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# taz.de -- Roman über Berlin in den 2000ern: Die Dinge geraten außer Kontrol…
> „Other People’s Clothes“ ist das dunkel funkelnde Romandebüt von Calla
> Henkel. Die Autorin ist auch Künstlerin und betreibt eine Bar in Berlin.
Bild: Calla Henkel lebt seit 2008 in Berlin
Es ist Anfang November 2008 und Barack Obama hat in Washington gerade die
Wahl gewonnen. Auf der anderen Seite des Atlantiks feiern Zoe und Hailey,
zwei frisch in Berlin eingetroffene New Yorker Kunststudentinnen, um
Mitternacht den Wahlsieg des US-Demokraten mit Billigsekt aus dem Späti.
Die beiden Zwanzigjährigen in der Schöneberger Zweier-WG sind ein
ungleiches Paar.
Die ehrgeizige und selbstbewusste Hailey zitiert gern Andy Warhol und
arbeitet in der poetisch- konzeptuellen Traditionslinie von Chris Kraus und
Sophie Calle. „Künstler*in zu sein“, so Hailey „bedeutet, Geschichten zu
verkaufen, und Geschichten zu verkaufen ist Kommerz. Daran ist nichts
Alternatives.“
Obsessiv verfolgt sie online die Berichterstattung über den Mordfall der
britischen Austauschstudentin Meredith Kercher im italienischen Perugia, in
deren Zentrum die US-Amerikanerin Amanda Knox steht. Zoe dagegen, Haileys
eher introvertierte Mitbewohnerin und Ich-Erzählerin des Romans, trauert
noch um ihre beste Freundin Ivy, die kurz vor ihrer Abreise nach Berlin mit
vierzehn Messerstichen im Hals an einem Strand in Florida aufgefunden
wurde. Die Polizei tappt im Dunkeln. Berlin wird für Zoe, die mit einer
Essstörung kämpft und Collagen [1][im Stil der Dadaistin Hannah Höch]
produziert, im Laufe des Romans auch zum Ort ihres Coming-out.
## Ein illegaler Club
Die Romanhandlung nimmt an Fahrt auf, als Zoe und Hailey beschließen, in
ihrer Wohnung einen illegalen Club zu starten, um von der Seitenlinie
endlich ins Zentrum des spektakulären Berliner Nachtlebens zu wechseln. Die
beiden Neuberlinerinnen taufen ihren Salon auf den Namen ihrer mysteriösen
wie neugierigen Vermieterin „Beatrice“, einer Trash-Roman-Autorin, die wohl
nicht ganz zufällig zeitgleich an einem neuen Buch arbeitet, das „die
Komplexität einer modernen Frauenfreundschaft unter Zwanzigjährigen“ zum
Thema hat. Die rauschhaften Partys funktionieren wie eine Art soziale
Plastik und liefern das ersehnte Ticket für den schnellen Aufstieg in der
strengen Hierarchie der Berliner Kulturszene.
Zunehmend verwischt erscheinen schon bald die Grenzen zwischen Kunst und
Leben, Wirklichkeit und Fiktion auch deshalb, weil Zoe und Hailey beginnen,
ihr WG-Leben und die Partys regelrecht für Beatrice zu inszenieren, von
der sie sich beobachtet fühlen. Mit ihrer Performance wollen sie sich
mithilfe dieses konzeptuellen Drehs selbst in den neuen Roman von Beatrice
einschreiben und so „ihr eigenes Narrativ kontrollieren“.
Sie produzieren jedoch nicht nur Material für Beatrice, sondern eben auch
für etliche Gossip-Blogs und vor allem Facebook. Als sich ein
Party-Fotograf im Auftrag des extrem hippen Pariser Purple Magazins
anmeldet, wähnen sich Zoe und Hailey auf dem Gipfel ihres Ruhms. Doch bald
geraten die Dinge außer Kontrolle. Ein Mord geschieht und die Ereignisse
nehmen eine dunkle Wendung.
[2][Calla Henkel, geboren 1988 in Minneapolis und seit 2008 in Berlin
lebend], bedient sich ohne falsche Scheu aus dem zeitgenössischen
Berlin-Mythos-Baukasten und lässt ihre Figuren im Berghain, im KitKatClub
oder in der Volksbühnenkantine feiern. Selbst die geräumige Altbauwohnung
mit den Kachelöfen in dem wegen eines bevorstehenden Verkaufs ansonsten
leerstehenden Gründerzeithaus an der Bülowstraße passt perfekt in die
Szenerie dieses wunderbar theatralischen und soghaften Berlin-Romans.
## Hommage an Christopher Isherwood
Schöneberg als Ort der Handlung dürfte eine kleine Hommage an den Urvater
aller furiosen Expat-Berlin-Erzählungen, den Briten Christopher Isherwood,
sein. [3][Isherwood lebte Anfang der Dreißiger in einer Wohnung in der Nähe
des Nollendorfplatzes.] Der ewige Mythos Berlin bildet also eine der
Hintergrundfolien für die Romanhandlung, genauso wie das Aufkommen der
sogenannten Post-Internet-Art oder die US-Finanzkrise ab 2007. Tatsächlich
drängten im Zuge der Wirtschaftskrise junge US-Amerikaner*innen in Scharen
an die relativ günstigen Kunstakademien in Europa. So magnetisch war Berlin
seinerzeit, dass 2011 eine vom Berliner Senat geförderte Großausstellung
für junge internationale Kunst einfach nur „Based in Berlin“ hieß.
Womöglich kann Henkel das Nachtleben und seine Gestalten so gut und genau
aus seinem Innersten heraus beschreiben, weil sie es eben auch aus der
Innenperspektive kennt. Aktuell ist sie Mitbetreiberin von „TV“, einer Bar
an der Potsdamer Straße, die auch als Performancebühne und Filmstudio
genutzt wird.
Und vor ziemlich genau zehn Jahren gehörte Henkel zum
Mitbegründer*innenkreis der kurzlebigen, aber umso mythischer
erinnerten Neuköllner Times Bar. Deren modriger Partykeller war für die
Post-Internet-Szene, die sich bevorzugt aus Absolventen der New Yorker
Cooper Union und der Frankfurter Städelschule rekrutierte, so zentral wie
das Zürcher Cabaret Voltaire für die dadaistische Bewegung. Doch noch
während diese „Internationals“-Szene Berlin als ihren Abenteuerspielplatz
entdeckte, begann dieser schon stark zu bröckeln.
Fast über Nacht kamen die explodierenden Mieten, die absurde Spekulation
und auch die vielzitierte „Network Fatigue“.
Derzeit arbeitet Henkel zusammen mit Max Pitegoff an ihrem Beitrag für die
Nominierten-Ausstellung [4][des Berliner Preis der Nationalgalerie,] welche
Mitte September im Gegenwartsmuseum Hamburger Bahnhof eröffnet. Mit der
[5][Filmemacherin Alexa Karolinski („Unorthodox “)] hat sie in den
vergangenen Monaten parallel auch an einer Film-Adaption ihres Buches
geschrieben, für welche sich der US-Filmproduzent Mark Gordon („Gray’s
Anatomy“) bereits die Rechte gesichert hat.
Sehr wahrscheinlich wird es also irgendwann einen Film oder eine Miniserie
auf Netflix oder einer anderen Streamingplattform zu sehen geben.
Angesichts des unstillbaren Hungers der allesfressenden Filmindustrie nach
guten Stoffen ist es fast schon schade um das schöne Buch. Other People’s
Clothes liest sich nämlich als Roman allein schon einfach extrem gut.
9 Sep 2021
## LINKS
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[3] /taz-Sommerserie-Sommer-vorm-Balkon/!5696725
[4] /Ausstellung-Fat-to-Ashes/!5764623
[5] /ZDF-Doku-zu-Juedischsein-in-Berlin/!5628363
## AUTOREN
Kito Nedo
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