# taz.de -- Roman über Moskauer Alltag: Luxus ohne Skrupel | |
> Der belarussische Schriftsteller Viktor Martinowitsch erzählt im Roman | |
> „Revolution“ von Korruption und Rausch der Macht in Moskau. | |
Bild: Ohne Skrupel: Die Schönen der Nacht von Moskau | |
Unter einem stahlbetongrauen Himmel viel zu schnell über Moskaus Straßen | |
brettern und sich sicher sein: ein Auto wie dieses wird niemand anhalten. | |
Dazu Wodka, Kaviar und The Prodigy in voller Lautstärke, Musik „für alle | |
bösen Geister, für Killer, für Denunzianten“. Viktor Martinowitschs neuer | |
Roman erzählt von Russlands bösen Geistern, vom Rausch der Macht und der | |
allgegenwärtigen Korruption. | |
Mit den richtigen Verbindungen kann man jeden unschuldig ins Gefängnis | |
bringen, denn Beweise lassen sich fälschen und Zeugen kann man kaufen. Auch | |
ein falsches Gutachten ist kein Problem, wenn ein denkmalgeschütztes Haus | |
dem lukrativen Office-Tower-Neubau im Weg steht. Wer nicht selbst von | |
diesem System profitiert, schaut weg. Und die wenigen, die sich wehren und | |
protestieren, verändern nichts und schaden am Ende nur sich selbst. | |
„Revolution“ heißt der dritte Roman von Martinowitsch, der nun auf Deutsch | |
erscheint. In seiner Heimat Belarus hat dieser Buchtitel gerade eine | |
besonders symbolische Bedeutung, die nicht allen gefällt. Vergangene Woche | |
wurde Martinowitschs Verleger in Minsk verhaftet, wie der Autor [1][in | |
einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung berichtete]. | |
## Abstruse Geschichte | |
600 Exemplare des Romans wurden beschlagnahmt. Martinowitsch unterstützt | |
die Protestbewegung gegen das Lukaschenko-Regime, aber um die geht es in | |
„Revolution“ nur indirekt. Sein Roman behandelt Macht und Gehorsam in einer | |
postsowjetischen Gesellschaft – und das lässt Leser:innen auch die | |
Geschehnisse in Belarus besser verstehen. | |
Martinowitsch hat dieses Thema in eine Geschichte gepackt, die im Ganzen | |
betrachtet ziemlich abstrus erscheint, in deren Details aber treffende | |
Beobachtungen und Analysen stecken. Michail, Hauptfigur und Erzähler des | |
Romans, ist ein mäßig erfolgreicher Akademiker. Gelangweilt hält er an | |
einer Moskauer Universität Vorlesungen über Architektursemiotik, | |
Karrieresprünge erwartet er keine. Viel Geld hat er nicht gerade, und sein | |
Auto hat auch schon bessere Tage gesehen, aber zusammen mit seiner Freundin | |
Olja führt er ein recht zufriedenes Leben. | |
Das beschauliche Vor-sich-hin-Wursteln findet ein Ende, als Michail für ein | |
Verbrechen beschuldigt wird, das er nicht begangen hat. Ihm drohen | |
Gefängnis oder eine hohe Geldstrafe. Plötzlich tauchen Unbekannte auf, die | |
versprechen, ihn aus dieser ausweglosen Situation zu befreien. Im Gegenzug | |
soll er Teil ihres „Freundeskreises“ werden. So gerät der junge Mann in die | |
Abhängigkeit einer obskuren Geheimorganisation mit großem Einfluss auf das | |
politische und wirtschaftliche Geschehen im Land. Das zynische Motto für | |
die Mitglieder lautet: „Nicht denken. Nicht wundern. Schnabel halten.“ | |
## Erste Gewissensbisse | |
Michail fügt sich den Anweisungen der Organisation anfangs aus Angst, | |
später bleibt er aus Neugierde und Bequemlichkeit freiwillig dabei. Zu gut | |
fühlt sich die Beförderung an, das neue Auto, die Luxuswohnung. Leidet er | |
erst noch unter Gewissensbissen, wenn seine Aufträge die Verurteilung oder | |
sogar den Tod Unschuldiger zur Folge haben, findet er bald mehr und mehr | |
Gefallen an einem weiteren Motto der Organisation: „Was richtig ist, | |
entscheidest du allein.“ | |
Michail stellt sich erst gegen seine Auftraggeber, als sie von ihm | |
verlangen, seine Freundin zu verlassen. Denn eine „naive Kellnerin“ sei | |
einem Mann wie ihm – mittlerweile Prorektor der Universität und Besitzer | |
einer Limousine mit Chauffeur – nicht angemessen. Er beginnt, eine | |
Revolution zu planen. Dabei ist ihm die Skrupellosigkeit von Nutzen, die er | |
sich während seiner Dienste für die Organisation antrainiert hat. Mit dem | |
üblichen Tempo eines Politthrillers kann „Revolution“ nicht mithalten, aber | |
dadurch würde der Roman auch gerade das verlieren, was ihn so lesenswert | |
macht: die herrlich treffenden Schilderungen. | |
Martinowitsch nimmt sich Zeit für Detailbeschreibungen, zugespitzte | |
Kommentare und kleine Exkurse, die Figuren sind gekonnt überzeichnet und | |
die Szenen stecken voller Situationskomik. Dass die Frauenfiguren entweder | |
naive Unschuld verkörpern oder als sexuelle Objekte dienen, nervt, aber es | |
passt zu der Männerwelt, die der Roman beschreibt. Und an der lässt | |
Martinowitsch kein gutes Haar. | |
„Revolution“ ist auch ein Moskau-Roman, in dem „die beste und | |
schrecklichste Stadt der Welt“ sofort lebendig wird. Man bekommt ein Gefühl | |
für die seltsame Mischung aus sowjetischer Verstaubtheit und dekadentem | |
Luxus, Provinzialität und brutalem Hyperkapitalismus. Was der Roman | |
überspitzt anhand einer Geheimgesellschaft erzählt, verweist auf reale | |
Probleme einer Gesellschaft, in der unabhängige Institutionen fehlen, wo | |
[2][Geld und Macht eng verflochten sind] und es üblich ist, sich | |
Autoritäten unterzuordnen. Man bekommt beim Lesen eine Ahnung davon, warum | |
es nicht so leicht ist, in Russland oder Belarus politische Veränderungen | |
und Demokratisierung zu bewirken. | |
28 Jan 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://www.sueddeutsche.de/kultur/viktor-martinowitsch-revolution-belarus-… | |
[2] /Korruptionsvideo-ueber-Wladimir-Putin/!5742047 | |
## AUTOREN | |
Norma Schneider | |
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