# taz.de -- Ein Besuch bei einer Sinti-Musiker-Familie aus Wilhelmsburg: Die Er… | |
> Die Hamburger Linie der berühmten Musikerfamilie Weiss wohnt in einer | |
> Siedlung in Wilhelmsburg. Sie hat dort sogar eine eigene Kirche: die | |
> "Gemeinde der Geborgenheit". Der junge Saxofonist Kako Weiss erzählt, wie | |
> er aus der Familientradition ausbrach - und wie er reumütig zu ihr | |
> zurückkehrte. | |
Bild: Kako Weiss spielt mit seinen Onkeln beim Elbinsel-Gipsyfestival. | |
HAMBURG taz | Wenn sich ein Musikwissenschaftler die Fleißarbeit machen | |
würde, Musiker-Namen in der Reihenfolge ihrer Häufigkeit auf eine Liste zu | |
setzen - dann würde gleich hinter Reinhardt der Name Weiss auftauchen. | |
Und in den meisten Fällen würde die Qualität dieser Musiker die | |
Top-Platzierung rechtfertigen - so auch am Wochenende auf dem | |
Elbinsel-Gipsyfestival, bei dem die Hamburger Familie Weiss zum dritten Mal | |
im Bürgerhaus Wilhelmsburg auftrat. | |
"Ein Sinto darf tanzen, malen oder Musik machen", erzählt Kako Weiss ein | |
paar Tage vor dem Festival im Haus seines Vaters Goldi Weiss. " Aber wenn | |
er einen vernünftigen Job haben will, dann hat er es schwierig." Der | |
29-jährige Saxofonist hat das erst gar nicht versucht, sondern gleich eine | |
Musiker-Karriere eingeschlagen - und es nicht bereut. | |
"Ich kann mir keine andere Arbeit vorstellen", sagt Kako Weiss. Er trat als | |
Gastmusiker mit Rock-n-Roll-Legenden wie Lee Curtis oder The Comets auf und | |
mischt auch in der Hamburger Hip-Hop-Szene mit, erst kürzlich in einem | |
Konzert mit dem Rapper "Das Bo". | |
Einige Jahre hat es Kako genossen, der Enge der familiären Traditionen zu | |
entfliehen. "Ich war so ein Typ, der froh war, wenn er weg war. ,Ich brauch | |
das hier alles gar nicht', habe ich mir gesagt. Am Anfang war ich nur mit | |
Nicht-Zigeunern unterwegs." Doch irgendwann, nach einer dreimonatigen | |
Tournee, packte ihn das Heimweh. "Ich fühlte mich allein. Mir fehlte unsere | |
Sprache und die Geborgenheit." | |
Da ist es zum ersten Mal, dieses Wort, dass einem auf Schritt und Tritt | |
begegnet, wenn man die Sinti-Siedlung in Georgswerder besucht: | |
Geborgenheit. Gut 500 Menschen leben in den 44 Reihenhäusern am | |
Georgswerder Ring, die 1982 für die Hamburger Sinti gebaut wurden, nachdem | |
ihr alter Wohnplatz einer Tankstelle weichen musste. | |
Die allermeisten von ihnen heißen Weiss. Kako wohnt mit seiner Frau und den | |
beiden Kindern ein paar Meter weiter am Deich. In der Siedlung sei kein | |
Platz mehr gewesen, sagt er. | |
"Hier erlebe ich eine Geborgenheit, die mich sicher macht", sagt Kako. Von | |
früh auf war jeder Schritt nach draußen mit Ängsten belegt, vor allem der | |
in die Schule: "Wenn meine Eltern gegangen sind, wurde ich panisch. Das ist | |
so ein Unwohlsein. Da war die Geborgenheit nicht mehr da, das Umhüllte." | |
Kako wurde früh in die Sonderschule gesteckt, obwohl er nicht blöd war. "Da | |
bin ich verblödet, weil das alles unter meinem Niveau war", sagt er. Als er | |
in der 7. Klasse weg blieb, hat das keinen interessiert. Jahre später hat | |
er auf dem Konservatorium Musik studiert. | |
Als er genug von den großen Bühnen hatte, tat Kako sich mit seinen Cousins | |
zusammen und machte die Musik, die die Weiss und Reinhardts dieser Welt in | |
die Wiege gelegt bekommen: den Swing von Django Reinhardt - jenes Belgiers, | |
der nach dem Verlust zweier Finger einen Stil kreierte, der die europäische | |
Musikgeschichte revolutionierte. | |
"Da stand ich plötzlich auf dem Straßenfest", erinnert sich Kako. Mit den | |
Musikern seiner Familie und dem Gitarristen Clemens Rating gründete er das | |
Café Royal Salon Orchester, das den Django-Reinhardt-Swing um ungarischen | |
Csárdás und Wiener Kaffeehaus-Musik erweitert. "Das hatte dann wieder | |
richtig Qualität, die Crème de la Crème der Musikstile." | |
Als das Café Royal Salon Orchester das Gipsy-Festival im Bürgerhaus | |
Wilhelmsburg eröffnet, ist die halbe Siedlung herübergekommen, um die | |
musikalischen Aushängeschilder der Familie zu bejubeln. Die jungen Frauen | |
und Mädchen richten ihre Blicke hauptsächlich auf Kako, der neben seinen | |
drei Onkels Pello, Bummel und Baro Kako an den Geigen und dem Akkordeon mit | |
seinen Saxophon-Soli bezaubert. | |
Am lautesten klatscht sein Vater Goldi, der Vorsitzende des Sinti-Vereins, | |
der sich besonders schick gemacht hat und dessen stattlicher Schnurrbart | |
sich vor Stolz besonders weit aufzurichten scheint. | |
Für Kako folgt der Höhepunkt aber erst am nächsten Tag, als er den | |
allerersten Auftritt mit seiner eigenen Band hat. Mit der bewegt er sich | |
wieder etwas raus aus der Tradition und verbindet sie mit zeitgenössischem | |
Jazz. "Ich bin sehr zufrieden. Mit der Band kann es jetzt wieder richtig | |
losgehen", sagt er einen Tag nach dem Auftritt müde. | |
Es ist Sonntag, und als einer unter vielen steht er jetzt unter den | |
Familienmitgliedern, die wie jeden Sonntag um kurz vor 19 Uhr ihre Häuser | |
verlassen und auf die rote Blockhütte in der Mitte der Siedlung zugehen. | |
"Hütte der Geborgenheit", steht an einer Tafel über dem Eingang, gleich | |
beginnt der Gottesdienst der "Gemeinde der Geborgenheit". Die meisten Sinti | |
und Roma sind katholisch - die Familie Weiss aber ist evangelisch. | |
Wie es dazu kam, erzählt vor dem Gottesdienst der 83-jährige Emil Weiss, | |
der Älteste der Siedlung. Wer sein Haus, das erste am Ring, betritt, kommt | |
an einem Spalier voller Porzellanfiguren, Glasleuchter, Gemälden und | |
sonstigem Trödel vorbei, den der Antiquitätenhändler im Laufe seines Lebens | |
angesammelt hat. | |
Dazwischen ein selbst gebauter chinesischer Tempel und eine | |
Weihnachtskrippe mit allen biblisch überlieferten Utensilien. Im Wohnzimmer | |
geht der Museumsbesuch zwischen unzähligen Gläser, Figürchen und | |
Heiligenfiguren weiter. | |
"Unsere Familie lebt seit 160 Jahren in Hamburg", erzählt Emil Weiss mit | |
einem verschmitzten Unterton. "In der Zeit sind wir von Harburg nach | |
Wilhelmsburg gekommen, das hätte eine Schnecke auch geschafft." In dieser | |
langen Zeit gibt es eine Nacht, die bis heute jedes Kind der Familie Weiss | |
als Erweckungserlebnis kennt: die Nacht der großen Hamburger Sturmflut vom | |
16. zum 17. Februar 1962. | |
Mit etwas erhobener Stimmer erzählt Emil Weiss, wie sich das Unheil | |
ankündigte, wie die meisten Mitglieder der Familie, die damals ihren | |
Wohnplatz an der Elbbrücke hatte, in der nahen Schule Unterschlupf fanden, | |
wie er selbst sieben Menschen das Leben rettete, wie sein Vater mit | |
Innensenator Helmut Schmidt, der mit einem britischen Hubschrauber | |
angeflogen kam, die Evakuierung der Eingeschlossenen besprach und von dem | |
Wunder, das sich ihnen offenbarte, als sie zu ihren Wagen zurückkehrten: Um | |
sie herum war alles von den Fluten weggespült. "Aber von unseren Wagen | |
fehlte nicht mal eine Deichsel." | |
Schon vorher hatte die Familie immer Besuch von einer evangelischen | |
Missionarin bekommen, der Schwester Wehl. Die war mit ihren | |
Bekehrungsversuchen bis zur Nacht der Sturmflut auf unüberbrückbare | |
Widerstände gestoßen. Nun brachen die religiösen Dämme - und die geretteten | |
Sinti wechselten zum evangelischen Glauben. Die "Gemeinde der Geborgenheit" | |
entstand. | |
Die mittlerweile 91-jährige Gertrud Wehl besucht den Gottesdienst in der | |
Sinti-Siedlung immer noch regelmäßig. Am Sonntagabend ist sie nicht unter | |
Gemeindemitgliedern in der gut besuchten Hütte, dafür ein Gast-Pastor, der | |
eine recht wacklige Brücke vom Atom-Unfall in Japan zur Hamburger Sturmflut | |
schlägt. Beides seien Erweckungserlebnisse, die zur Umkehr mahnten. | |
"Heute gings mal um die Weltpolitik", sagt Emil Weiss auf dem Weg nach | |
draußen. "Sonst haben wir andere Themen." Kako ist nicht mehr da. Man wird | |
ihn wiedersehen - auf einer großen Bühne. | |
21 Mar 2011 | |
## AUTOREN | |
Ralf Lorenzen | |
## TAGS | |
Sinti und Roma | |
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