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# taz.de -- Belarusischer Autor über Krieg und Kunst: „Die Hoffnung liegt im…
> Im Hamburg feiert sein Roman „Revolution“ Theaterpremiere. Viktor
> Martinowitsch über Unterwerfung, Angst und die Kraft der Literatur.
Bild: Gibt die Hoffnung nicht auf: Viktor Martinowitsch
taz: Viktor Martinowitsch, [1][Ihr aktueller Roman „Revolution“] wird nun
in Hamburg als Theaterstück uraufgeführt. Was bedeutet das für Sie?
Viktor Martinowitsch: Es bedeutet mir sehr viel. Wenn ich aus einem
„normalen“ Land wie Deutschland oder den USA oder Frankreich käme, dann
wäre es einfach ein angenehmer Erfolg. Für mich ist es eine Frage der
Existenz. Ich befand mich in einer sehr lang anhaltenden Krise, weil ich in
Belarus auf der schwarzen Liste stand. Ich hatte das Gefühl, dass ich ein
unsichtbarer Mann bin. Nun in eine Situation zu kommen, in der das Buch
[2][in einem sehr schönen Theater in Hamburg aufgeführt wird], ist für mich
sehr schön.
Für uns ist es eine Chance, mehr über belarusische Kultur zu erfahren. Hier
weiß man, abgesehen von der medialen Berichterstattung über die Proteste
gegen das Lukaschenko-Regime, wenig über das Leben in Belarus.
Ja, ich hatte das Gefühl, dass wir vor 2020 nur ein weißer Fleck auf der
europäischen Landkarte waren. Man kann ukrainische Kultur in Europa sehen,
man kann Musik aus Litauen hören, aber die belarusische Kultur ist
unsichtbar. Das war bitter, denn wenn man eine so spezielle Situation im
Land hat, ein so spezielles politisches Regime, dann ist der Preis für
unsere Worte sehr hoch. Die Qualität unserer Texte ist ziemlich gut. Also
bitte, bitte schauen Sie sich uns an! Bitte denken Sie daran, dass wir
Ihnen sehr nahe sind! Wenn Menschen nach Belarus kommen, ist das Erste, was
ich von ihnen höre: Es ist ein richtiges europäisches Land, ich kann keine
Anzeichen einer Diktatur sehen. Tatsächlich sind diese Anzeichen gut
versteckt. Wir leben nicht wie im Moskau der 90er und auch nicht in der
UdSSR der 80er, wir leben im Großen und Ganzen wie jeder andere auch. Aber
dann kommen die Unterschiede, und diese Unterschiede sind sehr tief und sie
machen unsere Kultur ziemlich spezifisch und sehr interessant. Wenn man die
Gefangenschaft im Hinterkopf hat, während man zum Beispiel über die
Freiheit schreibt, dann werden die Worte sehr stark.
Würde kultureller Austausch auch das Regime schwächen?
Es ist ein Regime, das sich die Isolation wünscht, denn wenn niemand auf
dich schaut, kannst du in deinem Land tun, was du willst. Für das Regime
gibt es keine Notwendigkeit, sichtbar zu sein.
Auch in Belarus wird versucht, belarusische Kultur unsichtbar zu machen.
Ihr Roman „Paranoia“ ist dort verboten, „Revolution“ wurde verboten, Ihr
Verleger wurde verhaftet, dann wurde es wieder erlaubt. Haben Sie trotz all
der damit verbundenen Angst Hoffnung?
Es gibt immer Hoffnung. Nach 2020 hatte ich keine Illusionen mehr, dass
Proteste oder Revolutionen etwas im Land verändern können. Aber die
Hoffnung liegt in der menschlichen Natur. Darum geht es in meinem Buch:
Wenn du Befehle befolgst, fühlst du dich gut, weil du deine persönliche
Freiheit aufgibst. Aber eines Tages werden die Leute anfangen, Fragen zu
stellen. Warum gibt es so viele politische Gefangene? All diese
schrecklichen Dinge müssen von Menschen getan werden, von ganz normalen
Menschen, nicht von Sadisten. Die Hoffnung liegt darin, dass sich bei ihnen
etwas ändert. Musik ist etwas, das sie aufwecken kann, das Theater, ein
gutes Buch.
Das zentrale Thema Ihres Buches ist die Unterwerfung unter die Macht. Auch
in der aktuellen Situation, in Putins Krieg gegen die Ukraine, spielt das
eine große Rolle. Putin hat offenbar nicht damit gerechnet, dass die
Ukraine sich nicht unterwirft.
Ich glaube, er war zutiefst überrascht, denn in seiner Welt, von der ich in
„Revolution“ erzähle, ist seine Vision ein Tauschhandel: Er denkt, wenn er
jemanden vor die Wahl stellt, dann wird er immer die Möglichkeit wählen,
die er ihm vorschlägt. Als die Ukraine anfing, sich zu wehren und effektiv
zurückzuschlagen, konnte ich am Tonfall meiner russischen Kollegen
erkennen, dass sie schockiert waren. Dann sind sie verstummt. Ich frage
mich, was sie für Gedanken haben. Man muss ein Freak sein, um zu glauben,
dass die Ukraine ein Nazistaat ist. Das ist nicht von dieser Welt, völlig
außerhalb dieser Welt.
Ihre Literatur ist von dieser Welt. Sie haben zwölf Jahre lang an
„Revolution“ geschrieben, dennoch wirkt das Buch wie ein Kommentar zur
aktuellen Situation. Warum hat Literatur so eine prophetische Kraft?
Ich bin gerade mit Studenten aus Griechenland zurückgekehrt, wo wir Delphi
besucht haben. Pythia, die Priesterin im Orakel von Delphi, war im
Apollo-Tempel untergebracht. Die alten Griechen dachten, dass nur Apollo,
der einer der beiden Götter für das Theater, für die schönen Künste, für
die Literatur, für die Poesie ist, die Zukunft vorhersehen kann. Nicht aber
Zeus. Schon im alten Griechenland waren es also die Künste, denen eine
prophetische Kraft zukommt. Die Literatur arbeitet mit tieferen Dingen,
Dichter sind immer bessere Propheten als politische Analysten. Denn wir
arbeiten mit der menschlichen Natur, mit menschlichen Wesen. Es ist schwer
zu glauben, dass Putin die Ukraine angreifen wird, wenn man es logisch
betrachtet. Wenn man aber ein Schriftsteller ist und Putins Gedanken als
Charakter liest, dann würde man vorhersagen, dass er angreifen wird, weil
man seine Natur versteht.
Ihnen werden, nicht nur, weil sie Schriftsteller sind, gute prophetische
Fähigkeiten nachgesagt. Was können wir in den kommenden Jahren erwarten?
Ich denke, dass der Krieg lange dauern wird, und wie jeder große Krieg wird
er die Einstellung zu grundlegenden Werten verändern, zum menschlichen
Leben, wenn man jeden Tag Leichen in den Nachrichten sieht. Darin liegt die
Möglichkeit einer Ausweitung des Krieges, davor habe ich Angst. Aber in ein
paar Jahren werden wir uns auch daran erinnern, dass die derzeitige
Situation zumindest auch etwas Gutes hat. Nachdem durch Corona zwei Jahre
lang alles stillgestanden hatte und Europa geschlafen hatte und es keinen
Raum gab für neue Ideen und Perspektiven, sind die Menschen nun gezwungen,
sich wieder zu bewegen. Und nur wenn man in Bewegung bleibt, kann man die
Perspektive wechseln. Es ist wichtig, immer in Bewegung zu bleiben.
Es ist wie bei Ihren Figuren: Sie sind von Angst geprägt, aber nur deshalb
werden sie auch mutig.
Der Zauber der Angst besteht darin, dass sie Mut hervorruft. Man kann kein
mutiger Mensch sein, ohne Angst zu haben, und trotzdem weiterzumachen. Das
macht dich zu einem echten Menschen. Ohne Angst bist du nur ein
rücksichtsloser Freak. Ich glaube an die Menschen und ich glaube an die
Russen, weil ich sie als wirklich großartige Menschen kenne.
13 May 2022
## LINKS
[1] /Roman-ueber-Moskauer-Alltag/!5744626
[2] https://www.schauspielhaus.de/de_DE/stuecke/revolution.1309369
## AUTOREN
Robert Matthies
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Ukraine
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