# taz.de -- Auf dem Land in Nicaragua: Selbst ist die Frau | |
> Werden sie von ihren Männern mit Kindern und Hof sitzen gelassen, haben | |
> Frauen ein Problem. Oder machen daraus ein Tourismusprojekt. | |
Bild: Die Gastgerberin Maribel | |
Estelí taz | Das Antlitz von Jesus wacht über den Fahrer, mit der Botschaft | |
„Dios nos bendiga“. Gott beschütze uns. Schutz, den wir dringend brauchen, | |
als sich der sogenannte Chicken-Bus mit lautem Furz von Estelí knapp 150 | |
Kilometer nördlich von Managua verabschiedet. Es ist eins dieser Gefährte, | |
die vor Jahrzehnten als US-amerikanische Schulbusse ausgedient haben und | |
irgendwann in Nicaragua gelandet sind. Hühner sind nicht mit von der | |
Partie, dafür umso mehr Zweibeiner. | |
Überwiegend Frauen mit mehr Einkaufstaschen als Armen, die um die wenigen | |
vorhandenen Sitz- und Stehplätze kämpfen. Der Begriff „voll“ ist im | |
nicaraguanischen Vokabular offen für Interpretation. Schülerinnen, die | |
Fanta aus tröpfelnden Plastiktüten nuckeln – das ist billiger als Flaschen | |
–, werden von korpulenten Straßenverkäuferinnen mit Riesensnackschüsseln | |
auf dem Kopf auf die Sitzenden geschoben, um noch schnell Essbares an Frau | |
oder Mann zu bringen. Aus dem Lautsprecher an der Decke dröhnt in maximaler | |
Lautstärke „Escapar“ von Enrique Iglesias, doch an Flucht ist gar nicht zu | |
denken. Nicht, wenn man auf dem Land in Nicaragua geboren ist und gerade | |
mal wieder den wöchentlichen Großeinkauf in Estelí getätigt hat. Nicht, | |
wenn ein Bauernhof bewirtschaftet werden will. Nicht, wenn man eine Frau | |
ist. | |
Etwa 30 Kilometer von Estelí entfernt erreicht der Chicken-Bus das | |
[1][Naturreservat] Miraflor, seit 1990 unter Schutzstatus und 254 | |
Quadratkilometer groß, das drei Klimazonen umfasst: die untere trockene | |
Region, die mittlere und die obere feuchte Ebene. Per Zufall habe ich von | |
der Möglichkeit erfahren, dieses Reservat nicht nur zu besuchen, sondern | |
dort bei einheimischen Bauern zu wohnen. Organisiert wird das Ganze von der | |
landwirtschaftlichen Kooperative [2][UCA in Estelí], die sich für | |
Ökotourismus in der Region einsetzt. Ihre Ursprünge liegen im Jahr 1990, | |
als die Bewohner der Region während des Regierungswechsels in Nicaragua die | |
Notwendigkeit erkannten, Genossenschaften zu stärken, um unter anderem | |
besser auf die Wirtschaftspolitik und Finanzierung von landwirtschaftlicher | |
Produktion Einfluss nehmen zu können. | |
## Im Märchen-Nebel-Wald | |
Dabei geht es nicht nur um Umweltschutz, sondern auch um das Wohl der | |
Landbevölkerung. Besucher nutzen öffentliche Verkehrsmittel, um zum Ziel zu | |
kommen, essen, was bei den Gastgebern auf den Tisch kommt, und können sich | |
in den ländlichen Alltag einbringen. Oder mit einem heimischen Guide auf | |
Tour im Reservat gehen, sei es zu Fuß oder zu Pferd. | |
Bald ist es, als würde der alte Schulbus in einen Märchenwald hineinfahren. | |
Nieselregen überzieht die Fenster und Nebel verfängt sich in Bäumen, die | |
als Barba de viejo bezeichnet werden – die Bäume des Altmannbarts. Die | |
Assoziation der schlapp herunterhängenden Stränge mit grauen Bärten passt. | |
Bärte, die Kühe mit Vorliebe abrupfen und sich einverleiben. | |
Pünktlich um 12 Uhr bin ich bei meiner Gastgeberin. „Maribel, Casa La | |
Perla“, steht auf den Zettel gekritzelt, den ich von der UCA bekommen habe. | |
Von der Schlammstraße, wo mich der Bus ausspuckt, laufe ich einen | |
Schlammweg hoch und bin da. In einem kleinen Steinhaus. Bei einer Frau Ende | |
40 in violetter Schürze, die das schwarze Haar streng zurückgekämmt trägt | |
und das aufrichtige Lächeln mit Lippenstift untermalt. | |
Kaum habe ich meinen Rucksack abgesetzt, landet ein großer Teller Gallo | |
Pinto vor mir auf dem Tisch – das Nationalgericht Nicaraguas, Reis und rote | |
Bohnen. Maribel und ich essen alleine, ihre Tochter Sandra, ihr Sohn und | |
dessen Frau seien noch auf dem Feld. „Dieses Landtourismusprojekt ist eine | |
Kooperative, die ich 1998 zusammen mit fünf anderen Frauen gegründet habe, | |
um finanzielle Unterstützung für Frauen zu erhalten“, erzählt sie stolz. | |
Normalerweise hätten nur Männer Geld bekommen, und ihr Mann habe sie mit | |
sechs Kindern sitzen lassen. „Das ist normal in Nicaragua. Die Männer sind | |
besitzergreifend, die Frauen dürfen überhaupt nichts.“ | |
Aber sie und ihre Familie hätten auf sich selbst gesetzt – und auf den | |
Tourismus. „Wir bauen gerade aus, haben bald Platz für 25 Personen, wie | |
Schulklassen.“ Denn nicht nur ausländische Besucher fänden das Landleben | |
interessant, sondern auch Stadtbewohner jeden Alters. „Seit Kurzem haben | |
wir sogar Solarenergie dank einer Spende von 1.000 Dollar aus dem Ausland.“ | |
## Selbsthilfe Frauenpower | |
Doch ausländische Unterstützung bekommt Maribel nicht nur von Fremden. Ihr | |
ältester Sohn lebe in den USA und verdiene 700 Dollar die Woche, so dass er | |
der Familie etwas schicken könne. Maribels Blick trübt sich, als sie | |
erzählt, dass er nie zu Besuch kommen könne, weil man ihn dann nicht zurück | |
in die USA ließe. „Wir brauchen das Geld. Eine Kuh kostet 1.500 Dollar. Wir | |
haben eine, die gibt aber nicht genug Milch zum Verkauf.“ Trotzdem sei es | |
besser, auf dem Land zu leben, als in irgendeiner Fabrik in der Stadt zu | |
arbeiten.„Das Land gibt uns, was wir zum Überleben brauchen, schenkt uns | |
Freiheit.“ | |
Nach dem Essen zeigt sie mir ihre Version von Freiheit. Ihr kleines Haus | |
aus fensterlosen Zimmern mit Lehmboden, mit einem Wohnzimmer, dessen | |
einziges Regal voller Pokale steht, daneben ein Motorrad. In der | |
angrenzenden Küche wird mit Holz gekocht, ein riesiger Hund liegt am Herd. | |
Draußen stehen Dusch- und Toilettenhütten. Fließendes Wasser gibt es noch | |
nicht, jedoch einen Schlauch, der an eine Art provisorische Kanalisation | |
hinter dem Haus angeschlossen ist. | |
Kurz darauf lerne ich Maribels 20-jährige Tochter Sandra kennen sowie ihren | |
Sohn und dessen Frau, die aussieht, als wäre sie erst in der fünften | |
Klasse. Sandra brennt darauf, mir den Hof zu zeigen. „Wir bauen Kaffee, | |
Mais, Kartoffeln, Kohl und Bananen an.“ Es geht durch matschige Felder zum | |
Kräutergarten ihrer Mutter, die sich auch als Medizinfrau übt. | |
„Ich fahre jedes Wochenende nach Managua zum Englischkurs, dann können wir | |
uns besser mit ausländischen Touristen verständigen. Außer mir kann noch | |
keiner in der Familie Englisch“, erzählt sie. Heiraten wolle sie nicht, die | |
Männer in Nicaragua seien unausstehlich. „Ich versuche lieber, etwas | |
dazuzuverdienen. Wenn ich nach Managua fahre, kaufe ich günstige Klamotten | |
und verkaufe sie teurer an die Leute hier.“ | |
Nachdem wir zum Hof zurückgekehrt sind, packt Sandra einen Stapel Klamotten | |
zusammen und zieht los. Kurz vorm Abendessen kommt sie strahlend zurück und | |
drückt ihrer Mutter ein paar Scheine in die Hand. „Das Geschäft war heute | |
gut!“ Maribel schaut stolz von Sandra zu mir. Dass ich auch mit anpacke, | |
erlaubt sie nicht. Ich solle meine Zeit genießen. | |
## Frauenkooperativen | |
Doch obwohl ich mich auf dem Hof bald tiefenentspannt fühle, schaut mich | |
Maribel eines Abends bekümmert an. „Manchmal mache ich mir Sorgen, dass es | |
Leuten wie dir, die etwas anderes gewöhnt sind, hier bei uns nicht gut | |
genug ist.“ Sofort schäme ich mich dafür, dass ich beim ersten | |
Toilettenbesuch die Nase über die vielen Fliegen gerümpft habe. Und dafür, | |
dass ich beim Duschen, das aus einem über den Kopf gekippten, kalten Eimer | |
Wasser bestand, dankbar war, mich nicht ständig so waschen zu müssen. Aber | |
wäre ich so weit gekommen wie Maribel, wenn ich seit Jahren in ihren | |
Gummistiefeln durchs Leben gehen würde? | |
Gegen achtzehn Uhr werden die Frauen unruhig – es ist Zeit für die | |
Sechs-Uhr-Seifenoper. Da entweder der kleine Schwarzweißfernseher oder das | |
Licht laufen kann, kommt eine Kerze auf den Tisch und die Röhre wird | |
angeschaltet. Der Serie folgen die Nachrichten, die jeden alten Mann und | |
jedes Kind abbilden, die an diesem Tag in Nicaragua überfahren wurden. Um | |
kurz nach sieben gehen alle ins Bett. Die Tage auf dem Land enden und | |
beginnen früh. | |
Als der Morgen des Abschieds kommt und der Bus bereits aus der Ferne hupt, | |
damit sich alle Reisewilligen bereit machen können, füllt mir Maribel noch | |
schnell hausgemachte Guayaba-Marmelade in eine Tüte ab. Sie umarmt mich | |
kurz und schenkt mir dasselbe herzliche Lippenstiftlächeln wie am Anfang. | |
Dann schnappe ich meinen Rucksack und laufe zur Straße, ein wenig von | |
Maribels Zähigkeit mit im Gepäck. | |
Eine weitere Bäuerin, die in Maribels Kooperative mitwirkt, ist Dora | |
Iglesias, ebenfalls knapp 50, meine zweite Gastgeberin. Sie lebt in der | |
unteren Zone in Los Cocos, wo es bereits fließendes Wasser gibt, wo das | |
Haus zwei Geschosse und Fliesen hat und ich eine eigene kleine Holzhütte | |
bekomme. Als ich aus dem Bus steige, steht Dora bereits vor der Tür, mit | |
offenen Armen, als wäre ich eine nach langer Zeit heimgekehrte Freundin. | |
Stolz zeigt sie mir die Hütte, deren Wände Poster zieren. Auf einem, das | |
den ländlichen Tourismus vermarktet, ist sie selbst abgebildet. „UCA | |
besteht aus insgesamt 12 Kooperativen, die sich um Naturschutz, | |
Unterstützung für die Lokalbevölkerung und Ökotourismus bemühen. Vier davon | |
drehen sich nur um Frauen.“ Ein wichtiges Ziel der Kooperativen sei es, | |
mehr Bewusstsein für Umweltschutz in der Bevölkerung selbst zu wecken. „Ein | |
großes Problem für uns ist die Müllentsorgung. Viele verbrennen Plastik | |
irgendwo und sind sich nicht bewusst, wie umweltschädlich das ist. Für | |
solche Schwierigkeiten sind wir über die Jahre sensibler geworden.“ | |
Es gebe 45 Gemeinden mit 450 oder 500 Einwohnern und einige kleinere in | |
Miraflor. „Mittlerweile machen etwa 70 Prozent der Familien bei unseren | |
Kooperativen mit. Zuerst gab es Probleme, weil einige Familien neidisch auf | |
die waren, die Touristen unterbrachten und mehr Gewinn einstrichen.“ Dann | |
hätten viele es selbst probiert, gemerkt, dass es viel Arbeit bedeute und | |
wieder aufgegeben. | |
Dora ist sich jedoch bewusst, wie viel Früchte die Kooperativen nun tragen: | |
„Es gibt Grundschulen und weiterführende Schulen in einigen Gemeinden. In | |
den 60ern hatten wie noch eine hohe Analphabetenrate.“ Nun sei Bildung | |
gerade vielen jungen Menschen wichtig – man bekomme weniger Kinder und tue | |
mehr für sich. Auch Dora hat nur zwei bereits erwachsene Kinder. „Mein Mann | |
ist weg, in den USA“, erzählt sie beim ersten Abendessen aus | |
Hähnchenkeulen, Reis, frittierten Bananen und Salat. „Aber ich brauche ihn | |
auch gar nicht mehr.“ | |
## Leben statt Überleben | |
Bei Dora begreife ich, wie in Miraflor menschliches und naturgegebenes | |
Kapital harmonisieren. Gerade der wachsende Landtourismus hat der | |
Bevölkerung Finanzierungshilfen für umweltfreundlichere Landwirtschaft | |
eingebracht und einen Markt für den Kaffee, der in der Region rund um | |
Miraflor angebaut wird. „Es gibt viele kleine Produzenten, und dank der | |
ausgezeichneten Qualität unseres Kaffees bekamen wir sogar das Zertifikat | |
Flocert für gerechten Handel.“ Dies erlaube der Kooperative auch | |
international zu verkaufen, darunter nach Deutschland, in die USA und nach | |
England. „Wir haben viel Unterstützung aus Deutschland bekommen, sogar von | |
Milka! Sie verkaufen einen Teil unseres Kaffees in Deutschland weiter.“ | |
Wegzugehen kann sich Dora heute nicht mehr vorstellen. Sie sei zufrieden | |
auf dem Land mit ihrem kleinen Hof, und die Welt komme ohnehin zu ihr. | |
Dennoch ist sie nur fast wunschlos glücklich: „Es könnten ruhig noch mehr | |
Menschen kommen. Und ich werde besser Englisch lernen, damit ich auch mit | |
den Leuten sprechen kann, die kein Spanisch können.“ | |
Als der Chicken-Bus irgendwann wieder aus der Ferne hupt, um mich | |
einzusammeln, liegen Dora und ich uns in den Armen. Meine neue fremde | |
Freundin, die gar nicht mehr fremd ist. Noch lange denke ich an Dora und an | |
Maribel. An Frauen, die es im ärmsten Land Zentralamerikas geschafft haben, | |
die ihnen ausgeteilten Karten so zu spielen, dass sie heute mit gewissem | |
Stolz leben statt nur überleben können. | |
14 Mar 2020 | |
## LINKS | |
[1] https://vianica.com/attraction/27/miraflor-natural-reserve | |
[2] https://ucamiraflor.org/ | |
## AUTOREN | |
Bernadette Olderdissen | |
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