| # taz.de -- Rückkehr nach Afghanistan: „Ich bin einfach dort“ | |
| > Asif N. sollte aus der Berufschule heraus abgeschoben werden. Seine | |
| > Mitschüler schützten ihn. Nun wurde bekannt: Er ist ausgereist – | |
| > „freiwillig“. | |
| Bild: Asif N. bei einem Gerichtstermin. „Deutschland ist wie ein Friedhof fü… | |
| „Wenn ich sterbe, okay. Aber vorher fange ich an zu leben“, sagte Asif zu | |
| mir am 3. Juni, drei Tage vor seiner Flucht, und seine Augenbraue zuckte | |
| nervös. „In Afghanistan stirbt man nur einmal. Weißt du, in Deutschland | |
| stirbt man jeden Tag.“ | |
| Wir Aktivist*innen wussten schon lange, dass Asif nach Afghanistan geflohen | |
| ist. Wir haben es geheim gehalten, weil er nicht mehr in die Zeitung | |
| wollte, nicht in die Nürnberger Nachrichten, wo er dann doch am vergangenen | |
| Donnerstag landete. Und wo sich ein weiteres Mal die „besorgten | |
| Bürger*innen“ auf seinem Rücken auskotzten. Auch am Donnerstag musste die | |
| Kommentarspalte nach kurzer Zeit gesperrt werden, „[…] aufgrund der | |
| zahlreichen fremdenfeindlichen und rassistischen Kommentare […]“ | |
| Wir haben Asifs Flucht auch deswegen geheim gehalten, weil potentielle | |
| Entführer sonst seinen Aufenthaltsort kennen. Wie das Hotel in Kabul, in | |
| dem er vor zwei Monaten nach seinem stundenlangen Flug unterkam. Das | |
| gleiche Hotel, in dem sich ein 23-jähriger Geflüchteter nach seiner | |
| Abschiebung aus Deutschland vor knapp einem Jahr erhängt hatte. Einer von | |
| 69 Abgeschobenen zu Seehofers 69. Geburtstag. Entführer könnten ein hohes | |
| Lösegeld fordern, weil Asif im reichen Deutschland Freund*innen hat. Ein | |
| Land, in dem Polizist*innen am 31. Mai 2017 in Nürnberg [1][mit Knüppeln | |
| und Fäusten auf Schüler*innen einschlugen], Augen mit Pfefferspray | |
| verätzten. Polizeihunde auf sie hetzen, obwohl sie bereits zusammengekrümmt | |
| im Dreck lagen. Asif über die Wiese zerrten. | |
| Die Polizeigewalt war so offensichtlich, dass selbst Bayerns Innenminister | |
| Joachim Herrmann erst mal nichts einfiel: Es dauerte, bis die | |
| Propagandamaschine der CSU anlief, unterstützt von Polizei und | |
| Staatsanwaltschaft. | |
| Staatsschützer ermittelten, dass sogenannte Linksautonome unter den | |
| Protestierenden waren, dass darunter auch Schüler*innen waren, erwähnten | |
| sie nicht. Vorübergehend habe seine Suspendierung im Raum gestanden, | |
| [2][sagte] der Direktor der Berufsschule B 11, Michael Adamczewski, der das | |
| auf seine kritischen Äußerungen gegenüber dem Vorgehen der Polizei | |
| zurückführte. | |
| Und wie immer stieg die Zahl der verletzten Polizist*innen von Stunde zu | |
| Stunde. Dass Asif eine Ampel im Suff demoliert hatte, wurde in der | |
| Öffentlichkeit breit erörtert; dass ihn ein Türsteher zuvor aufgrund seiner | |
| Herkunft nicht in eine Disco gelassen hatte, hingegen nicht. Die | |
| Arbeitsstunden, zu denen Asif verurteilt wurde, hat er vor seiner Abreise | |
| noch [3][abgeleistet]. Asif und wir, seine Unterstützer*innen, haben | |
| massive Polizeigewalt erfahren. Uns wurden physische und bleibende | |
| psychische Verletzungen zugefügt. Doch jedes ausgerissene Nasenhaar eines | |
| Polizisten zählt mehr als die Platzwunde eines Demonstranten. Die | |
| Manipulationen und Halbwahrheiten seitens der Polizei und Politik sind ein | |
| weiterer Fausthieb in unser Gesicht. | |
| Warum wurde das Verfahren gegen den Polizisten eingestellt, der mir mit | |
| voller Wucht, mit der Faust ins Gesicht geschlagen hat? Die von vielen | |
| Seiten geäußerte Kritik prallte ab; folgenlos. Und trotzdem haben die | |
| Demonstrierenden „gezeigt, dass es Menschlichkeit gibt und nicht nur Macht | |
| vom BAMF und Polizei“, so Asif, kurz vor seiner zweiten Flucht in das | |
| kriegsgebeutelte Afghanistan. | |
| Asif war schon nicht mehr in Deutschland, als Anfang Juli der letzte | |
| Prozess gegen seine Unterstützer*innen stattfand. Bis dahin war er bei | |
| jeder Gerichtsverhandlung anwesend. Für ihn war es sichtlich anstrengend, | |
| die von massiven Sicherheitskontrollen flankierten, stundenlangen Prozesse | |
| mitzuverfolgen. „Ein Danke, das reicht nicht“, war seine Begründung, warum | |
| er es sich trotzdem antat. | |
| ## Keine Erinnerungen an Afghanistan | |
| Asif floh erneut, weil er es nicht mehr ertrug, dass ihm Grundrechte wie | |
| das der ärztlichen Versorgung verwehrt wurden. „Die Ausländerbehörde oder | |
| Sozialamt muss für alles zustimmen“, sagte er. Die Nürnberger | |
| Ausländerbehörde in der selbsternannten Stadt der Menschenrechte ist | |
| bekannt für ihren rigiden Kurs. Dort musste Asif immer wieder stundenlang | |
| warten. „Sie benehmen sich so, als wären sie ganz oben und wir ganz unten“, | |
| sagte er darüber. | |
| Zuletzt lebte Asif in einer grauen Gemeinschaftsunterkunft im Nürnberger | |
| Norden. Kurz vor Weihnachten empfängt er mich an den meterlangen | |
| Briefkästen und sagt: „Zum Glück ist keine Post da.“ Es war ihm sichtlich | |
| unangenehm, mich in diese seelenlose Behausung mit Gemeinschaftsküche zum | |
| Essen einzuladen. | |
| In seinem Zimmer mit spärlicher Möblierung gab er mir die einzige Tasse, | |
| die er besaß. Es war zuletzt ein Leben auf Abruf, immer kann es zu Ende | |
| sein. Jeden Tag kann die Abschiebung drohen. Wieder einmal wartete Asif auf | |
| den Entscheid zu seinem Aufenthalt. Seinem Anwalt Michael Brenner zu folge | |
| hätte der durchaus positiv ausfallen können, aber Asif ist das ewige Warten | |
| leid. | |
| Wir setzten uns auf sein wackeliges Bett. Zu diesem Zeitpunkt genauso | |
| wackelig wie seine Entscheidung, nach Afghanistan zurückzukehren. Auf die | |
| Frage, was er mir dort zeigen würde, kratzt er Reis von seinem Teller. Wie | |
| soll er es auch wissen? Sein Zuhause ist Deutschland, er war fast noch ein | |
| Kind, als er geflüchtet ist. Und trotzdem sagt er, dass es in Afghanistan | |
| besser sei, weil er nicht immer zu Behörde gehen müsse: „Ich bin einfach | |
| dort.“ | |
| Zwischen roten Büchern zur Vorbereitung auf die Abschlussprüfungen zieht er | |
| ein Fotoalbum heraus. Kurz huscht ein Lächeln über seine Lippen. Darin sind | |
| einige der glücklichen Momente in Deutschland festgehalten: Auf einem | |
| Felsen in Schwangau, von dem aus er verträumt in die Ferne blickt. Auf | |
| Schloss Neuschwanstein. Zwischen den Jugendlichen einer Wohngruppe. Einer | |
| hat einen Arm durch eine Granate verloren, ein anderer ein Auge. „Das ist | |
| traurig“, sagt Asif. Es ist sein Kumpel, ein Paschtune, revolutionär für | |
| Afghanistan. Denn Asif zählt zur diskriminierten Minderheit der Hasara. Ich | |
| frage ihn, ob seine Mutter wieder geheiratet habe, nachdem sein Vater | |
| gestorben ist. „Tschhh!“, stößt er aus. Die größte Empörung, die ich j… | |
| aus seinem Mund gehört habe. „Man heiratet nur einmal im Leben!“ Er | |
| blättert weiter im Fotoalbum: Pferde, Nürnberger Volksfest, Jugend. | |
| Eine Jugend, die Asif nie haben durfte. Er zeigt mir die Hefte seiner | |
| Schreinerausbildung. Eine Schreinerlehre wäre sein Traum gewesen: klare | |
| Striche, mit den Händen arbeiten, etwas erschaffen. Es ist die Summe an | |
| Rückschlägen, die Ungewissheit, die Asif dazu gezwungen hat, | |
| zurückzukehren. „Ich versuche schon seit zwei Jahren eine Lehre anzufangen. | |
| Ich habe mehrere schulische Ausbildungen gemacht und sogar einen Betrieb | |
| gehabt. Und dann hat die Ausländerbehörde es nicht genehmigt. Ich darf | |
| nichts machen.“ Freunde versuchten ihn umzustimmen. Aber nachdem er sich | |
| durchgerungen hatte, war er nicht mehr davon abzubringen und vereinbarte | |
| einen Termin bei der Rückkehrberatung. Die dortige Mitarbeiterin sagte: „In | |
| Kabul muss man immer auf der Hut sein.“ Ob sie wusste, dass es sich dabei | |
| um eine soldatische Redensart handelt? | |
| Asifs letzte Jahre in Deutschland haben auf brutale Weise gezeigt, wie die | |
| Flüchtlingspolitik im Zeichen des Rechtsrucks aussieht: heuchlerisch und | |
| voller struktureller Gewalt. „Viele sagen in Deutschland ist Frieden, in | |
| Afghanistan ist Krieg. Aber Deutschland ist wie ein Friedhof für mich, du | |
| liegst nur da und kannst nichts machen. Du kannst dich nicht bewegen.“ | |
| 12 Aug 2019 | |
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| ## AUTOREN | |
| Leonhard F. Seidl | |
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