# taz.de -- Serien-Award auf der Berlinale: Vielfältige Landschaften | |
> „Der Schwarm“ sollte Star der Seriensektion auf dem Festival sein. | |
> Stattdessen gewann nun die Mafiaserie „The Good Mothers“ den ersten | |
> Award. | |
Bild: Valentina Bellè in „The Good Mothers“ | |
Ein Star soll bei jeder Berlinale dabei sein. Gemeint ist damit keine | |
prominente Person, sondern eine Prestigeserie, mit der sich das Festival | |
schmücken kann. Große deutsche Produktionen wie „Freud“ oder „Bad Banks… | |
aber auch internationale Serien wie „Better Call Saul“ feierten beim | |
Berliner Festival ihre Weltpremiere. In diesem Jahr gab es Interesse an der | |
[1][postapokalyptischen Dramaserie „The Last of Us“], wie die Kuratorin der | |
Sektion, Julia Fidel, in einem Interview verriet – doch die | |
Computerspiel-Adaption ging zwei Monate zu früh an den Start. Stattdessen | |
lief am Eröffnungsabend wieder mal eine [2][deutsche Co-Produktion: „Der | |
Schwarm“.] | |
Mit dieser Auswahl scheint sich die Berlinale keinen Gefallen getan zu | |
haben, denn nicht nur Frank Schätzing, auf dessen Buch die ZDF-Serie | |
basiert, ist mit dem Achtteiler unzufrieden, auch die Medienkritiken fielen | |
nach der Premiere am Sonntagabend negativ aus. Der MDR spricht von einer | |
„misslungenen Verfilmung“, die Berliner Zeitung schrieb von einer | |
„Katastrophe mit Ansage“ und die Süddeutsche überschreibt ihre Rezension | |
einfach nur mit „Der Schmarrn“. | |
Und sie haben recht: Wenig gelungene Computeranimationen stören die | |
Bildkompositionen, platte Dialoge verkitschen die komplexe Geschichte und | |
lassen aus der bislang teuersten deutschen Produktion leider eine | |
Enttäuschung werden. | |
Wenn auch aus anderen Gründen, ist es wohl eine kluge Entscheidung gewesen, | |
dass „Der Schwarm“ nicht um den Berlin Series Award konkurrierte, der in | |
diesem Jahr erstmalig vergeben wurde. Sieben Serien aus Ländern wie | |
Rumänien, Norwegen oder China waren im Rennen um den Preis, der am | |
Mittwochabend im Zoo Palast in Berlin-Charlottenburg überreicht wurde. Und | |
unter den Kandidat*innen versteckten sich einige Stars. | |
## Serienlandschaft immer vielfältiger | |
Im Hinblick auf Genre, Erzählart und Thema unterschieden sie sich stark – | |
möchte man also einen Trend aus der Auswahl ablesen, dann kann man nur den | |
erkennen, dass die Serienlandschaft nicht immer konformer, sondern immer | |
vielfältiger wird. | |
Die extreme Spannbreite lässt sich an zwei gezeigten Serien verdeutlichen. | |
Die Geschichte der chinesischen Serie „Why Try To Change Me“ ist in der | |
Industriestadt Shenyang im Nordosten Chinas in den 90er Jahren angesiedelt. | |
Während Dezeng Zhuang (Baoshi Dong) seinen Alltag mit der Arbeit in einer | |
Zigarettenfabrik füllt, flüchtet sich seine Frau Dongxin Fu (Qing Hai) | |
lieber in die Welt der Literatur. Probleme macht ihnen das fehlende Geld | |
und ihr Sohn Shu (Zijian Dong), der den strengen Erwartungen der | |
Erwachsenenwelt nicht standhalten kann. | |
So plätschert die Erzählung die erste Stunde vor sich hin: Eine Fahrt mit | |
dem Fahrrad, eine Melone wird gekauft und gegessen, ein Kind lutscht an | |
einem Eis, ein Junge guckt Fernsehen und knackt Sonnenblumenkerne, die | |
Schalen stapeln sich auf dem kleinen Tisch. Der Vater arbeitet, die Mutter | |
liest, auf der Straße singt jemand Karaoke. Kurz vor Ende der ersten Folge | |
ändert sich die Stimmung, ein Mord passiert. Der Brauereileiter und seine | |
Frau werden in ihrer Wohnung getötet. Kurz darauf wird ein Taxifahrer in | |
seinem Auto angezündet. Und kurz nach den Tötungen ist Shu immer nicht | |
weit. | |
Doch die Kriminalgeschichte scheint nur der Rahmen zu sein, um vom Wandel | |
Chinas zu erzählen. So richtig klar ist nach zwei Episoden noch nicht, | |
wohin die Geschichte möchte. Klar ist nur: Hier lässt sich jemand Zeit beim | |
Erzählen. Es ist nur schwer vorstellbar, dass ein deutscher Sender oder | |
Streaminganbieter die Serie von Yo Gong, Xiaohui Wang und Dalei Zhang in | |
sein Programm nimmt. Allein die Langsamkeit der Erzählung geht gegen den | |
Geschmack des großen Publikums und 90-minütige Episoden sind auf dem | |
hiesigen Markt auch ungewöhnlich. Was für einige eine poetische Erzählung | |
ist, werden andere schlicht langweilig finden. Doch auch dafür ist die | |
Berlinale ja da – um den Blick zu weiten. | |
## Apartments in Tiefgaragen | |
Die norwegische Gesellschaftssatire „Arkitekten“ ist mit 75 Minuten in | |
Gänze kürzer als nur eine Folge der chinesischen Serie. Im Oslo der nahen | |
Zukunft sind Schaufensterpuppen echte Menschen, Nachrichten werden per | |
Drohne übermittelt – und Wohnungen in der Stadt [3][kann sich kaum eine*r | |
mehr leisten]. Während einige sich absichtlich Stichverletzungen zufügen, | |
um von dem Schmerzensgeld der Krankenversicherung ihre Miete zahlen zu | |
können, ziehen andere in Parkhäuser. Da die Innenstadt eh autofrei ist, | |
braucht auch niemand mehr Parkplätze. | |
Die Architektin und Dauerpraktikantin Julie (Eilie Harboe) entwickelt ein | |
Konzept für Mini-Appartements in Tiefgaragen. „In Berlin leben schon viele | |
Menschen in Parkhäusern“, pitcht sie ihre Idee bei interessierten | |
Geldgebern. Die drängenden gesellschaftlichen Probleme unserer Zeit werden | |
in dieser Serie so messerscharf auf die Spitze getrieben, dass einem | |
abwechselnd das Lachen im Hals stecken bleibt oder Tränen in die Augen | |
treiben. | |
Comedyserien waren bei der Berlinale bislang eher Mangelware. In diesem | |
Jahr war mit der dänischen Miniserie „Agent“ gleich noch eine zweite im | |
Programm. Darin versucht Johan (Esben Smed) gleichzeitig die Probleme | |
seiner Familie und seiner Film- und Musikklienten zu lösen. Durchaus | |
unterhaltsam, aber hier sind die Jokes leider teilweise etwas erwartbar. | |
Gewonnen hat keine der witzigen Serien. Stattdessen entschied sich die | |
dreiköpfige Jury aus der dänischen Serienschöpferin Mette Heeno, dem | |
US-Schauspieler André Holland und der israelischen Produzentin Danna Stern | |
für die italienisch-britische Mafiaserie „The Good Mothers“. Die | |
Disney+-Produktion, die ab dem 5. April beim Streamingdienst zu sehen | |
ist, basiert wie die Hälfte der gezeigten Serien ebenfalls auf einem Roman. | |
Sie erzählt von drei Frauen, die in die reichsten Mafiafamilien geboren | |
wurden und sich gemeinsam mit einer Staatsanwältin zusammentun, um das | |
System von innen zu zerstören. | |
## „Ultrarealistischer Eindruck“ | |
Der Sechsteiler setzt auf atmosphärische Bilder, die einem noch lange im | |
Kopf bleiben, und kostet die Vorzüge des seriellen Erzählens voll aus. Die | |
Geschichten der drei Frauen, die sich gegen die Unterdrückung wehren, | |
werden gekonnt miteinander verwoben. Und die Widerstände, mit der alle | |
Frauen in dieser Serie konfrontiert sind, werden nach und nach deutlicher. | |
Während die Staatsanwältin erst einmal ihre Behörde davon überzeugen muss, | |
dass [4][der Kampf gegen die ’Ndrangheta] am besten über die Frauen | |
funktioniert, müssen sich die anderen gegen ihre eigene Familie stellen, um | |
sich selbst und ihre Kinder zu schützen. | |
Die Jury begründet ihre Entscheidung mit dem „ultrarealistischen Eindruck“, | |
den die Serie durch Kameraführung, Szenenbild und Schauplätze bekommt. Dass | |
die Macher*innen auf Hyperrealismus anstatt auf Übertreibung setzen, ist | |
einerseits angemessen, da die Geschichte auf wahre Begebenheiten und | |
Figuren setzt. Andererseits ist es gerade dieser Realismus, der einen Szene | |
für Szene schaudern lässt. | |
## Zwischen düster und humorvoll | |
Das Kämpferische aus „The Good Mothers“ lässt sich auch in den anderen | |
Serien wiederfinden. Im australischen „Bad Behaviour“ kämpfen Mädchen in | |
einem Art Survival-Internat um Zugehörigkeiten und suchen nach Identität. | |
„Dahaad“ – eine Produktion aus Indien – gibt einer Kriminalgeschichte, … | |
der eine Reihe von Frauen getötet wird, eine gesellschaftskritische | |
Dimension. Und in der HBO-Produktion „Spy/Master“ wird wieder einmal eine | |
Spionagegeschichte aus dem Kalten Krieg erzählt – dieses Mal aus Rumänien | |
statt aus Moskau. | |
Zwischen düster und humorvoll war bei der diesjährigen Serienauswahl alles | |
dabei – und man kann sich nur wünschen, dass die Serien auch auf dem | |
deutschen Markt ihren Platz und damit ein noch größeres Publikum finden. | |
Die Seriensektion – in den ersten Jahren noch etwas belächelt auf der | |
Berlinale – hat mittlerweile ihren Platz bei dem Festival gefunden. Der | |
neue Award hat seinen Beitrag dazu geleistet. | |
24 Feb 2023 | |
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[1] /HBO-Serie-The-Last-of-Us/!5907466 | |
[2] /ZDF-Serie-Der-Schwarm/!5914052 | |
[3] /Debatte-Wohnungsnot-in-Grossstaedten/!5547127 | |
[4] /Kampf-gegen-die-Ndrangheta/!5646986 | |
## AUTOREN | |
Carolina Schwarz | |
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