# taz.de -- Russlands Gesellschaft ist gespalten: Manche reden vom Wetter | |
> Die Menschen in Russland verzweifeln. Der Angriff auf die Ukraine kann | |
> nicht mehr verleugnet werden. Eindrücke zwischen Indoktrination und Exil. | |
Bild: Geflüchtete Russen in einem Auto an der georgischen Grenze, 30. Septembe… | |
Wirklich schade, dass man Strelkow an die Front geschickt hat. Die Menschen | |
brauchen ihn in Russland. Er ist [1][der Stolz dieses Landes]“, schreibt | |
ein Blogger namens Der Kommissar, der verschwindet vor Kurzem über Igor | |
Girkin, Pseudonym Strelkow – der Schütze. „Auch für ihn wird an der Front | |
alles anders sein als im Jahr 2014. Wir haben nicht mehr ‚1918‘, wir haben | |
‚1942‘, wie in Stalingrad.“ | |
Girkin-Strelkow, geboren 1970 in Moskau, war als Oberst der russischen | |
Armee federführend bei der Besetzung der Ostukraine 2014. Er hat dort die | |
Entführung und Ermordung von ukrainischen Lokalpolitikern angeordnet und | |
ist mit hoher Wahrscheinlichkeit verantwortlich für den Abschuss einer | |
Passagiermaschine der Malasyia Airlines auf dem Flug von Amsterdam nach | |
Kuala Lumpur am 17. Juli 2014 über dem Gebiet der Ukraine, bei dem alle 298 | |
Insassen getötet wurden. | |
Vier Deutsche waren unter den Opfern. Girkin ist aufgrund seiner | |
mutmaßlichen Beteiligung international zur Fahndung ausgeschrieben. | |
Russland hat ihn nicht ausgeliefert. Seit 2020 findet im niederländischen | |
Den Haag ein Prozess um den Flugzeugabschuss statt. Girkin wird darin als | |
einer von vier Tatverantwortlichen geführt. | |
## Social-Media-Einpeitscher | |
Bevor er wieder an die Front geschickt wurde, wurde er aus der Armee | |
entlassen, auch beim FSB, dem russischen Inlandsgeheimdienst, wird er nicht | |
mehr als Mitarbeiter geführt. Aber er war lange präsent, tummelte sich in | |
den russischen sozialen Netzwerken und genoss da Starruhm. Telegram ist | |
seine Hauptspielwiese, da hat Girkins eigener Kanal 750.000 Abonnenten. | |
V-Kontakte, das russische Facebook, bespielt er auch. Seine [2][„Ich | |
erkläre Euch den Krieg“]-Videos lädt er auf „brighteon“ hoch. | |
Mit der Noworossija(Neurussland)-Flagge im Hintergrund positioniert sich | |
Girkin als Ultra-Hardliner, für den das eigentliche Kriegsziel im Anschluss | |
aller Gebiete des im Zarenreich durch Binnenkolonialisierung entstandenen | |
„Noworossija“ liegt. Das umfasste etwa auch Charkiw und Odessa. Vor wenigen | |
Wochen setzt sich Girkin-Strelkow in einem Video mit dem 21. September, dem | |
Tag der Teilmobilmachung, auseinander. | |
Der Social-Media-Oberst übt vehemente Kritik am Gefangenenaustausch, der | |
gleichentags stattgefunden hat. Seiner Meinung nach hätte an den | |
ukrainischen Asow-Kämpfern, die durch den Tausch frei kamen, die | |
Todesstrafe vollstreckt werden sollen. Das Wort „erschießen“ verwendet | |
Girkin im Bezug auf die ukrainischen Kriegsgefangenen, aber auch auf | |
Jugendliche in Moskau, die gegen die Teilmobilmachung protestiert haben. | |
„Man müsste sie nicht gleich erschießen, die bohemisierte | |
Hauptstadtjugend“, aber man fasse sie viel zu sanft an. Denn die Jugend sei | |
die Fünfte Kolonne. | |
## Stalinistischer Terminus | |
Girkin-Strelkow übernimmt hier einen Terminus, den Stalin während des | |
Zweiten Weltkriegs für Bevölkerungsgruppen in der Sowjetunion benutzte, die | |
er des Landesverrats verdächtigte, zum Beispiel die Wolgadeutschen. Dann | |
versteigt er sich zur Behauptung: „Die Wurzel dieser Fünften Kolonne geht | |
hinauf bis in den Kreml.“ | |
Direkte Kritik an Wladimir Putin vermeidet der harte Oberst, aber er | |
kritisiert dessen Umgebung, die allgegenwärtige Korruption und die daraus | |
resultierende Ineffizienz der russischen Armee bei der Kriegsführung in der | |
„sogenannten Ukraine“ (Originalton Girkin). Er war und ist ein | |
Überzeugungstäter. Und das ist wiederum der Grund für Tausende Russinnen | |
und Russen, darunter viele Armeeangehörige, dem Ultranationalisten, der | |
jetzt sogar wieder an der Front ist, auf Telegram zu folgen. | |
## Zerstörerischer Putin | |
Anfang Oktober legt eine Frau einen handgeschriebenen Zettel auf das Grab | |
von Putins Eltern in Sankt Petersburg: „Ihr Eltern eines | |
Größenwahnsinnigen, nehmt ihn zu euch. Von ihm geht so viel Zerstörung aus. | |
Ich wünsche ihm den Tod, ihr habt einen Mörder aufgezogen.“ Es ist die | |
verzweifelte Aktion einer Einzelnen. Sie wurde inzwischen unter Hausarrest | |
gestellt. | |
Der Telegram-Kanal „Archangel Speznasa Z“ der gleichnamigen Spezialeinheit | |
zeigt unzählige Videoclips aus dem Krieg, die die Angehörigen der Einheit | |
als unerschrocken darstellen. Die mehr als 600.000 Follower bekommen | |
täglich bis zu zehn Posts dieser Art. | |
Vergangenen Samstag aber erfolgte plötzlich ein Crowdfunding-Aufruf: „Sehr | |
geehrte Abonnenten, unsere Jungs an der Front brauchen eure Hilfe, was | |
Ausrüstung und Technik betrifft.“ Es müssen besorgt werden: 9 Taschenlampen | |
Armytrek, 20 Paar Stiefel Vaneda, ein Fernglas, 5 Feldapotheken March. „Es | |
fehlen noch 500.000 Rubel.“ (Umgerechnet etwa 8.300 Euro) | |
Ende September schreibt ein junger Schauspieler aus Moskau einem engen | |
Freund, der längst im Ausland lebt: „Einige Jungs haben sich das Leben | |
genommen, nachdem sie den Einberufungsbefehl erhalten haben. Ich habe dazu | |
nicht das Recht. Ich kann aber auch nicht abwarten, ob ich in der | |
Todeslotterie gewinne oder verliere. Und darum muss ich jetzt alles | |
verlassen, was mir vertraut und teuer ist. Mein Leben ist nun komplett | |
fremdbestimmt. Von einem Tag auf den anderen hat man mir jegliche Hoffnung | |
geraubt. Man hat mir mein Leben buchstäblich entrissen.“ | |
## Per Fahrrad nach Georgien geflüchtet | |
In Moskau gehen Anfang Oktober regimetreue Menschen auf die Straße und | |
fordern tatsächlich „Auf nach Washington! Weg mit Biden!“ [3][In Tiflis | |
wird zur gleichen Zeit an jeder Ecke russisch gesprochen]. Neun junge, | |
geflüchtete Russen im wehrfähigen Alter zwischen 20 und 25 sitzen in einem | |
Park. Seit vier Tagen sind sie in der Stadt. Einer ist mit dem Fahrrad über | |
die russisch-georgische Grenze gekommen, die anderen haben sich per | |
Direktflug nach Jerewan ins benachbarte Armenien abgesetzt und sind von | |
dort mit dem Bus weiter in die georgische Hauptstadt gefahren. | |
Eine Hälfte ihrer Eltern sei für den Krieg, die andere dagegen, sagen sie. | |
Und überlegen dann pragmatisch: Tiflis ist teuer, ihr Geld reiche gerade | |
für drei Monate, also wollen sie so schnell wie möglich weiter in die | |
billigere Türkei, da kann man neun Monate davon leben. | |
Auf dem Rustaveli-Boulevard, der Hauptstraße von Tiflis, geht eine Familie | |
spazieren. Mutter (79), Sohn (46), Enkel (21). Sie sprechen russisch. Der | |
Sohn lebt als regimekritischer Journalist schon seit Jahren im Ausland. Die | |
Mutter in Moskau. Es ist ihr erstes Wiedersehen seit Kriegsbeginn. Der Sohn | |
hat sein Ukraine-Unterstützungs-T-Shirt diesmal im Koffer gelassen. Das | |
Thema „Krieg in der Ukraine“ wird von beiden Seiten umschifft. Dann rutscht | |
der Mutter doch raus: „Euch geht es ja jetzt so schlecht im Westen!“ und | |
„Ich hasse die Ukrainer!“ | |
## Radikalisierende Tendenzen auf der Bühne | |
Am Abend geht es ins russischsprachige Gribojedow-Theater. Eine Premiere | |
steht an: „Stalin 24“, eine beißende Satire auf radikalisierende Tendenzen | |
in der russischen Gesellschaft. Auf der Bühne stehen Schauspieler:Innen | |
aus der Ukraine, aus Belarus, Russland, Turkmenistan und Georgien. Das | |
Exil-Ensemble ist für fast alle Heimatersatz und bietet gleichzeitig die | |
Möglichkeit, aus der Passivität herauszutreten, sich auszudrücken und | |
politisch zu positionieren. | |
Der Saal mit seinen fast 200 Plätzen ist ausverkauft, das (Exil-)Publikum | |
steht auf und applaudiert anhaltend. Für die Dauer der Vorstellung entsteht | |
so die gerade jetzt so wichtige temporäre Gemeinschaft von Gleichgesinnten, | |
die Kraft gibt, die Umstände des Exils auszuhalten.Und alle, die Spielenden | |
und die Zuschauenden, sind hier Handelnde. Nur durch ihr Zusammenspiel wird | |
die Kritik am System Putin öffentlich. | |
Selbst die Mutter des Journalisten lobt die Machart der Inszenierung. Auf | |
den Inhalt des Stücks geht sie dagegen mit keinem Wort ein. Ihr Sohn | |
insistiert nicht. Wann und ob man sich überhaupt wiedersieht, steht ohnehin | |
in den Sternen. Lieber redet man übers Wetter, umarmt sich und freut sich, | |
dass man sich noch hat. | |
Auf Telegram wird derweil zigfach ein Gedicht geteilt. Ein gewisser Andrej | |
Orlow dichtet: „Ich habe geträumt, dass die Russen ein Land haben, von dem | |
kein Krieg ausgeht, in dem nur eins wichtig ist: / Das Land braucht dich | |
und du brauchst das Land / Dieses Land ist mit seinen Grenzen zufrieden, | |
vor diesem Land muss man keine Angst haben. / In diesem Land geht es nicht | |
ums Überleben, sondern ums Leben. / Und niemand zwingt dich, dieses Land zu | |
lieben.“ | |
17 Oct 2022 | |
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## AUTOREN | |
Katja Kollmann | |
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