| # taz.de -- Schmutzkampagnen im Wahlkampf: „Herr Brandt alias Frahm“ | |
| > „Negative Campaigning“ gab es in Bundestagswahlkämpfen schon, als der | |
| > Begriff noch völlig unbekannt war. Bereits Adenauer war ein Meister | |
| > darin. | |
| Bild: Wurde Ziel übler Verleumdungskampagnen durch die Union: Willy Brandt | |
| Berlin taz | Es klingt wie eine jener überdrehten Social-Media-Reaktionen | |
| auf die [1][etwas aufgehübschte Vita] der grünen Kanzlerkandidatin Annalena | |
| Baerbock: „Es gibt kaum einen ‚Lebenslauf‘ eines deutschen Politikers, der | |
| in so unglaublicher Weise die Tatbestände verfälscht oder verschleiert.“ | |
| Doch der Satz stammt aus einem ganz anderen Bundestagswahlkampf. Er steht | |
| in einem kaum minder überdrehten „Rotbuch“, das die CSU-Landesleitung 1972 | |
| zur „Entlarvung“ der SPD herausgegeben hat. Und der Lebenslauf, um den es | |
| hier geht, ist der des damaligen SPD-Fraktionsvorsitzenden Herbert Wehner. | |
| Vorgeblicher Zweck der 52-seitigen CSU-Broschüre war es, über das | |
| vermeintlich dunkle Vorleben und die noch dunkleren Absichten von Wehner | |
| sowie des aus ihrer Sicht nicht minder gefährlichen SPD-Vorsitzenden Willy | |
| Brandt aufzuklären: „Der deutsche Wähler hat das Recht, die Wahrheit über | |
| die SPD und ihre politischen Führer zu kennen“, heißt es im Vorwort. | |
| So wird dem Ex-KPD-Mitglied Wehner unter anderem vorgeworfen, in seinem im | |
| Bundestagshandbuch veröffentlichen Lebenslauf verschwiegen zu haben, dass | |
| er als kaufmännischer Angestellter 1927 „nach wenigen Monaten wegen | |
| kommunistischer Agitation entlassen wurde“. Die Botschaft des „Rotbuchs“: | |
| Wehner und Brandt – für die CSU nur ein „angeblich Verfolgter des Dritten | |
| Reiches“ – seien eigentlich tiefrote Vaterlandsverräter, die ihre wahre | |
| Gesinnung und Absichten verbergen würden. | |
| ## Adenauers schmutzige Wahlkampftricks | |
| Das „Rotbuch“ ist ein Beispiel dafür, dass Schmutzkampagnen im Wahlkampf | |
| keineswegs ein neues Phänomen sind. Negative Campaigning war als Begriff | |
| noch gänzlich unbekannt, da wurde es bereits in Deutschland praktiziert. | |
| Vor allem die Unionsparteien verstanden sich seit den Anfängen der | |
| Bundesrepublik bestens darauf. Schon Konrad Adenauer war geradezu ein | |
| Meister darin. | |
| Auf dem Höhepunkt des Bundestagswahlkampfs 1953 behauptete Adenauer | |
| öffentlich, SPD-Politiker ließen sich von der DDR bezahlen. Zwei | |
| nordrhein-westfälische Genossen hätten „je 10.000 DM West aus der | |
| Sowjetzone erhalten“. Das Geld stamme aus einem Fonds der SED für | |
| Wahlkampfzwecke. Einen Beweis blieb der damalige CDU-Vorsitzende und | |
| Bundeskanzler schuldig. Aber er beharrte auf seinen Anschuldigungen – bis | |
| zum Wahltag. | |
| Nach seinem Wahlsieg ließ Adenauer Anfang 1954 das Bonner Landgericht | |
| lapidar wissen, seine Informationen seien leider falsch gewesen: „Ich nehme | |
| deshalb mit dem Ausdruck des Bedauerns meine Behauptung zurück“, teilte er | |
| in einer Erklärung mit. Damit war der Fall für ihn juristisch erledigt. | |
| „Ein Journalist, der die gleiche Behauptung verbreitet hätte, wäre nach § | |
| 187 a StGB wegen ‚politischer übler Nachrede‘ mit Gefängnis nicht unter | |
| drei Monaten bestraft worden“, kommentierte seinerzeit der Spiegel. | |
| Nur wenige Wochen nach seinem schriftlichen Bedauern der Wahlkampflüge | |
| spottete der [2][auch ansonsten nicht gerade zimperliche] Adenauer im | |
| Bundestag in Richtung der zutiefst empörten Sozialdemokraten: „Wenn Sie | |
| dieses Auftreten und Reden einige Millionen Stimmen gekostet hat, dann bin | |
| ich sehr froh darüber.“ | |
| Im Bundestagswahlkampf 1961 richtete Adenauer dann seine Giftpfeile direkt | |
| auf den jungen SPD-Kanzlerkandidaten Willy Brandt, „der so vornehm tut“. | |
| Auf einer Wahlveranstaltung vor 20.000 Menschen im bayrischen Regensburg | |
| sagte Adenauer: „Wenn einer mit der größten Rücksicht behandelt worden ist | |
| von seinen politischen Gegnern, dann ist das der Herr Brandt alias Frahm.“ | |
| ## „Wie weiland Adolf Hitler“ | |
| Das war ein perfider Satz, mit dem der greise CDU-Vorsitzende auf Brandts | |
| Geburtsnamen Herbert Frahm und dessen Herkunft als unehelicher Sohn einer | |
| Verkäuferin anspielte. Mit diesem Ausspruch, „der sich wie eine Wendung im | |
| Polizeijargon für Hochstapler las“ (Spiegel), zielte Adenauer auf die | |
| moralische Integrität seines sozialdemokratischen Herausforderers. | |
| Damit war Adenauer nicht alleine. Der CSU-Bundestagsabgeordnete Richard | |
| Jaeger stellte den Antifaschisten Brandt gleich in eine Reihe mit Hitler: | |
| „Wenn es ihn, wie weiland Adolf Hitler, dessen Familienname eigentlich | |
| Schicklgruber war, danach gelüstet, unter einem fremden Namen in die | |
| Weltgeschichte einzugehen, so ist dies das Geringste, was uns an seinem | |
| Vorhaben stören könnte.“ | |
| Der stellvertretende CDU-Bundesvorsitzende Kai-Uwe von Hassel nahm sich | |
| Brandts Zeit im norwegischen Exil vor: „Ich verleugne nicht meine Volks- | |
| und Staatsangehörigkeit persönlicher oder sonstiger Vorteile wegen“, | |
| giftete er in Richtung des 1933 aus Deutschland geflohenen und 1938 von den | |
| Nazis ausgebürgerten Brandt. Und CSU-Verteidigungsminister Franz Josef | |
| Strauß formulierte spitz: „Eines wird man doch aber Herrn Brandt fragen | |
| dürfen: Was haben Sie zwölf Jahre lang draußen gemacht? Wir wissen, was wir | |
| drinnen gemacht haben.“ | |
| Flankiert wurden die verbalen Injurien führender Unionspolitiker von zwei | |
| Büchern eines dubiosen in München ansässigen Verlags, wovon eines Brandts | |
| Emigrationszeit ins Zwielicht zu rücken suchte und das andere sich mit | |
| seinem angeblich ausschweifenden Liebesleben beschäftigte. Gegen beide | |
| Schmähschriften ging Brandt erfolgreich juristisch vor – was jedoch nur | |
| begrenzt nutzte, berichteten doch die unionsnahen Zeitungen geradezu mit | |
| Wollust über die vermeintlichen „Enthüllungen“. Und etwas bleibt halt imm… | |
| hängen. | |
| ## Diffamierungsopfer Willy Brandt | |
| Von 1961 über 1965 und 1969 bis 1972: Verunglimpfungen und Verleumdungen | |
| des SPD-Frontmanns ziehen sich wie ein roter Faden durch die | |
| Bundestagswahlkämpfe der Union – Mal für Mal mit abnehmendem Erfolg, die | |
| SPD-Wahlergebnisse zum Maßstab genommen. | |
| 1969 schickte eine Koalition der SPD mit der FDP die CDU und die CSU | |
| erstmals in die Opposition, [3][Willy Brandt wurde Bundeskanzler] – ein | |
| demokratischer Regierungswechsel, den die CSU in ihrem „Rotbuch“ von 1972 | |
| als „Machtergreifung“ bezeichnet. Das Pamphlet steht in der unrühmlichen | |
| Kontinuität der Diffamierung des politischen Gegners. | |
| Gleichwohl behaupteten die Verfasser der Kampfschrift, es sei nur eine | |
| Reaktion auf Angriffe aus dem sozialliberalen Lager gewesen: „Das | |
| vorliegende ‚Rotbuch‘ wäre nicht entstanden, wenn nicht das ‚Schwarzbuch… | |
| vorhergegangen wäre“, heißt es im Vorwort. Das war ein platter Versuch, | |
| fakenewsartige Propaganda mit legitimer Aufklärung gleichzusetzen. | |
| Das erwähnte „Schwarzbuch“ war im September 1972, also einen Monat vor dem | |
| „Rotbuch“, im renommierten Kölner Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienen. | |
| Herausgegeben hatten es die Bundesvorsitzenden der Jusos, der Falken, der | |
| damaligen FDP-Jugendorganisation Jungdemokraten sowie der | |
| Bundesjugendsekretär des DGB. Auf 120 Seiten wurden darin akribisch die | |
| diversen Affären, Skandale und verbalen Fehltritte von Franz Josef Strauß | |
| aufgelistet. | |
| Die CSU attestierte hingegen selbstverständlich ihrem seinerzeitigen | |
| Vorsitzenden eine „einwandfreie persönliche und politische Vergangenheit“. | |
| Dabei hätte es nicht erst eines „Schwarzbuchs“ bedurft, um daran gehörige | |
| Zweifel zu haben. | |
| ## „Volksverhetzer und Brunnenvergifter“ | |
| Für die Christsozialen war das „Schwarzbuch“ eine unerträgliche | |
| Majestätsbeleidigung, gegen die sie sich mit deftigen Worten verwahrten: | |
| Hier würde versucht, Strauß „nach echter Dr.-Josef-Goebbels-Manier zum | |
| Volksfeind zu stempeln“, ist im Vorwort des „Rotbuchs“ zu lesen. | |
| Und nicht nur das: „Diese Volksverhetzer und Brunnenvergifter wenden gegen | |
| CDU/CSU-Politiker dieselben Methoden an, wie die Nazipresse à la ‚Stürmer‘ | |
| gegen die Juden, als man ihnen den Davidstern zur Brandmarkung angeheftet | |
| hat – alles zu dem Zweck, Hass zu erzeugen und aufzuwiegeln.“ | |
| Damals nahm niemand in der Union – und auch nicht in den zahlreichen ihr | |
| nahestehenden Medien – Anstoß an dieser unsäglichen Relativierung des | |
| Holocaust, die noch eine zusätzliche zynische Note durch die Tatsache | |
| bekommt, dass Strauß während der NS-Zeit dem Nationalsozialistischen | |
| Deutschen Studentenbund und dem Nationalsozialistischen Kraftfahrerkorps | |
| angehörte sowie Oberleutnant der Wehrmacht war. | |
| Heute hat die CDU einen Generalsekretär, der über sich sagt, er sei | |
| [4][„immer besonders sensibel, wenn ich Vergleiche mit Juden höre“]. Auch | |
| wenn Paul Ziemiak schon mal eine [5][„geschichtsvergessene Entgleisung“] | |
| wittert, wo gar keine ist, [6][wie bei der Rede der Publizistin Carolin | |
| Emcke auf dem Grünen-Parteitag], ist das doch ein gesellschaftlicher | |
| Fortschritt. | |
| 24 Jun 2021 | |
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| [4] https://twitter.com/paulziemiak/status/1404885987273195528?s=21 | |
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