# taz.de -- Sinti-Siedlung in Hamburg-Wilhelmsburg: Neustart nach 40 Jahren | |
> Anfang der 80er hat der Hamburger Senat eine Siedlung für Sinti | |
> errichtet. Danach schaute er weg. Jetzt will die Stadt die | |
> Mietverhältnisse ordnen. | |
Bild: Auf Asphalt lässt sich vieles anstellen, auch spielen: Hof am Georgswerd… | |
HAMBURG taz | Wer die Sinti-Siedlung in Hamburg-Wilhelmsburg besucht, wird | |
von einem Eisbären begrüßt, von Donald Duck und einer Art Weihnachtskapelle | |
mit Marienfigur und Rauschgoldengel. Diese Sachen und noch viel mehr | |
stehen auf dem Grundstück von [1][Emil Weiß, dem verstorbenen Patriarchen | |
der gleichnamigen Familie], die dort zu Hause ist. | |
Es ist ein Verwandtschaftsverband aus mehr als 40 Kleinfamilien, der dort | |
seit knapp 40 Jahren schaltet und waltet – eine kleine Welt am Ende einer | |
Stichstraße, in die sich nur selten ein Fremder verirrt. Die Stadt hat die | |
Siedlung zwar gemeinsam mit den Sinti geplant und dann gebaut, sich aber | |
nicht weiter groß drum gekümmert. | |
Das soll sich jetzt ändern: Die Autoschrauberei und der Gebrauchthandel | |
sollen aus dem Wohngebiet hinaus- und auf eine Gewerbefläche umziehen, zwei | |
Sperrmüllhalden sollen aufgelöst, die Mietverhältnisse geordnet werden. | |
Neue Orte für das Gemeinschaftsleben sind in Planung und ein Projekt, um | |
die Kinder besser an die Schule heranzuführen. | |
Der Mann, der die Aufgabe übernommen hat, das alles im Auftrag des | |
rot-grünen Hamburger Senats voranzutreiben, zu koordinieren und zu | |
vermitteln, heißt [2][Fouad Hamdan]. Er ist Referent für Bürgerbeteiligung | |
und Internationales bei der Stabsstelle Flüchtlinge und übergreifende | |
Aufgaben. Hamdan kann auf einen illustren Lebensweg zurückblicken: | |
Aufgewachsen im Libanon, war er dpa-Korrespondent im Nahen Osten, | |
Kommunikationschef von Greenpeace Deutschland und Gründungsdirektor der | |
Arabischen Menschenrechte-Stiftung in Beirut. | |
Als Mensch mit einem arabischen Elternteil könne er sich gut in die Sinti | |
hineinversetzen, sagt Hamdan. Sie seien ein ganz besonderer Schlag von | |
Menschen, von der Mentalität her vielleicht vergleichbar mit arabischen | |
Beduinen. Aufgrund ihrer schlechten Erfahrungen über Jahrhunderte | |
schotteten sie sich ab, was sie wiederum der Mehrheitsgesellschaft | |
entfremde und zu einer Art Teufelskreis führe. „Die größte Herausforderung | |
war, Vertrauen zu gewinnen“, sagt Hamdan. | |
Bei einem samstäglichen Besuch im Georgswerder Ring bildet sich schnell | |
eine Traube von Menschen um den Anfang-60-Jährigen und den Familienältesten | |
Oscar Weiß. Es gilt, Probleme zu lösen – vom geforderten Auszug, weil die | |
Wohnung zu groß ist für Hartz IV, weil unverständliche Formulare vom Amt | |
kamen oder auch nur, weil die Mülltonnen überquellen. Hamdan zeigt sich als | |
Kümmerer, verspricht hier etwas, vertröstet dort. | |
„Warten Sie auf die Antwort“, sagt er zu einer Frau, die mit einer blauen | |
Mappe zu ihm gekommen ist. „Und wenn Sie mit der Antwort nicht zufrieden | |
sind, kommen sie zu mir.“ Oft löse sich so was von selbst, sagt er noch | |
und: „Machen Sie sich keine Sorgen.“ | |
Als der Hamburger Senat 1980 unter Bürgermeister Hans-Ulrich Klose (SPD) | |
entschied, eine Siedlung für die [3][seit 300 Jahren in Hamburg ansässige] | |
Familie zu bauen, ging es darum, beschämenden Verhältnissen abzuhelfen. | |
Damals lebten die Familien in windschiefen Hütten, Caravans und | |
Schaustellerwagen zwischen einer Mülldeponie und einer Autobahnauffahrt. | |
Die Siedlung wurde nach Vorbildern in Köln und Freiburg geplant. | |
Einstöckige Häuser mit Garagen und Lagerflächen, im Kreis angeordnet und | |
mit einem Dorfplatz. Die Häuser sollten geräumige Wohnküchen haben und | |
unbedingt Kohleöfen. „Auf den Strom kann man sich doch nicht verlassen“, | |
sagte der damalige Sprecher der Familie, Fernando Weiß, dem Hamburger | |
Abendblatt. | |
Der CDU-Opposition waren die 13 Millionen Mark für die 42 Häuser zu teuer: | |
Auch eine Wiedergutmachung für das in der Nazizeit erlittene Unrecht | |
rechtfertige nicht eine so weitgehende Bevorzugung einer Gruppe, referierte | |
Die Zeit die damalige Position der Christdemokraten. | |
Und für die Nachbarn verband sich der Plan laut Hamburger Abendblatt mit | |
einem großen „Ja, aber …“. „Ich habe zwar nichts gegen Zigeuner, aber … | |
ist über unseren Kopf hinweg gehandelt worden“, beschwerte sich der Pächter | |
eines anliegenden Kleingartens auf der Anwohnerversammlung im März 1980. | |
„Ich wohne hier seit über 40 Jahren in einer Siedlung mit Kübeltoilette“, | |
beklagte sich ein Nachbar. „Die Zigeuner bekommen ein WC.“ Andere | |
befürchteten Messerstechereien zwischen Sinti und Türken. Und ein | |
Schulleiter verbreitete die Einschätzung: „Schulklassen mit Zigeunerkindern | |
sind nach kurzer Zeit nicht mehr zu unterrichten.“ | |
Der Senat ließ sich davon nicht beeindrucken: Die Stadt tue gut daran, die | |
menschenunwürdige Wohnsituation der Sinti zu verbessern, sagte Bausenator | |
Volker Lange (SPD), und auf dem Gelände des Sportvereins Vorwärts Ost | |
konnte schnell gebaut werden. Die Häuser wurden von dem städtischen | |
Wohnungsbauunternehmen Saga errichtet, an das Bezirksamt vermietet und von | |
diesem an die Sinti-Familien untervermietet. „Für uns ist das Ganze auch | |
ein Experiment“, sagte der Wilhelmsburger Ortsamtsleiter Bernhard Dey | |
anlässlich des Richtfestes. | |
Wohl nicht zuletzt deshalb sollte ein Sozialarbeiter die Siedlung betreuen, | |
doch der strich bald die Segel. Einen Nachfolger gab es nicht. Im damals | |
verantwortlichen Bezirk Harburg wollte sich Anfang der 80er-Jahre offenbar | |
niemand mit den Sinti befassen. „Es ist nichts gemacht worden“, sagt das | |
jetzige Familienoberhaupt Oscar Weiß. Die Bewohner seien sich selbst | |
überlassen worden. | |
Aus dem Blickfeld zu sein hatte Vor- und Nachteile, die in der Siedlung zu | |
besichtigen sind. Zwar kümmerte sich die Saga durchaus um die Häuser, ließ | |
die Bewohner aber gewähren. Die Menschen eigneten sich die Häuser so an, | |
wie sie sie brauchten. Manche versahen die Garagen mit Fenstern und | |
funktionierten sie zu Wohnräumen um. Sie stellten ihre Schrauberautos in | |
die Gärten und breiteten sich mit ihren Schuppen und Stellplätzen auf den | |
öffentlichen Grünflächen aus. | |
## Es muss etwas geschehen | |
Dazu gehört auch ein Berg aus Sperrmüll hinter einem Bauzaun mit dem Schild | |
„Betreten der Baustelle verboten“. Hier liegt alles Mögliche, vom | |
Spielzeugtrecker über das Sofa bis zur Stoßstange und zum Plastiktank. Eine | |
Einfahrt weiter gibt es eine ähnliche Müllhalde. Hier stehen die Reste | |
eines Schuppens, in dem Emil Weiß einmal die Pferde hielt, mit denen er | |
handelte. Nebenan renoviert eine junger Mann sein Haus und lässt sich einen | |
riesigen Hof pflastern. | |
Das mit der Siedlung etwas geschehen muss, darüber scheinen sich alle | |
Beteiligten einig zu sein. „Die Menschen haben eingesehen, dass von beiden | |
Seiten etwas getan werden sollte“, sagt Matthäus Weiß. Er ist | |
Landesvorsitzender des Verbandes der deutschen Sinti und Roma in | |
Schleswig-Holstein, hat selbst in der Siedlung gewohnt und hilft, zwischen | |
den Bewohnern und den Behörden zu vermitteln. | |
Eigenmächtigkeiten wie die Sache mit den Bodenschwellen auf der kleinen | |
Ringstraße soll es in Zukunft nicht mehr geben. Die Anwohner haben sie | |
errichtet, um ihre Kinder zu schützen. „Da ist einer mit dem Porsche | |
durchgebrettert“, erinnert sich Weiß. Er könne froh sein, keine Beulen | |
bekommen zu haben. | |
Für die Zukunft erwarte er, „dass man sich mit den Menschen unterhält“, | |
sagt Weiß. Es gehe darum, sich um den Bestand neu zu kümmern – mit den | |
Bewohnern zusammen. Dafür soll die Siedlung an einen städtischen Träger mit | |
sozialarbeiterischen Kompetenzen übertragen werden. Wenn Fouad Hamdan die | |
Sanierung erst mal aufs Gleis gesetzt hat, soll es einen ständigen | |
Quartiersmanager als Ansprechpartner geben. | |
„Wir haben lange an der Job Description gefeilt“, erzählt Hamdan amüsiert. | |
Gefordert seien „starke Nerven, Humor, Toleranz und graue Haare“. Letztere | |
hat er selbst, sie sind ein Hinweis auf die Autorität des Alters, die unter | |
Sinti etwas gilt. | |
Statt dass die Mieter die Wohnungen untereinander weiterreichen, soll das | |
in Zukunft wieder über die Eigentümerin laufen. Umbauten müssen genehmigt | |
werden. Der Handel mit Schrott, Torf, alten Autos und Möbeln soll auf die | |
noch zu räumende Gewerbefläche nebenan umziehen und Sperrmüll korrekt | |
entsorgt werden. | |
## Stadt saniert Wohnungen | |
Im Gegenzug saniert die Stadt die Wohnungen und legalisiert die Umbauten, | |
soweit das möglich ist. Sie richtet die Grünflächen her und das kleine | |
Gewerbeareal. Auch ein Ort für kulturelle Veranstaltungen solle dort | |
entstehen, sagt Hamdan. | |
Angegangen werden soll auch das Problem der Schulschwänzerei. | |
Mutter-und-Kind-Klassen für die beiden ersten Jahrgangsstufen der | |
benachbarten [4][Grundschule Rahmwerder Straße] sollen helfen, die Kinder | |
an die Schule heranzuführen. Das ist nötig, weil Sinti mit | |
Diskriminierungen und Hänseleien rechnen. „Es kommt immer noch vor, dass | |
Leute sagen: Geht in euer Land“, ärgert sich Matthäus Weiß. „Solange wir | |
Musik machen, ist jeder bereit, zu uns zu kommen, aber sobald die Musik | |
endet, ist das vorbei.“ | |
Die neuen Mietverträge für die Familien enthalten eine Präambel, die | |
betont, dass die Siedlung als symbolische Wiedergutmachung für den | |
Völkermord an den Sinti und Roma durch Nazi-Deutschland gedacht war. „Das | |
hat ihre Herzen geöffnet“, sagt Fouad Hamdan. | |
2 Apr 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Ein-Besuch-bei-einer-Sinti-Musiker-Familie-aus-Wilhelmsburg/!5124333 | |
[2] http://www.fouadhamdan.org/ | |
[3] /Suche-nach-Erinnerung/!5069577 | |
[4] https://elbinselschule.hamburg.de/2019/03/28/schulstandort-rahmwerder-stras… | |
## AUTOREN | |
Gernot Knödler | |
## TAGS | |
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