| # taz.de -- Falscher Vergleich der Ampelkoalition: Mehr Geschichte wagen | |
| > 2021 ist nicht 1969: Warum Olaf Scholz’ Ampelkoalition mit dem | |
| > sozialliberalen Bündnis unter Willy Brandt nicht zu vergleichen ist. | |
| Bild: Zwei Kanzler, die was wagen wollen, Olaf Scholz am 6. Dezember in der SPD… | |
| Man kann die [1][Ampelkoalition] aus demokratietheoretischer Sicht | |
| begrüßen, weil damit eine 16-jährige Dominanz der Union gebrochen wird. Man | |
| kann das neue Bündnis auch aus inhaltlichen Gründen gutheißen, etwa weil | |
| dadurch die Klimapolitik endlich vorankommt und veraltete | |
| gesellschaftspolitische Zöpfe abgeschnitten werden. Man kann die Koalition | |
| auch deshalb begrüßen, weil keine großen außen- und finanzpolitischen | |
| Experimente zu erwarten sind. | |
| Nur eines kann man nicht: dieses Bündnis im Jahr 2021 in direkte Beziehung | |
| zum [2][Beginn der sozialliberalen Koalition im Jahr 1969] setzen. Das wäre | |
| unhistorisch. | |
| Gegen einen solchen Bezug sprechen formale wie inhaltliche Differenzen. | |
| Auch wenn die heutigen Ampelkoalitionäre ihr Bündnis rhetorisch in den | |
| hellsten Farben beschreiben und gar schon über eine Fortsetzung | |
| philosophieren: Tatsächlich handelt es sich um einen nicht unerwarteten | |
| Machtwechsel in einer gefestigten Demokratie ohne Bruch eines Tabus. | |
| Eine Regierung wird ausgewechselt, wie dies schon mehrfach in der | |
| Geschichte der Bundesrepublik geschehen ist. Ein neuer Bundeskanzler kommt | |
| in die Verantwortung. Wirklich neue ist nur die formale Konstellation, denn | |
| ein Dreierbündnis hat es auf Bundesebene bisher nicht gegeben. | |
| ## 1969 war ein Wendepunkt | |
| Dagegen 1969: Vor 52 Jahren brachen für die noch junge Bundesrepublik | |
| Gewissheiten zusammen, wurden Tabus abgeräumt, entstand etwas gänzlich | |
| Neues. Das Jahr war für die Parteiendemokratie deswegen ein Wendepunkt, | |
| weil zum allerersten Mal seit Gründung des Staats die CDU/CSU nicht länger | |
| als stärkste (Doppel-)Partei die Regierung stellte. Die Konservativen | |
| hatten es über 20 träge Jahre erfolgreich vermocht, sich ein Exklusivrecht | |
| der Macht zu sichern und zugleich die Sozialdemokraten von der | |
| Kanzlerschaft auszusperren. | |
| [3][Die Methoden waren dabei keinesfalls immer fein], stellten | |
| CDU/CSU-Politiker die SPD doch als eine Partei dar, die, sollte sie jemals | |
| die Verantwortung übernehmen, Wohlstand, Sicherheit und die vorgeblich | |
| guten Sitten in eminente Gefahr bringen würde. Deshalb wurde mit der Wahl | |
| Willy Brandts zum Bundeskanzler ein Tabu gebrochen, das es 2021 | |
| glücklicherweise nicht mehr gibt. | |
| Der [4][Wahlkampf 2021] dagegen? Ein manierliches Schaulaufen. Auch | |
| inhaltlich war der Beginn der sozialliberalen Ära eine mit der Aufstellung | |
| der Ampel unvergleichliche Angelegenheit. Damals ging es darum, das durch | |
| Gesetze verankerte Gesellschaftsmodell an die Realität anzupassen, sei es | |
| im Bereich der Rechte für Schwule, für Frauen oder etwa bei der | |
| Verweigerung der Wehrpflicht. Das konservative Spießertum schrie | |
| entsprechend Zeter und Mordio, als SPD und FDP daran gingen, die alten | |
| Zöpfe abzuschneiden. | |
| ## Anerkennung der Oder-Neiße-Linie kein Thema mehr | |
| Zwar tut sich auch 2021 ein Reformstau in diesem Bereich auf, etwa bei der | |
| Anerkennung diverser Familienverhältnisse, aber dieser ist doch | |
| unvergleichbar geringer. Schließlich war es Scholz' Vorgängerin Angela | |
| Merkel, die mit der Modernisierung der CDU dafür gesorgt hat, dass einige | |
| wesentliche Veränderungen schon unter Führung der Union umgesetzt worden | |
| sind. | |
| Gänzlich fehl geht der Vergleich zwischen 1969 und 2021 bei der | |
| Außenpolitik, die am Ende der konservativen Herrschaft in der | |
| Bundesrepublik von der Nichtanerkennung der Resultate des durch die | |
| Deutschen ausgelösten Zweiten Weltkriegs geprägt war. Diese Probleme von | |
| der Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als Westgrenze Polens bis zur | |
| Umsetzung pragmatischer Beziehungen zur DDR haben sich durch den | |
| Zeitenwandel inzwischen aufgelöst. | |
| Dazu bedurfte es freilich nicht nur der Entspannungspolitik Willy Brandts, | |
| sondern auch des Zusammenbruchs der DDR wie des Ostblocks, nicht zu | |
| vergessen der Einigung Europas in der EU. | |
| Und so ließe sich die Liste der unvergleichlichen Vergleiche fortsetzen. In | |
| der Bildungspolitik, wo 1969 ein dem Ständestaat entsprungenes System dafür | |
| sorgte, dass Arbeiterkinder hübsch Arbeiter blieben, das Land heute aber | |
| vor ganz anderen, damals noch unbeachteten Herausforderungen steht, wenn es | |
| etwa um mehr Chancengleichheit für Migranten geht. | |
| Oder der Verkehrspolitik, wo der versprochene Autobahnanschluss in | |
| unmittelbarer Umgebung eines jeden Wohnorts im ganzen Land tatsächlich mit | |
| Fortschritt gleichgesetzt wurde und wo es heute darum geht, die (auch unter | |
| Brandt) vernachlässigte Schiene endlich konkurrenzfähiger zu machen. | |
| Der Vergleich von [5][Olaf Scholz’ „Mehr Fortschritt wagen“] mit Brandts | |
| Versprechen, mehr Demokratie wagen zu wollen, beleidigt den intellektuellen | |
| Sachverstand. Wie bitte kann man Fortschritt überhaupt „wagen“, ist es doch | |
| ein Prozess, der systemimmanent ist? | |
| Das Wagnis bezieht sich maximal auf die Frage, ob der prognostizierte | |
| Fortschritt eine sinnvolle, unsinnige oder sinnentleerte Angelegenheit ist. | |
| Sind mehr Autobahnen fortschrittlich? Oder mehr Windräder? Das hängt ganz | |
| vom Urteil des Betrachters ab. | |
| Mehr Demokratie zu wagen, das bedeutet eine verstärkte Partizipation des | |
| Einzelnen an Entscheidungsprozessen. Genau das möchten die | |
| Ampelkoalitionäre in bestimmten Fragen wie Genehmigungsverfahren für | |
| klimarelevante Vorhaben übrigens abbauen, um die Zeit bis zur Umsetzung | |
| dieser Pläne zu verkürzen – ein Vorgehen, das für das Klima durchaus | |
| förderlich sein kann, aber gewiss nicht für die Demokratie. | |
| 1969, das war ein Ausbruch, der sich auch in hitzigen gesellschaftlichen | |
| Debatten manifestierte, mit wütenden, ja verletzenden Äußerungen von | |
| Konservativen und überschwänglichen, ja euphorischen Reaktionen von | |
| Liberalen und Linken. | |
| Der Regierungswechsel 2021 dagegen wird in weiten Teilen der Gesellschaft | |
| als das betrachtet, was er ist: Routine. Und das ist auch gut so, beweist | |
| dies doch, dass die Bundesrepublik und ihre Bewohner es inzwischen | |
| verstehen, mit Machtwechseln in der Politik umzugehen. | |
| 10 Dec 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Ampel-Koalition/!t5455621 | |
| [2] https://willy-brandt.de/willy-brandt/publikationen/wir-wollen-mehr-demokrat… | |
| [3] /Schmutzkampagnen-im-Wahlkampf/!5779612 | |
| [4] /Schwerpunkt-Bundestagswahl-2025/!t5007549 | |
| [5] /Die-neue-Bundesregierung/!vn5818586 | |
| ## AUTOREN | |
| Klaus Hillenbrand | |
| ## TAGS | |
| Olaf Scholz | |
| Ampel-Koalition | |
| Schwerpunkt Bundestagswahl 2025 | |
| Willy Brandt | |
| Konservative | |
| GNS | |
| SPD | |
| Ampel-Koalition | |
| Konrad Adenauer | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| SPD-Ja zum Koalitionsvertrag: Kopf und Gefühl | |
| Die SPD hat allen Grund, mit dem Koalitionsvertrag zufrieden sein. Aber sie | |
| muss aufpassen, als Kanzlerpartei nicht hinter Scholz zu verschwinden. | |
| Ampel und SPD-FDP-Koalition: Links-liberal, zweiter Akt | |
| Das Ampelbündnis sieht sich in der Tradition der sozial-liberalen Koalition | |
| der frühen 1970er Jahre. Schon jetzt sieht man deutliche Parallelen. | |
| Schmutzkampagnen im Wahlkampf: „Herr Brandt alias Frahm“ | |
| „Negative Campaigning“ gab es in Bundestagswahlkämpfen schon, als der | |
| Begriff noch völlig unbekannt war. Bereits Adenauer war ein Meister darin. |