# taz.de -- Sandinisten in Nicaragua: Die entzweite Familie | |
> Seit den Studentenprotesten letztes Jahr polarisiert Präsident Daniel | |
> Ortega. Was, wenn sich Anhänger und Gegner am Frühstückstisch treffen? | |
Bild: Juli 2018: Paramilitärs kontrollieren die Stadt Masaya | |
MASAYA taz | Wenn man einfach nur die Geschichte einer Familie erzählen | |
will und dabei alle Namen weglassen muss, dann stimmt etwas nicht in diesem | |
Land. Diese Geschichte handelt von einer Familie in Nicaragua und Namen | |
werden nicht genannt. Nicht die von Personen, die geschützt werden sollen, | |
damit sie nicht zu Opfern werden. Aber auch nicht die Namen von denjenigen, | |
die auf der Seite der Täter stehen; weil von ihnen Spuren zu jenen führen, | |
die Schutz bedürfen. | |
Die Geschichte spielt in Masaya, einer Provinzstadt mit knapp 150.000 | |
Einwohnern, rund dreißig Kilometer südlich der Hauptstadt Managua. Masaya | |
wirkt eher wie ein Dorf. Es gibt kaum ein Haus, das mehr als ein Geschoss | |
hätte. Keine kolonialen Prunkbauten, eher geduckte zentralamerikanische | |
Idylle mit Ziegeldächern. Die Luft ist heiß, das Leben träge. Es gibt | |
genauso viele Pferdekutschen wie Taxis, und beide haben dieselbe Funktion. | |
Vor vierzig Jahren, beim [1][Aufstand der Sandinisten gegen das | |
Somoza-Regime], hat Masaya eine entscheidende Rolle gespielt. Vergangenes | |
Jahr dann stand der Ort bei den Sandinisten erneut im Fokus. Diesmal waren | |
es jedoch die früheren Guerilleros rund um den einstigen Comandante und | |
heutigen Präsidenten Daniel Ortega, die einen [2][Aufstand mit voller | |
Gewalt niederschlugen]. | |
Masaya versank über Wochen in bürgerkriegsähnlichen Straßenschlachten. Auf | |
der einen Seite überwiegend Studenten, die sich hinter mehr als 100 | |
Barrikaden verschanzten; auf der anderen Seite brutale Paramilitärs und | |
Polizisten. Wer damals auf welcher Seite stand, spaltet heute die Stadt. | |
## Die Familie schweigt sich an | |
Die Familie, um die es geht, zählt zwanzig Mitglieder, verteilt auf vier | |
Generationen. Alle aus den ersten drei Generationen sagen von sich, sie | |
seien Sandinisten. Die vierte ist noch zu jung, um sich darüber Gedanken zu | |
machen. Wenn man erfahren will, was die Familienmitglieder wirklich denken | |
und was sie in den vergangenen Monaten alles getan haben, muss man einzeln | |
mit ihnen sprechen. | |
Am Ende des Gesprächs heißt es dann, man dürfe das, was gesprochen wurde, | |
auf keinen Fall den anderen erzählen. In der Familie wird darüber nicht | |
gesprochen. Man schweigt – obwohl jeder genau weiß, wer auf welcher Seite | |
steht: [3][die alten Sandinisten und Paramilitärs] auf der Seite Ortegas, | |
die Barrikadenkämpfer [4][auf der Seite der Studenten]. | |
Die Eltern dieser Großfamilie leben seit bald fünfzig Jahren im selben | |
Haus. Nur die Fassade ist gemauert, nur das Zimmer hinter dem Eingang hat | |
ein Ziegeldach. Sie stammen aus einem Sozialprogramm der Regierung. Die | |
Mutter sagt: „Das hat uns Daniel gegeben.“ Sie ist inzwischen über siebzig, | |
schmal und klein, nicht mehr als einen Meter fünfzig groß. | |
Alle ihre Kinder sind in diesem Haus geboren und aufgewachsen, bei der | |
Geburt des ersten war sie sechzehn Jahre alt. Sie hat bei anderen Leuten | |
geputzt und gebügelt, hat erst ihre Kinder, dann die Enkel großgezogen und | |
zieht heute die Urenkel auf. Jeden Mittag trifft man sich bei ihr zum Essen | |
und immer sind so gut wie alle da. | |
## Früher selbst Bomben gebaut | |
Beim Aufstand gegen Somoza vor vierzig Jahren war sie noch Analphabetin. | |
Sie bastelte Kontaktbomben aus Schwarzpulver, Nägeln und Metallsplittern, | |
die fürchterliche Verletzungen anrichteten. Ihr Mann hat diese Bomben in | |
die Festung der Nationalgarde geworfen. Die beiden sind, was man heute in | |
Nicaragua „historische Kämpfer“ nennt. | |
Erst nach dem [5][Sieg der Sandinisten] haben sie lesen, schreiben und | |
rechnen gelernt und in den ersten wirtschaftlich schweren Jahren der | |
Revolution einen staatlichen Laden betreut. Alle ihre Kinder haben Abitur | |
und eine Tochter hat sogar studiert; damals, in der frühen sandinistischen | |
Zeit, als das Studieren umsonst war. Die Mutter kocht heute auf offenem | |
Feuer und verkauft das Essen auf der Straße. | |
Während des Aufstands im vergangenen Jahr ist dieses Geschäft völlig | |
eingebrochen. Wegen der Barrikaden fuhr kein Bus und es kam auch keiner, | |
der Touristen von den [6][Kreuzfahrtschiffen] zum Markt für Kunsthandwerk | |
brachte. Auch heute kommen noch keine. Die Kreuzfahrtschiffe ankern jetzt | |
in Costa Rica. Früher hat ihr Mann um die Mittagszeit 20, manchmal auch 25 | |
Essen zum Markt getragen. Heute verkauft er zwei oder drei und an vielen | |
Tagen gar keines. | |
Trotzdem hat die Mutter die jungen Leute an den Barrikaden in den ersten | |
Tagen unterstützt. Sie hat sogar selbst Hand angelegt. Sie weiß, wie man | |
eine solide Barrikade baut aus den Pflastersteinen, die einmal fast alle | |
Straßen des Landes blockierten. Solche Barrikaden wurden im Aufstand gegen | |
Somoza zum Symbol der Sandinisten. | |
## Verrat an Idealen | |
Im vergangenen Jahr tauchten sie wieder auf, die meisten in Masaya. Die | |
Mutter dachte zunächst, die Barrikaden seien zum Schutz der Bevölkerung da. | |
Als dann aber alle Läden ihrer Straße geplündert wurden und an manchen | |
Barrikaden junge maskierte Männer von den Passanten Wegezoll erpressten, da | |
sah sie ihre sandinistischen Ideale verraten. „Die Händler hier sind nicht | |
reich“, sagt sie. „Sie haben beim Aufstand alles verloren.“ | |
Die Mutter ist lange nicht mit allem einverstanden, was heute von der | |
Regierung Sandinismus genannt wird. [7][Rosario Murillo, die | |
Vizepräsidentin] und Ehefrau Ortegas, mag sie überhaupt nicht. Die nutze | |
Anhänger der Regierung als Schlägertrupps gegen oppositionelle | |
Demonstranten. Alte wie sie, die früher in den Komitees zur Verteidigung | |
des Sandinismus ähnliche Aufgaben übernommen haben, wurden zur Seite | |
geschoben. | |
„Ich werde schon lange nicht mehr zu ihren Versammlungen eingeladen.“ Auf | |
Daniel Ortega aber lässt sie nichts kommen. „Wegen ihm kann ich lesen und | |
schreiben, wegen ihm haben meine Kinder Abitur.“ Auch die kürzlichen | |
Knieoperationen ihres Mannes seien – anders als unter rechten Regierungen – | |
gratis gewesen. „Wir hätten das nie bezahlen können.“ | |
Der Vater zeigt, wie beweglich er wieder ist. Er deutet eine Kniebeuge an. | |
Aber er sitzt noch immer lieber als dass er geht, auf einem Plastikstuhl im | |
Hauseingang, ein Transistorradio auf dem Schoß. Er hört Nachrichten, | |
stundenlang, jeden Tag. Er ist einen Kopf größer als seine Frau und macht | |
den Eindruck eines freundlichen Mannes, der auf die 80 zugeht. | |
Er scherzt mit den Passanten, und wenn er lacht, sieht man nur noch einen | |
Zahn in seinem Mund. Selbst als auf der Straße geschossen wurde, saß er auf | |
seinem Platz in der Tür. „Die jungen Leute sagten, das sei gefährlich, ich | |
solle hineingehen und die Türe schließen. Aber ich bin nicht gerne | |
eingeschlossen.“ | |
Ortega mag er schon lange nicht mehr. „Der ist ein Diktator, wie Somoza.“ | |
Und doch sei der [8][Aufstand im vergangenen Jahr] etwas ganz anderes | |
gewesen als der, bei dem er dabei gewesen ist. „Wir haben Banken | |
überfallen, um Waffen zu kaufen. Es gab eine klare Kommandostruktur.“ Die | |
[9][jungen Leute heute] hätten nichts davon. Keine Strategien und nur | |
lächerliche Waffen. | |
Sie schössen mit selbstgebastelten Knallkörpern aus Stahlrohnen, hätten | |
höchstens ein paar Schrotflinten und vielleicht eine Kalaschnikow. Als dann | |
die Polizei Scharfschützen in Stellung brachte, als es Tote gab in Masaya, | |
„da ist die Lage außer Kontrolle geraten“. Ein Teil der jungen Leute habe | |
Gebäude abgefackelt – das Rathaus, die Staatsanwaltschaft, einen Teil des | |
Marktes für Kunsthandwerk. | |
Und es wurde geplündert. „Ein Krieg“, sagt der Alte, „ist etwas anderes.… | |
Es sei kein Wunder, dass die Aufständischen von Paramilitärs in nur zwei | |
Tagen vertrieben wurden. | |
## Die Paramilitärs | |
Die [10][Paramilitärs – mit Sturmhauben] maskierte bewaffnete Männer in | |
Uniform, die am 17. Juli vergangenen Jahres zu Hunderten auf Pritschenwagen | |
in Masaya eingefahren sind – sind plötzlich da gewesen. Niemand außer ihnen | |
selbst wusste, woher sie gekommen waren. Klar war nur: Sie waren | |
militärisch ausgebildet. Sie waren die Vorhut bei dem, was Ortega eine | |
„Säuberung“ nannte. | |
Ein Schwiegersohn der beiden Alten ist so ein Paramilitär. Sechs Jahre war | |
er bei der Armee. Heute ist er knapp fünfzig und seit ihm der Drill fehlt, | |
ist er in die Breite gegangen. Er gehört noch immer zur Vereinigung der | |
Veteranen des sandinistischen Heers. Den Präsidenten nennt er nicht beim | |
Nachnamen, er spricht von „unserem Comandante“ oder von „Comandante | |
Daniel“. Der habe sich bei den Unruhen sehr klug verhalten. | |
„Er hat nie die Armee ins Feld geschickt, das hätte nicht gut ausgesehen.“ | |
Auch die Polizei sei kaserniert worden, um einen Dialog mit der Opposition | |
zu ermöglichen. Der aber ist schnell gescheitert. „Es war klar: Denen geht | |
es nicht um die Lösung eines Konflikts, die wollen einen Umsturz.“ Und der | |
sei von langer Hand geplant gewesen. Die jungen Leute an den Barrikaden – | |
„die meisten waren Kleinkriminelle“ – seien bezahlt worden, von | |
sandinistischen Dissidenten und „von den USA“. | |
Als dann die Lage außer Kontrolle geriet, als es Plünderungen gab und | |
Brandschatzungen, „da musste unser Comandante handeln“. Er und seine | |
Kameraden von der Veteranenvereinigung seien gerufen worden und sie hätten | |
die Aufgabe erledigt. Er beschreibt das wie ein Räuber-und-Gendarm-Spiel: | |
„Wir haben die Leute eingesammelt und sie dann der Polizei übergeben.“ Nur | |
in Monimbó, einem hauptsächlich von Indígenas bewohnten Stadtviertel, hat | |
es Schießereien und Tote gegeben. „Dahin haben sie sich zurückgezogen.“ | |
## Auf Patrouille | |
Nach zwei Tagen aber war es ruhig in Masaya. Straßenbautrupps rückten an | |
und flickten die aufgerissenen Straßen. Heute erinnern nur noch die Ruinen | |
der Brandschatzungen an die Unruhen. Die Antiaufstandspolizei patrouilliert | |
nach Einbruch der Dunkelheit durch leere Straßen. „Auch wir müssen | |
weiterhin wachsam sein“, sagt der Paramilitär. „Alles, was wir sehen, | |
melden wir der Polizei. Die holt dann nachts die jungen Leute ab.“ | |
Sein Chef bei der Truppe ist ein kräftiger, untersetzter Veteran, der auf | |
die sechzig zugeht. Seit ein paar Jahren ist er nicht mehr bei der Armee, | |
aber er trägt noch immer den klassischen Bürstenhaarschnitt. Er komme aus | |
einer sehr armen Familie, erzählt er. „Als Kind habe ich keine Schuhe | |
besessen.“ | |
Mit vierzehn Jahren meldete er sich beim sandinistischen Heer, war später | |
auf Auslandsmissionen und sogar einmal zur Ausbildung in den USA. Er schied | |
mit einem hohen Rang aus. „Ich habe mich bei der Armee in den Sandinismus | |
verliebt“, sagt er. „Alles, was ich heute bin, verdanke ich unserem | |
Comandante.“ Dessen Frau aber mag er nicht. Die habe die Veteranen zu lange | |
ignoriert. | |
Dass es im April zum Aufstand kommen konnte, ist für ihn „ein Versagen des | |
Geheimdienstes“. Der habe einfach geschlafen. Den Veteranen, behauptet er, | |
wäre das nicht passiert. „Wir haben noch immer unsere alten Strukturen, | |
eine Abteilung für Logistik, unseren eigenen Geheimdienst. Wir wissen | |
Bescheid, was läuft.“ Als sie dann endlich gerufen wurden, waren sie | |
bereit. Das sei im Übrigen ganz legal gewesen. | |
## Legaler Einsatz | |
Es gebe im Polizeigesetz einen Paragrafen, nach dem, wenn es die Lage | |
erfordert, freiwillige Hilfspolizisten rekrutiert werden könnten, „bis zu | |
drei Hilfspolizisten für jeden Polizisten“. Das war denn auch ihre | |
offizielle Bezeichnung: „policías voluntarios“, „freiwillige Polizisten�… | |
Er selbst, erzählt der Chef der Paramilitärs, sei an der Ausarbeitung des | |
Plans zur Rückeroberung von Masaya beteiligt gewesen. „Wir hatten unsere | |
Männer im Feld und wussten, wo Widerstand zu erwarten war.“ Mit 700 Mann | |
seien sie eingerückt, im Schlepptau die Antiaufstandspolizei. | |
„Es war – man kann es nicht anders sagen – eine klassische | |
Militäroperation.“ Nur die Panzer fehlten. Stattdessen hatten sie mit | |
Stahlblech gepanzerte Kleintransporter mit Schützen auf der Ladefläche, und | |
hinter jedem Fahrzeug ein Trupp Infanterie. „Wir wissen, wie man so etwas | |
macht“, sagt er. „Wir haben es oft geübt. Es war im Grunde ein | |
Kinderspiel.“ | |
Für die jungen Leuten an den Barrikaden war es kein Spiel. Allein in Masaya | |
haben über dreißig von ihnen das Leben verloren. Viele anderen sind | |
geflohen. Es heißt, alleine aus dieser Stadt hätten sich 2.500 in Costa | |
Rica in Sicherheit gebracht. Andere verstecken sich bei Angehörigen und | |
Freunden auf dem Land, meistens weit weg, in einer anderen Provinz. Viele | |
aber sind noch in der Stadt und hoffen, von der Polizei und ihren Spitzeln | |
nicht erkannt zu werden. | |
## Nochmal im Krieg | |
Auch ein Sohn des alten Paares, ein Schwager des Paramilitärs, hält sich | |
heute bedeckt. Auch er war ein paar Jahre beim Militär, hat sich mit | |
sechzehn Jahren freiwillig verpflichtet. Er wollte kämpfen, die | |
sandinistische Revolution gegen die von den USA finanzierten rechten | |
Contras verteidigen, irgendwo im Norden in den Bergen und am liebsten Mann | |
gegen Mann. | |
Die zu Hause gelernte politische Überzeugung hatte sich mit jugendlichen | |
Träumen von Heldentum und Abenteuer gemischt. Heute ist er knapp fünfzig | |
und sagt: „Ich habe seither keine Waffe mehr in die Hand genommen.“ Er | |
weiß, dass Krieg eine schmutzige Sache ist. | |
Er wirkt abgeklärt, ruhig und überlegt. Ein für nicaraguanische | |
Verhältnisse großer Mann mit feinem Schnauz und breiten Schultern. Er | |
spricht langsam und leise. Seine Verwandten aber sagen, er könne auch | |
impulsiv sein. Der Aufstand im vergangenen April, das war für ihn so ein | |
Impuls. „Ich habe Kleider angezogen, die ich schon lange nicht mehr trage, | |
und ich habe mir ein altes Hemd ums Gesicht gebunden“, sagt er. | |
„Man durfte mich nicht erkennen. Ich arbeite bei einer staatlichen | |
Institution. Ich darf meinen Job nicht verlieren. Ich muss für meine Frau | |
und meine Tochter sorgen.“ So ging er zu den Barrikaden. Er nahm eine | |
Steinschleuder mit, mehr nicht. Schleudern sind für ihn keine Waffen. | |
## Auch Tochter protestiert | |
In den ersten Tagen des Aufstands nahm er auch seine Tochter mit. Sie hat | |
gerade ihr Jurastudium abgeschlossen, aber Anwältin werden will sie nicht. | |
„Es gibt keine Gerechtigkeit in Nicaragua“, sagt sie. Sie nennt sich, wie | |
all die jungen Leute, die an den Barrikaden waren, eine „autoconvocada“ – | |
eine, die sich selbst zum Protest aufgerufen hat. „Es gibt keine | |
Organisation und keine Parteien“, sagt sie. „Wir haben uns über Gruppen bei | |
Facebook oder WhatsApp verabredet.“ | |
Als Erstes wurde deshalb die von der Regierung kurz vorher eingeführte | |
kostenfreie drahtlose Internetverbindung im Zentralpark von Masaya gekappt. | |
Die junge Frau hat inzwischen die entsprechenden Plattformen von ihrem | |
Mobiltelefon gelöscht. Wenn die Polizei nach Einbruch der Dunkelheit junge | |
Leute kontrolliert, will sie als erstes ihre Mobiltelefone sehen. Finden | |
sich dort verdächtige Einträge, werden sie mitgenommen. | |
„Als immer öfter geschossen wurde, habe ich ihr verboten, mit zu den | |
Barrikaden zu kommen“, sagt ihr Vater. „Es wurde zu gefährlich und die | |
jungen Leute wussten nicht, wie man sich in einer solchen Situation | |
verhält.“ Er weiß das, er hat das gelernt, und er hat versucht, sein Wissen | |
an die nächste Generation weiterzugeben. „Die konnten die Bewegungen des | |
Feindes nicht lesen und wussten nicht, wann sie in Deckung gehen müssen. | |
Die waren euphorisch und völlig ungeschützt.“ | |
Und weil immer auch ein paar Betrunkene dort waren und ein paar, die sich | |
mit Marihuana Mut angeraucht hatten und seinen Ratschlägen nicht folgten, | |
habe es eben auch Tote gegeben. Plünderungen und Brandschatzungen hält er | |
in so einer Situation für normal. „Das passiert bei jeder sozialen | |
Erhebung, man hat nicht immer alles unter Kontrolle.“ | |
## Bomben bauen, wie früher | |
Ein Neffe von ihm, den er oft bei den Barrikaden traf und der damals für | |
die Logistik zuständig war („Schwarzpulver besorgen und verteilen und | |
solche Sachen“), sieht das nicht so gelassen. „Die Plünderungen haben uns | |
sehr geschadet“, sagt er. „Und noch viel mehr, dass ein gefangen genommener | |
Polizist bei lebendigem Leib verbrannt worden ist.“ Da sei es leicht, die | |
Aufständischen als Terroristen hinzustellen, wie die Regierung es tut. Es | |
habe nie Einigkeit geherrscht, Versammlungen im Zentralpark seien immer | |
chaotisch verlaufen. | |
Die einen sahen die Barrikaden als Druckmittel, um Verhandlungen mit der | |
Regierung zu erzwingen. „Es gab aber auch eine bewaffnete Gruppe aus | |
Monimbó, die versucht hat, die Polizeistation zu stürmen. Als die Polizei | |
dann zurückgeschossen hat, gab es die ersten Toten.“ Hinterher habe man | |
behauptet, die Polizei habe das Feuer eröffnet. „Das stimmt nicht, ich habe | |
es gesehen. Ich war in derselben Straße keine zwei Häuserblocks entfernt.“ | |
Als dann die Paramilitärs anrückten, riet sein Onkel zum Rückzug. „Ich sah, | |
dass wir keine Chance hatten, und wollte weitere Tote vermeiden“, sagt er. | |
Die meisten hätten das eingesehen. Nur vielleicht zweihundert hätten sich | |
in Monimbó verschanzt und wollten die dortigen Barrikaden verteidigen. Am | |
zweiten Tag der paramilitärischen Operation gab es dort dann auch ein | |
halbes Dutzend Tote. Viele wurden verhaftet. | |
Und nun? „Wir machen weiter“, sagt der Neffe. Viel aber sei derzeit nicht | |
möglich. Zuletzt hat er zehn Kontaktbomben besorgt, bei einem alten | |
Bastler, der solche Sprengkörper schon beim Aufstand gegen Somoza gebaut | |
hat. „Ich habe sie mit dem Fahrrad abgeholt. Wenn ich da erwischt worden | |
wäre … Ich weiß auch nicht, wo ich den Mut hergenommen habe.“ Nachts fuhr | |
er mit drei Freunden auf zwei Motorrädern los. | |
## Freunde im Knast | |
Die beiden Männer auf dem Sozius warfen die Bomben gegen die Haustüren von | |
ihnen bekannten Paramilitärs und Spitzeln. „Die Sprengsätze waren nicht | |
sehr potent“, sagt er. „Wir wollten niemand verletzen. Wir wollten sie nur | |
erschrecken und zeigen, dass wir noch da sind.“ Der Bombenbauer wurde kurz | |
darauf verhaftet und sitzt noch immer im Gefängnis. Er hat keine Namen | |
verraten. Sonst säßen heute auch die vier jungen Männer hinter Gittern. | |
Wichtiger als solche Aktionen aber sei, dass man sich organisiere, um es | |
beim nächsten Mal besser zu machen. „Wir haben täglich Kontakt über | |
Internetplattformen“, erzählt er. „Auch mit den Freunden, die in Costa Rica | |
sind.“ Es gebe da viele Gerüchte, von Ausbildungslagern für eine Guerilla | |
im südlichen Nachbarland, von angeblichen Containern voller Waffen. | |
„Alles Quatsch“, sagt der junge Mann. „Wir wollen keinen Krieg.“ Er hof… | |
auf die kürzlich gegründete „Unidad Nacional Azul y Blanco“, einer nach d… | |
Nationalfarben Blau und Weiß benannten Sammelbewegung aus rund vierzig | |
oppositionellen Organisationen. Die könnte, glaubt er, der Keim einer | |
wirklichen Oppositionspartei werden. Einer, die in der Lage ist, Daniel | |
Ortega herauszufordern. | |
Sein Onkel ist da [11][nicht so optimistisch]. „Wir leben in einer | |
Diktatur“, sagt er. Erst habe sich Ortega das Parlament untertan gemacht, | |
dann den Obersten Gerichtshof, dann den Wahlrat. Und dann habe er auch noch | |
seine Frau zur Vizepräsidentin gemacht. „Das Einzige, was ihm noch zum | |
Diktator fehlte, waren Tote. Jetzt hat er sie.“ | |
10 Feb 2019 | |
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## AUTOREN | |
Toni Keppeler | |
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