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# taz.de -- Dokumentarfilme über die Ukraine: Pünktlicher Bus trotz Beschuss
> Die Dokfilme „In Ukraine“ und „Iron Butterflies“ laufen auf der
> Berlinale. Sie zeigen den prekären Alltag in der Ukraine – auf
> unterschiedliche Weise.
Bild: Mit Waffen spielende Kinder: Alltag im Ukrainekrieg
Coming-of-Age-Storys lassen sich am besten mit Color-Grading erzählen.
Satte, sanfte Farben, die die unerträgliche Leichtigkeit des Sommers
abbilden, gibt es auch „In Ukraine“, dem Dokumentarfilm von Piotr Pawlus
und Tomasz Wolski, der einfühlsam eine Reise durch das kriegsgebeutelte
Land zeigt. Zwei Kinder, die schlingernd Fahrrad fahren, ohne Eile; das
Bild ist fast universell lesbar, doch in der Ukraine umfahren die beiden
geübt einen liegengebliebenen russischen Panzer.
„In Ukraine“ kündet von Alltag im Krieg. Sinnbildlich steht im Film dafür
die Scheibe einer Bushaltestelle, durchschossen und zerkratzt, hinter der
Menschen mit Einkaufstaschen warten; der Bus kommt unglaublicherweise auch
zu Kriegszeiten pünktlich.
Aufnahmen von verlassenen Dörfern, die Bewohner sind längst geflohen, doch
Hunde streifen weiterhin durch die Straßen. Während die Mischlinge sich
schnell anzupassen scheinen, tun sich zurückgelassene Zucht- oder
Rassehunde schwer damit, um die knappe Nahrung zu kämpfen. Auch für die
Menschen sind Lebensmittel rationiert. Kraftlos streitet man sich um
Cornflakes und Babynahrung.
## Aufbauen, wegbomben, wieder aufbauen
Zu richtigem Streit wächst sich der Zank jedoch nicht aus; dass die
Essenausgabe funktionieren muss, ist unausgesprochenes Gesetz in dieser
neuen Realität. Man staunt in „In Ukraine“ immer wieder über die Menschen,
die mitten im Krieg Aufräumarbeiten leisten, wieder aufbauen, was schon
wenige Wochen später wieder in Schutt und Asche gebombt sein könnte.
Dass der Krieg mitnichten vorbei ist, wird immer wieder spürbar durch
Bombenalarm, durch Straßensperren, bei denen nicht nur eine Pass-, sondern
auch eine Sprachkontrolle durchgeführt wird: Passieren darf nur, wer sich
durch eine bestimmte Aussprache als Ukrainer:in ausweist. Zur neuen
Realität in der Ukraine gehört auch die stete Präsenz von Menschen in
Militärkleidung, die, in den besetzten Gebieten und auf der Krim schon seit
Jahren Alltag, mit Kalaschnikows unterwegs sind.
Das AK-47 wurde 1946 entwickelt, die Smartwatch, die eine Soldatin am Arm
trägt, bringt das Absurde, Anachronistische dieses Krieges auf den Punkt.
Auch Kinder tragen heute in der Ukraine mitunter Militärkleidung, ist im
Film zu sehen, statt mit Spielzeugpistolen schießen sie mit echten
Gewehren, ohne Munition. Spielplätze, so sieht man auch, bleiben indes
meistens leer.
## Abschuss von MH-17
Wie schnell sich der Mensch an neue Verhältnisse anpasst, ist auch der
Umstand, der in „Iron Butterflies“ am meisten erschreckt. Roman Liubyi
versucht in dem als essayistisch zu klassifizierenden Film den Nebel um den
Abschuss der Malaysia-Airlines-Maschine MH-17 zu Beginn des Krieges in der
Ostukraine 2014 zu lichten. Das Passagierflugzeug sei „wunderschön
gefallen“, hören wir zwei Kinder sagen, die die Streitkräfte der
Volksrepublik Donezk zu ihrem Treffer beglückwünschen.
Neue Zeiten schaffen neue Helden: In Russland stellt kurz darauf ein
Möbelhersteller ein Kinderbett her, das die Form eines
Boden-Luft-Lenkwaffensystems Typ BUK hat. Genau um dieses BUK kreist der
Film, denn die MH-17 stürzte ab, nachdem eine BUK-Rakete direkt über ihr
explodierte.
Russland weist die Schuld für den Abschuss von sich, über Luftabwehrraketen
dieser Art verfügten die separatistischen Streitkräfte der Ostukraine
nicht, heißt es richtigerweise. Dass das BUK im Vorfeld über die Grenze in
die Ukraine und später wieder zurück nach Russland transportiert wurde,
belegen in „Iron Butterflies“ zahlreiche Bild- und Videoaufnahmen. Zu sehen
sind Fotos des mobilen Flugabwehrsystems, das ukrainische Ortsschilder
passiert, Menschen fotografieren sich vor dem riesigen Fahrzeug, stellen
die Fotos ins Netz.
## Indizien, aber keine Beweise
Auch Tonaufnahmen, ein Gespräch über den geplanten und schließlich
durchgeführten BUK-Transport, sollen die Schuld Russlands belegen. Als
Beweis können die zumindest im Film jedoch nicht gelten, führt Regisseur
Liubyi doch weder aus, wer auf den Aufnahmen zu hören ist, noch, woher
diese stammen.
Überhaupt gibt es in „Iron Butterflies“ zu wenig Quellen, als dass er als
Dokumentarfilm gelten könnte. Das will er aber auch nicht sein, immer
wieder sind choreografierte Tanzszenen zwischen die Filmsequenzen
geschnitten, mit denen sich Liubyi allerdings keinen Gefallen getan hat. Zu
fremdartig wirken sie neben den Aufnahmen aus Gerichten und vom Absturzort.
Lohnenswert ist der Film jedoch in seiner Nachzeichnung der russischen
Narrativentwicklung. Während die Donezker Streitkräfte erst vermeldeten,
ein Flugzeug der ukrainischen Armee vom Himmel geholt zu haben, hieß es
kurze Zeit später, ukrainische Streitkräfte hätten die nun als
Zivilflugzeug ausgewiesene Maschine abgeschossen.
## Wenn die TV-Wahrsagerin Zweifel äußert
Russische Talkshows, in denen der von einer niederländischen
Untersuchungskommission ermittelte Absturzhergang vermeintlich neutral
diskutiert wurde, werden eingeblendet, auch eine Wahrsagerin, die im
russischen Fernsehen Zweifel an der offiziellen, westlichen Schilderung
äußert, ist zu sehen.
Anzurechnen ist dem ukrainischen Film- und Produktionsteam dabei, dass sie
die russischen Erklärungsversuche nicht ins Lächerliche ziehen, nicht
hämisch sind gegenüber den immer schwerer nachzuvollziehenden Theorien.
Selbst die eingeblendeten Selfies, die stolze Separatist:innen vor den
Trümmern der Maschine machen, in denen 298 Menschen, darunter 80 Kinder,
den Tod fanden, sollen, aneinander collagiert, nicht den Hass auf
Russ:innen schüren, sondern sind schlicht als Ausdruck von Kriegslogik zu
lesen; mit Trophäen posieren Soldaten seit jeher.
Wer sich für den Abschuss letztlich verantworten muss, ist auch sieben
Jahre später noch unklar. Zu lebenslanger Haft verurteilt wurden im
November in Abwesenheit zwei russische und ein ukrainischer Staatsbürger.
Bis jetzt befinden sie sich in Freiheit in Russland.
23 Feb 2023
## AUTOREN
Julia Hubernagel
## TAGS
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Ukraine
MH 17
Dokumentarfilm
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Spielfilm
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