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# taz.de -- Schwester von Opfer über Femizid: Eine Sprache für Gefahr
> Cristina Rivera Garza setzt in dem Buch „Lilianas unvergänglicher Sommer“
> ihrer Schwester ein Denkmal. Die wurde in Mexiko von ihrem Partner
> ermordet.
Bild: Aufklärungsquote drei Prozent: Autorin Cristina Rivera Garza
Am 16. Juli 1990 wurde die Schwester von Cristina Rivera Garza von ihrem
ehemaligen Freund ermordet. In ihrer Wohnung in Mexiko-Stadt hatte Ángel
González Ramos die 20-jährige Architekturstudentin mit einem Kissen
erstickt. Bei den Ermittlungen suggerierte die Polizei der Familie, Liliana
sei selbst schuld an ihrem Tod.
„Bitte frag mich nicht“, sagt ihr Vater, als Cristina Rivera Garza ihn für
ihr Buch „Lilianas unvergänglicher Sommer“ um seine Erinnerungen an die
damalige Zeit bittet. „Die Worte, die die Polizisten benutzt haben, um das
Leben und den Körper unserer Tochter zu beschreiben, beschmutzen sie. Ich
werde es nicht wiederholen.“ Zwar gibt es eine Fahndung nach Gonzáles und
die Tageszeitung La Prensa veröffentlicht seinen Namen und sein Foto; aber
bis heute ist er auf der Flucht und konnte sich Polizei und Justiz
entziehen.
Ángel und Liliana waren schon während ihrer Schulzeit ein Paar; und schon
während der Schulzeit, im Juli 1987, hatten sie sich das erste Mal
getrennt. „Ich habe sie zufällig im Park bei uns gegenüber getroffen“,
erzählt Lilianas Mutter. „Sie brachte kein einziges Wort heraus vor lauter
Schluchzen, das brach mir das Herz.“ Danach kamen Liliana und Ángel
offenbar immer wieder zusammen, bis sich Liliana im Juli 1990 laut ihren
Freunden endgültig von Ángel trennte.
## Keine sichtbaren Spuren
„Warum ist Liliana wieder und wieder in eine Beziehung zurückgekehrt“,
fragt sich Garza, „die ihr, zumindest von außen betrachtet, nur
Instabilität und Verletzung bescherte?“ Eine ihrer Erklärungen basiert auf
Rachel Louise Snyders Buch „No Visible Bruises“ („Keine sichtbaren
Spuren“): „Wenn du von einem Bären angegriffen wirst, stellst du dich dem
Kampf, obwohl du weißt, dass er dich lebensbedrohlich verletzen kann? Oder
stellst du dich lieber tot?“
Ein Femizid, so Garza, sei nur oberflächlich betrachtet ein sexueller Akt.
In Wirklichkeit gehe es um Machtausübung, die die Dominanz der Männer über
die Frauen aufrechterhalten soll. Die „Pflicht zur Dominanz“, zur Kontrolle
über den weiblichen Körper, schade Männern wie Frauen gleichermaßen, wenn
auch „in unterschiedlicher Weise und mit unterschiedlich hohen Risiken“,
zitiert sie die argentinische Anthropologin Rita Segato.
In Mexiko, so lässt sich bei Amnesty International nachlesen, wird die
Aufklärungsrate bei Morden vor allem aufgrund der [1][korrupten Polizei]
auf 3 Prozent geschätzt (zum Vergleich: in Deutschland waren es 2024 98
Prozent). [2][Bei den Femiziden, denen 829 der 3.427 ermordeten Frauen 2023
zum Opfer fielen,] ist sie wahrscheinlich noch geringer. Und das, obwohl
„Femizid“ seit 2012 in Mexiko ein eigenständiger Straftatbestand ist.
Im Zentrum von „Lilianas unvergänglicher Sommer“ steht jedoch die ermordete
Schwester. Cristina Rivera Garzas Buch, das 2024 den Pulitzer-Preis für
Biografie oder Autobiografie erhielt, ist das Dokument einer späten
Trauerarbeit. Erst 30 Jahre nach dem Tod der Schwester wagt sie, die
Kartons zu öffnen, in denen zahllose Notizen, Briefe und tagebuchartige
Eintragungen von Liliana liegen. Und zitiert ausführlich die Texte, die
diese während der Schulzeit und des Studiums verfasste. Texte, in denen die
Liebe im Zentrum steht; zusammen mit den Erinnerungen von Familie und
Freunden Lilianas geben sie dem Buch mitunter einen hagiografischen
Charakter.
## Ein kämpferisches Buch
„Ich liebe. / Egal wen oder was, wann oder wo“, hält Liliana einmal in
einem Gedicht fest. Vor allem aber liebt sie ihre Familie und ihre Freunde,
die sie als Schülerin und als Architekturstudentin in Mexiko-Stadt
kennenlernte. Freunde, die sie als Zentrum einer Studentengruppe schildern,
die gemeinsam an Projekten für das Studium arbeiteten und sich auf
Prüfungen vorbereiteten. Unter ihnen Verehrer, die mit ihrem Werben bei
Liliana allerdings keinen Erfolg hatten. Und die immer wieder auf Ángel
Gonzáles Ramos vor ihrer Wohnung stießen.
„Lilianas unvergänglicher Sommer“ ist ein kämpferisches Buch. Ein Buch
gegen die Ignoranz, mit der [3][Femizide in Mexiko] immer noch unter den
Tisch gekehrt werden. Gleichzeitig ist es trotz der vielen zitierten Texte
Lilianas weniger ein Buch über sie als über die Autorin, ihre Schwester.
Lilianas Verklärung, die Trauerarbeit, die das Buch darstellt, ist
verständlich, aber die nur punktuelle Bezugnahme auf Untersuchungen zum
Thema Femizid und zu der Frage, wie man diese Morde verhindern könnte,
bleiben unbefriedigend.
Eigenartig ist auch, dass die Schilderung der Schwierigkeiten der Autorin,
an die damalige Ermittlungsakte zu kommen, ganz plötzlich abbricht, ohne
dass der Leser erfahren hätte, ob sie sie doch noch erhalten hat oder
nicht.
## Machismo und Katholizismus
Trotzdem gibt es immer wieder interessante Überlegungen in „Lilianas
unvergänglicher Sommer“. So sieht Cristina Rivera Garza in der romantischen
Liebe eine wichtige Basis für häusliche Gewalt. Aber „wer würde schon seine
Stimme gegen die romantische Liebe erheben? Hunderttausende Frauen, die von
ihren Partnern ermordet wurden, hätten vermutlich interessante Antworten
auf diese Frage. Aber auch sie bräuchten dafür ein elementares Werkzeug:
eine Sprache, die Risikofaktoren benennen und Gefahrenmomente
identifizieren kann.“
Es gibt einen Liebesbrief von Liliana an ihre Freundin Ana, den sie nie
abgeschickt hat. Vielleicht braucht es – das schreibt Cristina Rivera Garza
wiederum nicht – auch eine Sprache der gleichgeschlechtlichen Liebe, die es
im Mexiko des Jahres 1990, in einer von heterosexuellem Machismo und
Katholizismus geprägten Gesellschaft, nicht gab. Eine Sprache, die ja
eigentlich schon da war, wie der Brief Lilianas zeigt. Die sie vielleicht
nur nicht offen zu sprechen wagte.
19 Jul 2025
## LINKS
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## AUTOREN
Fokke Joel
## TAGS
Literatur
Schwerpunkt Femizide
Mexiko
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Frauen
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Türkei
Schwerpunkt Leipziger Buchmesse 2025
Sexualisierte Gewalt
Lesestück Recherche und Reportage
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