Ashraf Kateb und seinen | |
Mitstreitern; Christian Naujoks sang sehnsuchtsvoll über verwaberte Tracks, | |
die irgendwo zwischen Neuer Musik und klassischem Songwriting angesiedelt | |
waren. | |
Die stets sehenswerte Musikerin [4][Mary Ocher] stellte ein paar neue Songs | |
vor – allerdings ohne Unterstützung von „Your Government“, den beiden | |
Schlagzeugern, mit denen sie oft auftritt. Es war ein vergleichsweise | |
leiser Auftritt, bei dem mehr als nur eine Prise Brecht-Weill in der Luft | |
lag. | |
Zum Ambiente passt das, denn bewegen darf man sich in diesem Jahr ja | |
allenfalls verhalten, Ekstase und Entgrenzung gilt es zu vermeiden. Auf den | |
Boden ist gesprüht, wo die Stühle zu stehen haben, einzeln und in | |
Zweiergruppen, und als jemand seinen Stuhl neben die beiden seiner Freunde | |
stellt, also eine Dreiergruppe bildet, guckt er sich tatsächlich ganz | |
verstohlen um. Auch sonst wirkt das Publikum recht popkonzertuntypisch. So | |
ist eher der Typus „älterer Museumsgänger“ hier vertreten, doch die Leute | |
lassen sich mitreißen. Große Dankbarkeit, dass überhaupt etwas passiert! | |
Ocher bestritt den musikalischen Eröffnungsabend zusammen mit der | |
Brasilianerin [5][Monica Besser], die sich doomsday-mäßig selbst als | |
„Troubadourin am Ende des Anthropozäns“ bezeichnet. Mit ihrem Pop, in dem | |
Música Popular Brasileira und Samba ebenso wie Tracy Chapman steckt, klang | |
sie jedoch eher sommerlich fluffig als endzeitlich. | |
Der darauf folgende Abend stand dann ganz im Zeichen der Instrumente. Im | |
Fall des Dänen Rolf Hansen eine sehr klar gespielte Gitarre, mit der ihm | |
ein Spagat zwischen minimalistisch und eklektizistisch gelingt; im Fall von | |
Stella Chiweshe – zur Hälfte ist die 74-Jährige in Berlin zu Hause, zur | |
Hälfte in Simbabwe – ist das die Mbira, einer Art Lamellofon. | |
## Ornithologen im Publikum | |
Dem traditionellen Instrument, das in ihrer Heimat von nur wenigen Frauen | |
gespielt wird – schon gar in den 1960ern, als Chiweshe in diese | |
Männerdomäne vorstieß –, entlockt sie Perkussives, Ambient und Minimal | |
Music. Und wenn sie nicht selbst singt, lässt sie das Publikum Vogelstimmen | |
imitieren. Es scheinen ein paar Ornithologen im Publikum zu sitzen: Das | |
Gezwitscher ist bemerkenswert vielfältig; hoffentlich löst das im | |
benachbarten Tiergarten keine Verwirrung aus. | |
Mehr Spannung zwischen Ambiente und Sound, mehr Verstörung im positiven | |
Sinne tat sich dann am vergangenen Samstag auf, als [6][Robert Lippok] | |
seinen avancierten Techno auf die Terrasse brachte. In dem stecken | |
Stillstand und Bewegung zugleich, im Museum funktioniert er wohl ebenso gut | |
wie auf der Tanzfläche. Lippoks Soloalbum „Applied Autonomy“ (2018) basiert | |
auf Skizzen, die für eine Club-Performance entstanden sind – und weckt | |
tatsächlich Sehnsüchte nach dunklen engen Räumen. | |
Wann man wohl da wieder Musik hören wird? Rätsel gibt auch das seltsame | |
Gestrüpp auf, das neben dem knöpfchendrehenden Lippok auf der Bühne steht | |
und das eigentlich wie ein Dekoelement wirkt. Allerdings scheint Lippok in | |
den Strauch manchmal hineinzugreifen. Täuscht der Schein oder dient das | |
Gewächs tatsächlich der Klangerzeugung? | |
Ausklingen tun die Sunset-Abende übrigens immer mit einem Film. Das | |
Programm ist in Zusammenarbeit mit dem Arsenal entstanden, hat Schwerpunkte | |
wie „Tiere beobachten“ oder „In die Wüste“ und bietet Filme, die vom | |
Crowdpleaser-Repertoire der Freiluftkinos weit entfernt sind. Und den | |
Auftakt zu den Wochenenden, über die man sich noch vier Wochen freuen darf, | |
macht donnerstags immer eine Lesung. | |
27 Jul 2020 | |
## LINKS | |
[1] https://www.hkw.de/de/index.php | |
[2] https://www.hkw.de/de/programm/projekte/2021/wassermusik_2021/start.php | |
[3] https://www.hkw.de/de/programm/projekte/2020/20_sunsets/start.php | |
[4] http://www.maryocher.com/ | |
[5] https://www.hkw.de/de/programm/projekte/veranstaltung/p_102854.php | |
[6] https://soundcloud.com/robert-lippok | |
## AUTOREN | |
Stephanie Grimm | |
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