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# taz.de -- Schweriner Theater nimmt Berührungsängste: Traut euch ran!
> In Schwerin ist eine Theater-Spielstätte vorübergehend in ein
> Plattenbauviertel am Stadtrand gezogen. Das ist tatsächlich eine gute
> Idee.
Bild: Ort mit Potenzial: Spielzeiteröffnung in der M*Halle des Schweriner Thea…
Schwerin taz | Es ist nicht schwer, hier die Berührung als Thema zu
entdecken – aber auch die Scheu davor. Das Ensemble wünsche sich, „mit dem
Publikum auf Tuchfühlung zu gehen“, hatte eben noch Hans-Georg Wegner
gesagt, Intendant des Mecklenburgischen Staatstheaters. Es ist Freitagabend
Mitte September, der Auftakt zum langen Wochenende, mit dem das
Sechs-Sparten-Haus die Spielzeit 2023/24 eröffnet – Motto: [1][„Haltet euch
fest“].
Nun also, anstelle der im Theater immer noch üblichen Frontalbespaßung brav
aufgereiht dasitzender Zuschauer_innen, die Aufforderung: Gehen Sie nah
ran! Bewegen Sie sich hindurch zwischen diesen sechs geradezu absurd
schönen, halbnackten Menschen, die Bernardo San Rafael da die Performance
„Mutter!“ tanzen macht. Ist es nicht auch eine Geburt, sind es nicht
symbolische Nabelschnüre, diese Wollfäden, die die Tänzer_innen mit der
niedrigen Betondecke verbinden? Oder stehen diese Bande vielmehr für
unsichtbare, aber umso dauerhaftere Verstrickungen, auch für das mitunter
Einengende, Lähmende, das diese erste unter den menschlichen Beziehungen
bedeuten kann, die zur eigenen Mutter?
Erst mal bleiben die Besucher_innen dann doch eher draußen stehen, am Rand
der rechteckigen Fläche. Nach und nach dann trauen sich doch welche näher
heran. Später an diesem Freitagabend wird das Musiktheaterensemble seine
Lieblingsarien zu Gehör bringen, die Band Abarra arabische Folklore und
westliche Dancefloor-Tropen vermählen, ein DJ Elektro auflegen. Tags darauf
dann stehen neben Kinderschminken, einem Elektro-Pop-Punk-Konzert und
gemeinsam gekochtem Abendessen auch eine plattdeutsche musikalische Fassung
der „Bremer Stadtmusikanten“ auf dem Fest-Programm, und am Sonntag werden
unter anderem Kostüme verkauft. Es ist nicht schwer, im Programm dieses
Wochenendes Gelegenheiten zu sehen, Berührungsängste zu überwinden.
„Neue Orte – Neue Wege – Neue Räume“ war die vorangegangene Spielzeit
überschrieben, und es war tatsächlich die erste an einem neuen Ort. Denn
eigentlich nutzt das Theater für kleinere Produktionen das „E-Werk“ am
Schweriner Pfaffenteich, ein schmuckes Gründerzeitgebäude, in dem auch der
örtliche Kunstverein residiert. Weil dort aber erheblicher Sanierungsbedarf
bestand, zog man im Herbst 2022 aus und brauchte, eben, eine neue Heimat.
Die wurde gefunden – im Plattenbauviertel Großer Dreesch: Hier eröffnete
die Schweriner Volkszeitung Mitte der 80er Jahre eine Druckerei, die sie
längst nicht mehr benötigt. Auch so eine sich wandelnde Landschaft, die der
gedruckten lokalen Medien.
## Soziale Spaltung
Der Stadtteil aber, in dem diese „M*Halle“ steht, spielt eine zentrale
Rolle in einer Nachricht, über die sich die Verantwortlichen in keinem
Rathaus der Welt freuen würden: „Soziale Spaltung in Schwerin am größten�…
so [2][fasste der Norddeutsche Rundfunk Anfang 2020 eine Studie zusammen],
beauftragt von der mecklenburg-vorpommerschen Landesregierung und
durchgeführt vom Berliner [3][Wissenschaftszentrum für Sozialforschung].
Sechs Städte im Land waren daraufhin abgeklopft worden, wie durchmischt
ihre Bewohner_innenschaft ist, bezogen auf Einkommen und Bildungsstand –
und Schwerin bildete das Schlusslicht. In Deutschlands kleinster
Landeshauptstadt wohnen Arme öfter als anderswo neben Armen, Reichere öfter
unter Reicheren. Hier müssten also mehr Menschen innerhalb der Stadt
umziehen, um eine gleichmäßige Verteilung zu erreichen; nirgendwo sonst
liege der „Segregationsindex“ höher, so nennen das die
Wissenschaftler_innen.
Ähnliches hatte zwei Jahre zuvor schon eine bundesweite Studie zutage
befördert: „Die Stadt Schwerin liegt unter den untersuchten 74 Städten auf
dem traurigen ersten Platz, was den Grad der sozialen Entmischung
betrifft“, [4][fasst etwa die örtliche Landeszentrale für politische
Bildung die damaligen Ergebnisse zusammen]. Die „wirtschaftlich weniger
Leistungsfähigen“ – was sich übersetzen lässt in Bezieher_innen von
„Grundsicherung“ – leben demnach häufig in Plattenbaugebieten am Stadtra…
und in Schwerin meint das, eben, den Großen Dreesch.
Der stand mal für tatsächlich Großes: Ab 1971 sollte südwestlich des
Schweriner Sees neuer Wohnraum entstehen für den sozialistischen neuen
Menschen, in Plattenbauten mit fünf, seltener elf Stockwerken. Die letzten
dieser Häuser waren noch nicht fertig, als 1989/90 der all das
beauftragende Staat abhanden kam, Schwerins bevölkerungsreichster Stadtteil
war der Große Dreesch da aber geworden: Rund 62.000 Menschen lebten dort,
als die Wende kam.
Was dann passierte, hat der Schweriner Oberbürgermeister Rico Badenschier
(SPD) als „zweigeteilte“ Entwicklung bezeichnet: 25 Jahre lang seien die
drei Stadtteile gewachsen, in die das Projekt nach der Wende administrativ
aufgeteilt werden sollte: Großer Dreesch, Neu Zippendorf und Mueßer Holz,
das sind heute die Bezeichnungen für die drei Bauabschnitte. Weitere 25
Jahre lang zogen die Menschen Badenschier zufolge weg von dort, so wie in
eigentlich allen ostdeutschen Städten: in andere Stadtviertel, auch das zu
DDR-Zeiten gezielt nicht entwickelte Zentrum, im dem heute schmucke
Gründerzeit-Fassaden und Residenzarchitektur zu bestaunen sind; ins Umland,
vielleicht ein eigenes, freistehendes Haus – oder gleich ganz in den
Westen; dahin, wo die Jobs lockten.
Heute leben noch etwa 20.000 Schweriner_innen in den drei
Plattenbau-Stadtteilen. Die unterscheiden sich durchaus, was den Zustand
der Gebäude angeht, also den Grad von Sanierung, auch mal Rückbau: Am
Berliner Platz in Neu Zippendorf, der kaum an Berlin erinnert und auch nur
irgendwie an einen Platz, aber mal das Zentrum des ganzen Gebiets werden
sollte, sind schon Wohnriegel abgerissen worden. Hierherzuziehen, in ein
Container-Provisorium, damit hatte das Theater auch mal geliebäugelt. Das
wäre vielleicht ein noch entschiedeneres Statement gewesen, ein noch
deutlicheres Bekenntnis zur nicht ohne Weiteres einleuchtenden Umgebung.
## Die Menschen fühlen sich stigmatisiert
Als die Stadt vor ein paar Jahren ein neues Entwicklungskonzept für Neu
Zippendorf und das Mueßer Holz auflegte, wurden auch die Menschen dort
befragt, und immerhin drei Viertel der Bewohner_innen gaben an, auch in
Zukunft in ihren Stadtteilen leben zu wollen. Was da aber auch klar wurde:
Die Menschen fühlten sich stigmatisiert durch das negative Bild, das andere
von diesen Stadtteilen haben. Und dazu tragen Faktoren wie die
Kriminalitätsstatistik bei, der zufolge Mueßer Holz zuverlässig das
gefährlichste Viertel der Stadt ist; der Große Dreesch – genauer: der Teil
des Großen Dreesch, der heute noch so heißt, lag dann und wann auf Platz
drei, hinter der pittoresken Altstadt übrigens.
Erwähnt man die Berliner Segregationsstudie gegenüber Menschen, die sich
mit Stadtentwicklung auskennen, nicht nur der Schwerins, erntet man
Augenrollen. Und das wirkt nicht einfach wie Abwehr einer unbequemen
Wahrheit: Die Einkommensverteilung ist halt nur eine Dimension, schaut man
etwa auf die Mischung von Altersgruppen oder auch des sogenannten
ethnischen Hintergrunds, steht Schwerin, dann stehen auch die vermeintlich
so abgehängten Plattenbauviertel durchaus besser da.
Gleichwohl: Dass etwas passieren soll auf dem Großen Dreesch, das zeigt
sich auch im städtischen Handeln. Und während etwa die Spreizung der
Wohnkosten oder auch die Standorte von Schulen mit Gymnasialzweig härtere
Faktoren sein dürften: Die bürgerliche Institution Theater dorthin zu
bringen, wo sich die Menschen seltener als anderswo von ihr angesprochen
meinen dürften, das ergibt Sinn. Zumal: Indem das Theater nun die alte
Druckereihalle nutzt, ist ja auch deren Eigentümer geholfen, einem
Immobilienunternehmer, der auch künftig ein wichtiger Geschäftspartner der
Stadt sein dürfte. Immerhin spendierte er den beeindruckenden, in Dubai
angefertigten Kristalllüster fürs M*Hallen-Foyer.
Rund 2.000 Quadratmeter auf drei Etagen stehen dem Theater zur Verfügung,
für sieben Jahre, also länger, als die Sanierung des E-Werks dauern dürfte
– ein Bekenntnis zur Kultur in einem daran sehr viel ärmeren Quartier? Im
eigentlichen, überraschend gut auch für das Staatsorchester geeigneten Raum
finden ein paar Menschen mehr Platz als im E-Werk, und es gibt allerlei
andere Flächen und Räume, denen die eigentlichen Zwecke abhandengekommen
sind – in denen sich aber bestens feiern lässt; überhaupt: In der M*Halle
hat Schwerin, ansonsten einerseits naturnah, andererseits ehemals
fürstlich-glanzvoll sich verkaufend, plötzlich das Zeug zu einer hippen
Metropole.
Die Zahlen der ersten Spielzeit werden als zufriedenstellend oder besser
kommuniziert, sehr gut gelaufen ist, so hört man, das vielleicht
folgerichtigste Stück aus dem vergangenen, ersten Spielplan, Nina
Gühlstorffs schmissige Inszenierung von „Nullerjahre“. Im Roman erzählt
Hendrik Bolz ja von hoffnungsarmer Nachwende-Jugend in der Stralsunder
Plattenbausiedlung „Knieper West“ – ist der Große Dreesch am Ende übera…
Wem nun wiederum die Idee, da bildungsferne Schichten zu beglücken durch
deutschen Textkanon und sechs Sparten Bühnenkunst ein wenig, nun ja,
kolonial erscheint: Berührungsängste gibt es auch in Gegenrichtung. So ist
es in Schwerin überhaupt kein Problem, wenigstens anekdotisch zu belegen,
dass so manche_r potenzielle Zuschauer_in skeptisch ist gegenüber dem Umzug
ins schlecht beleumundete Umfeld, und sei es nur ganz vorne, an dessen der
Stadt zugewandtester Ecke.
Auf dem Weg von der Halle zur nächsten Straßenbahn-Haltestelle kann man
schräg gegenüber den Parkplätzen, an der Crivitzer Chaussee, ein Ufo
aufragen sehen. Die [5][dreibeinige Metallskulptur mit Wappen dran] grüßt
seit 1977 die Ankommenden: „Willkommen in Schwerin“.
2 Oct 2023
## LINKS
[1] https://www.mecklenburgisches-staatstheater.de/magazin/id-3-haltet-euch-fes…
[2] https://www.ndr.de/nachrichten/mecklenburg-vorpommern/Studie-Soziale-Spaltu…
[3] https://wzb.eu/de
[4] https://www.lpb-mv.de/themen/stichwort/studie-wie-bruechig-ist-die-soziale-…
[5] https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Skulptur_Willkommen_in_Schwerin.jpg
## AUTOREN
Alexander Diehl
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