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# taz.de -- Premiere im Schweriner Theater: Die Erfindung des Wilden Ostens
> Milan Peschel bringt in Schwerin einen Westerndiskurs auf die Bühne. Die
> Hauptfigur kommt zwar nicht, dafür gewinnt ein Hund die Herzen des
> Publikums.
Bild: Das Ensemble mit Hund: „Chico Zitrone im Tal der Hoffnung“ in Schwerin
Es regnet in Strömen, aber das macht fast gar nichts, denn zu den schönen
Dingen in der Landeshauptstadt von Mecklenburg-Vorpommern gehört, dass an
Vorstellungsabenden die große Brachfläche vor dem [1][Schweriner Theater] –
sonst verbotenes Terrain – als Parkplatz genutzt werden darf.
Und wenn man sich halbwegs trockenen Fußes unter das Portal der
klassizistischen Spielstätte gerettet hat, lohnt ein kurzer Blick über die
Schulter, denn dort hinten am Seeufer steht das Schloss, das seine
verspielten Märchentürme unverzagt dem finsteren Himmel entgegenstreckt:
wie eine steingewordene Metapher für die Resilienz des arglos Schönen und
Guten im feindlichen Sturm der Zeitläufte.
Und darum geht es irgendwie auch an diesem Abend, den [2][Milan Pesche]l
zusammen mit dem Schauspielensemble des Mecklenburgischen Staatstheaters
ausgeheckt hat und in dem mithilfe der kulturellen Insignien amerikanischer
Western-Klischees ein prärieweites Feld von Befind- und Begrifflichkeiten
beackert wird. Dafür machen vier Frauen und vier Männer bella figura in
breitkrempigen Hüten, Cowboystiefeln und Fransenfummeln.
Die Bewegungsdramaturgie des Abends besteht primär darin, dass die
DarstellerInnen in wechselnden Klamotten herumstehen und reden, sehr viel
reden. (Die Liste der Werke, aus denen zitiert wird, ist lang.) Dazwischen
wird gerannt, geschrien und geschossen. Immer mal wieder schmeißt sich
jemand über die gepolsterte Brüstung der Souffleusenloge.
## Warten auf den Auftragskiller
Die Ausgangssituation des Stückes ist, laut Ankündigung: Ein
Auftragskiller, wissen die Leute, wird in ihre Stadt kommen, um jemanden
umzulegen. Jener Mann, der da kommen soll, heißt Chico Zitrone. Der hat
einen Freund oder vielleicht auch Widersacher namens Johnny Rogers. Johnny
weiß Dinge über Chico und umgekehrt. Oder so ähnlich. Zumindest denken das
die Personen, die da auf der Bühne stehen und über Chico und Johnny reden.
Und reden. Und reden. Aber was wissen sie schon, und was können sie
überhaupt wissen, denn die Sache ist ja: Chico Zitrone kommt gar nicht.
Genauso wenig wie Johnny Rogers (wahrscheinlich. Obwohl einer der
Anwesenden ja behauptet, er sei Johnnys Zweitbesetzung).
Ja, die Idee ist nicht neu, aber sie altert nicht. Und sie findet hier
gewissermaßen ihre Fortsetzung in der allmählichen Emanzipierung der
Bühnenpersonen von ihren gedanklichen Fixierungen und Identitätskrisen –
und vielleicht auch der ihres Publikums, das zu Beginn des Abends spontanen
Szenenapplaus gibt bei dem Satz „Die im Westen haben alle eine
Eigentumswohnung geerbt und wir nur die Depressionen unserer Eltern“.
Zum Ende des Abends aber schmeißen alle DarstellerInnen sich gemeinsam über
die Brüstung der Souffleurinnenloge, um auf dem Bühnenhintergrund als
Subjekte der Geschichte, nämlich als Filmfiguren, wieder aufzutauchen – mit
den Wunderwerkzeugen digitaler Bildbearbeitung hineinmontiert in Szenen aus
Westernfilmen. Dass sie am Ende vom großen amerikanischen Grenzzaun an der
Weiterbewegung gehindert werden, ist eine existenzielle Widrigkeit, die
aber nicht das Ende bedeutet. Denn wohin die Leute gehen, wenn sie aus dem
Bild verschwinden, wissen wir einfach noch nicht.
Die technische Brillanz dieses Abends muss unbedingt erwähnt werden, denn
sowohl die Bauten von Magadalena Musial sind eine Augenweide als auch die
abwechslungsreiche Verschränkung von Videoprojektion und Real-Life-Aktion.
Viele Sympathiepunkte sammelt ein Border Collie namens Mister Spock, der
sehr versiert toter Hund spielt. Und was das Publikum betrifft, so scheint
die ältere Generation Schwerins kulturell überdurchschnittlich aktiv zu
sein. Das Theater ist gut besetzt, und die nicht mehr blutjunge
Berichterstatterin kann sich an dem Gefühl erwärmen, zu jenen zu gehören,
die den Altersdurchschnitt senken.
Vielleicht hat die jüngere Generation aber auch dringendere Sorgen, als
zwischen Ost- und Westernklischees nach verschwimmenden Identitäten zu
fischen.
21 Feb 2024
## LINKS
[1] /Schweriner-Theater-nimmt-Beruehrungsaengste/!5962855
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Milan_Peschel
## AUTOREN
Katharina Granzin
## TAGS
Schwerpunkt Stadtland
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Kolumne Großraumdisco
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