# taz.de -- Relotius-Skandal beim „Spiegel“: Betrug, Eitelkeit, Versagen | |
> Der „Spiegel“ hat die Relotius-Untersuchung abgeschlossen. Doch der | |
> Skandal hatte systemische Ursachen, sagen zwei ehemalige Redakteure. | |
Bild: Die Edelfedern blieben lieber unter sich | |
Es ist nun die Aufgabe von Steffen Klusmann, zu versprechen, dass nach der | |
Katastrophe alles besser wird. Am Samstag saß der Spiegel-Chefredakteur in | |
Hamburg auf einem Podium und musste sich quälenden Fragen stellen. Zum Fall | |
des Fälschers Claas Relotius, zur Redaktionskultur des Spiegel, zum Umgang | |
seines Hauses mit Wahrheit und Dichtung. | |
Der Anlass, die Verleihung des Nannen-Preises, die am Abend folgen sollte, | |
war mal ein Hochamt des deutschsprachigen Journalismus, ein Stelldichein | |
der Edelfedern des Landes. Dieses Mal aber hing wie eine teerschwarze | |
Gewitterwolke der [1][Abschlussbericht der | |
Relotius-Untersuchungskommission] über der Veranstaltung. | |
Und Chefredakteur Klusmann versuchte auch gar nicht erst, die Katastrophe | |
zu beschönigen. „Ziemlich verheerend“ nannte er die Dimension des Skandals | |
und bekannte auch, dass sein Haus bisweilen „zu selbstverliebt“ gewesen sei | |
„in die Art, wie wir Geschichten präsentiert haben“. | |
[2][Seit Herbst ist Klusmann Chefredakteur des Spiegel]. Er kam vom | |
Manager-Magazin, und kaum hatte er sein Büro bezogen, fiel ihm die Affäre | |
Relotius vor die Füße – der Fall eines vielfach dekorierten Jungreporters, | |
der etliche seiner Geschichten teilweise oder komplett gefälscht hatte. | |
Mitte Dezember machte der Spiegel den Fall [3][von sich aus öffentlich] und | |
beauftragte eine dreiköpfige Arbeitsgruppe mit der Aufarbeitung. Eine | |
Wahrheitskommission sozusagen. Am Freitag nun hat das Magazin [4][den | |
Bericht veröffentlicht]. Er ist erstaunlich selbstkritisch, hofft darauf, | |
durch akribische Analyse die systemischen Fehler ausmerzen zu können. Wenn | |
all das den Spiegel besser mache, heißt es in der Einleitung, dann könne | |
man vielleicht später von einem „heilsamen Schock“ sprechen. | |
Wenn es so einfach wäre. Die Autoren dieses Textes kennen den Spiegel aus | |
eigener Erfahrung, arbeiteten beide rund zwei Jahrzehnte lang in den Bonner | |
und Berliner Hauptstadtbüros. Vieles dessen, was heute kritisch angemerkt | |
wird, war intern immer wieder Gegenstand von Debatten. Auch von den beiden | |
Autoren vorgetragen. Folgen hatte es so gut wie keine. Bis zur Causa | |
Relotius. | |
Man muss der Kommission zugestehen: Ihr Abschlussbericht unterscheidet sich | |
deutlich vom ersten Versuch im Dezember. Von jenem [5][Text], der | |
gleichzeitig mit der Bekanntgabe des Betrugsfalls erschien und der sich las | |
wie ein Roman: gefühlig, dramatisch, preisverdächtig. Verfasst hatte ihn | |
Relotius-Entdecker und -Förderer Ullrich Fichtner, auch er vielfach | |
preisgekrönt. Jetzt, fünf Monate später, gibt es Schwarzbrot statt Torte, | |
Report statt Reportage: nüchtern und schnörkellos, trocken und penibel – | |
ein starkes Stück, ganz in der Tradition des alten Nachrichtenmagazins Der | |
Spiegel. | |
Aber schon der Titel, „Der Fall Relotius“, ist falsch. Zutreffender wäre | |
„Der Fall Spiegel“ gewesen. Der neue Report widerlegt nämlich die bis dahin | |
verbreitete Version, das Magazin sei Opfer des raffinierten Tricksers | |
Relotius geworden. Der Bericht ist vielmehr ein erschütterndes Dokument | |
über das Verständnis von Journalismus in einem der führenden deutschen | |
Medienhäuser, aber auch in den Ausbildungsstätten der Branche. | |
So heißt es dort: „Die Reportage wurde zur ‚Königsdisziplin‘ erklärt. | |
Journalistenschüler lernten, … Widersprüchliches und Sperriges wegzulassen, | |
schwarz-weiß zu erzählen, Grautöne zu meiden, die Wirklichkeit der | |
Dramaturgie unterzuordnen.“ Oder auch: „Die Erzählweise, die in | |
Reportageseminaren, zum Beispiel dem des ‚Reporterforums‘, gelehrt wurde | |
und wird, bedient sich dabei aus dem Werkzeugkasten des Films, der Comics | |
und der Literatur, also der Fiktion.“ | |
Und schließlich steht dort noch: „Sie [Die Reporter] erzählten dann auch | |
aus ihren Reportagen solche Beispiele, die dann eben mal mehr und mal | |
weniger die wahre Geschichte verfälschten. Aber Einigkeit bestand immer, | |
dass das erlaubt sei.“ | |
Gewiss: Claas Relotius war Einzeltäter, er hat gefälscht und betrogen, und | |
das gezielt und kunstvoll. Daran besteht kein Zweifel. Ermöglicht habe ihm | |
dies allerdings ein Umfeld, das ihn geradezu ermunterte, Geschichten zu | |
erfinden und Fakten zu fälschen: Ressortleiter, die ihn anstachelten, | |
Chefredakteure, die sich mit den Preisen schmückten; ein Dokumentar, der | |
nicht pingelig genug prüfte; Juroren von Journalistenpreisen, die sich von | |
der literarischen Wucht der Texte blenden ließen. Dass in diesem Wettlauf | |
der Eitelkeiten die Kontrollinstanzen des Magazins versagten, ist nicht | |
verwunderlich. Im System Spiegel wurden Reporter zu Sonnenkönigen, denen | |
man vieles, zu vieles durchgehen ließ. | |
Als die Geschichte aufflog, gab sich Klusmann zwar entsetzt. [6][Er | |
kassierte auch die geplante Beförderung der Autoren und Chef-Reporter | |
Ullrich Fichtner und Matthias Geyer], wollte sie zunächst aber weich landen | |
lassen und verwies fortan auf die Aufklärungskommission. Das strukturelle | |
Versagen, so schien es, sollte hinter dem Fälscher Relotius verschwinden. | |
Zweifel an dieser Version gab es von Anfang an. „Der Betrug hat System“, | |
schrieb der Medienexperte Torsten Geiling. „Wir sollten bei den Preisen | |
wieder mehr aufs Handwerk achten und weniger auf die Show“, forderte der | |
Zeit-Reporter Wolfgang Bauer. | |
Ohne Frage hat sich das Spiegel-Gesellschaftsressort, für das Relotius | |
tätig war, jenseits aller Preise große Verdienste erarbeitet. Es setzte | |
journalistische Maßstäbe. Reporter des Ressorts und des Hauses leisteten | |
oft hervorragende Arbeit. Sie waren zur Stelle, wenn komplexe Sachverhalte | |
in kürzester Zeit zu verarbeiten waren. Lange vor anderen Blättern hatte | |
der Spiegel eine preisbestückte Geschichte zum Thema afrikanische Migration | |
nach Europa im Heft. Kurz vor dem Pariser Gipfel 2015 machte das Ressort | |
die globale Klimakrise zum Titel. Bis dahin hatte das Blatt dieses Thema | |
beharrlich ignoriert. | |
## Das Gesellschaftsressort als Staat im Staat | |
Entstanden ist die Abteilung im Jahr 2001, gegründet vom damaligen | |
Chefredakteur Stefan Aust und Cordt Schnibben. Schnibben, Tausendsassa des | |
deutschen Journalismus, zuvor Werbetexter, preisgekrönter Zeit-Reporter, | |
war bis dahin Chefredakteur des Spiegel-Magazins Reporter, das 2001 nach | |
nur zwei Jahren eingestellt wurde. Als Chef des Gesellschaftsressorts | |
gründete er das Reporterforum, erfand den Reporterpreis und später die | |
Reporterfabrik. Er war der Zauberlehrling, der sich nach der Enttarnung von | |
Relotius erschüttert abwandte. Die nüchterne journalistische Form „Report“ | |
habe er schon immer für mindestens so wichtig wie die Reportage gehalten, | |
teilte er mit. Erstaunlich, dass das all die Jahre niemand mitbekommen hat. | |
Schnibben machte das Gesellschaftsressort zum Staat im Spiegel-Staat, zu | |
einer Einheit mit enormer Machtfülle, mit der sich kein Chefredakteur | |
anlegen wollte. Ihre Chefs verfügten über informelle Macht weit über das | |
Ressort hinaus. Sie redeten in Personalfragen mit, sie vergaben die Noten | |
für guten und schlechten Journalismus. | |
Die Privilegien der Reporter waren umfassend: opulente Gehälter, Befreiung | |
von Pflichtthemen, alle Reisemöglichkeiten, bei Bedarf Auslandsposten nach | |
Wahl – die Nickeligkeiten des Alltags fanden anderswo statt. Kleine | |
Meldungen für die Panorama-Seiten produzieren? Nicht doch im | |
Gesellschaftsressort. Zuarbeiten für andere Kollegen? Nur im Ausnahmefall. | |
Ein schneller Beitrag für Spiegel Online? Ausgeschlossen. | |
Als der Berliner Chef des Deutschland-II-Ressorts einmal darum bat, an den | |
Konferenzen der Edelfedern teilzunehmen, um die eigenen Debatten | |
aufzumuntern, wurde das abgelehnt. Man blieb lieber unter sich. Von | |
regelrechtem „Hass auf das Gesellschaftsressort“ im Hause berichtet denn | |
auch der Report. | |
In diesem Universum blühte ein Korpsgeist, der im deutschen Journalismus | |
seinesgleichen sucht. Entsprechend traten die Autoren, insbesondere die | |
männlichen, auf – wissend, erhaben, unantastbar. Inhaltliche Kritik prallte | |
ab, auch mit Hilfe der Spiegel-Chefs. Warnungen erfahrener Mitarbeiter vor | |
dem „gefühlten Journalismus“ der Reportergilde wurden als neidgetriebenes | |
Genörgel abgetan. Als Kollegen von Spiegel TV 2017 bei Recherchen im Irak | |
Unstimmigkeiten in Relotius’ preisgekrönter Geschichte „Löwenjungen“ | |
auffielen, versandeten ihre Hinweise. Den 2016 erschienenen hauseigenen | |
[7][„Innovationsreport“], der die internen Verkrustungen des Magazins | |
ausleuchtete und auch das Gesellschaftsressort nicht aussparte, legte die | |
damalige Chefredaktion zügig zur Seite. | |
Selbstkritische Reflexion oder offene Fehlerkultur vermisste man vor dem | |
Relotius-Skandal. Und so verwundert es auch nicht, dass die Kritik, die | |
zwei Einwohner des von Relotius beschriebenen US-Örtchens Fergus Falls per | |
Tweet an den Spiegel sandten, das Gesellschaftsressort entweder nicht | |
erreichte (unwahrscheinlich) oder dort einfach ignoriert wurde (sehr | |
wahrscheinlich). | |
## Zentrallabor der deutschen Schönschreiber | |
Das Gesellschaftsressort entwickelte sich zu einem ganz eigenen Kosmos im | |
deutschen Journalismus. Kaum ein preisgekrönter Schreiber, kaum eine | |
ausgezeichnete Autorin, die nicht Angebote dieses Ressorts bekam. Und die | |
wenigsten schlugen aus. Das Gesellschaftsressort des Spiegel war das | |
Zentrallabor der deutschen Schönschreiber, der Olymp der schreibenden | |
Branche. So sahen sie sich selbst, und so wurden sie von außen gesehen. | |
In diesem Kosmos zählten und zählen nur zwei Währungen: die elegant | |
erzählte Geschichte und der Journalistenpreis. Und weil der | |
Henri-Nannen-Preis nicht reichte, kreierten Schnibben und andere 2009 den | |
Deutschen Reporterpreis, „von Journalisten für Journalisten“. Wenn dann der | |
Spiegel, was selten vorkam, weder vom Nannen- noch vom Reporterpreis | |
Trophäen mitbrachte, brach in Chefredaktion und Gesellschaftsressort | |
Nervosität aus. | |
Das Fatale daran: Viele Redaktionen und auch manche Journalistenschule | |
machten sich diese Philosophie zu eigen – Geschichten, Ereignisse und | |
Begebenheiten mussten brillant erzählt, komplexe Sachverhalte möglichst | |
anhand handelnder Personen beschrieben werden. Vertieftes Wissen der | |
Materie galt zwar als hilfreich, aber nicht zwingend als erforderlich. Und | |
wenn es dem Autor dann noch gelang, „in nahezu jeden Kopf, der im Weg | |
herumsteht, hineinzukriechen und von dort drinnen zu berichten, wie es sich | |
so denkt und fühlt in diesem Kopf“, wie Claudius Seidl schon vor Jahren in | |
der FAZ spottete, galt das als journalistische Meisterleistung. Jedenfalls | |
aus Sicht der Reportage-Experten. | |
Journalismus und Literatur begannen zu verschmelzen. Und niemand | |
intervenierte. In den Redaktionen nicht, in den Ausbildungsstätten nicht, | |
in den Preis-Jurys nicht und auch nicht im wissenschaftlichen Raum. Die | |
Frage, ob das Blatt vor lauter Reportagen und Porträts überhaupt noch ein | |
Nachrichtenmagazin sei, wurde mit Verweis auf die gelegentlichen Scoops der | |
investigativen Kollegen abgebügelt. | |
## Überhöhung der „Königsdisziplin“ Reportage | |
Es kam zur völligen Überhöhung der „Königsdisziplin“ Reportage. Nicht n… | |
beim Spiegel, sondern auch in anderen Redaktionen. Wenn „gute Ware“ kam, | |
wie Fichtner bekannte, wenn Relotius und andere die perfekt inszenierte | |
Erzählung auf den Tisch blätterten, waren die Macher „begeistert“. | |
Erkenntnisgewinn? Tiefenschärfe? Durchdringung des Problems? Alles egal. | |
Hauptsache, Dramaturgie und Erzählfluss stimmten. Und manchmal auch die | |
politische Richtung. | |
Auch andere Spiegel-Abteilungen drechselten sich die Wahrheit bisweilen | |
zurecht. Im Berliner Hauptstadtbüro war es zeitweise üblich, bereits am | |
Montagmorgen das Drehbuch für die zentrale Politik-Geschichte am | |
Freitagnachmittag zu entwerfen. Durch die Realität erzwungene Änderungen am | |
Skript waren ungern gesehen und jeweils mit vertieften Diskussionen | |
verbunden. | |
Begleitet war die Verklärung des Genres immer vom Ehrgeiz, bei den großen | |
Preisverleihungen ganz oben zu stehen. Bei diesen Ereignissen wurden | |
wiederkehrend die Könige der Zunft ausgerufen – unter Beteiligung von | |
Autoren, Chefredakteuren, Moderatoren oder auch Schauspielern. Niemand | |
wagte, Kritik am Genre oder am System zu üben. Auch die Juroren und | |
Festredner, die den Zirkus schmückten, stehen jetzt in der Kritik. „Die | |
Reden der Laudatoren lesen sich heute wie Realsatire“, heißt es nüchtern | |
im Kommissionsbericht. | |
## Branchen-Weihrauch und Glamour | |
Wer einmal dabei war bei diesen Selbstinszenierungen, konnte nur staunen. | |
Die Branche feierte sich selbst. Oft im Hamburger Schauspielhaus, auch mal | |
in der Elbphilharmonie, immer von viel Branchen-Weihrauch und Glamour | |
umweht, waren die Zeremonien inzestuös anmutende Veranstaltungen. Am | |
vergangenen Samstag beim Nannen-Preis ging es bescheidener zu, die Stimmung | |
sei schlecht gewesen, wird berichtet. Die einstigen Größen des Fachs, | |
insbesondere jene des beschädigten Magazins, waren ohnehin zu Hause | |
geblieben. | |
Diese Inszenierungen und die dabei erbeuteten Trophäen befeuerten die | |
Eitelkeit an der Ericusspitze wie nirgendwo sonst im deutschen | |
Journalismus. Nicht wenige der Spiegel-Autoren legten sich für ihre | |
Auszeichnungen und Buchveröffentlichungen einen Wikipedia-Eintrag zu. | |
Vielen Spiegel-Mitarbeiterinnen innerhalb und außerhalb des Ressorts ging | |
das virile Gehabe lange schon auf den Wecker. „Eine echte | |
Männerwirtschaft“, stöhnte eine noch kürzlich. | |
Es waren Männer, die Relotius einstellten. Es waren Männer, die die Sache | |
verschleppten, es war am Ende aber eine Frau, nämlich die damalige | |
Co-Ressortchefin Özlem Gezer, die in einer mehrstündigen Nachtsitzung | |
Relotius sein Geständnis abrang. | |
Bei so viel Lametta war es kein Zufall, dass die legendäre Dokumentation | |
des Hauses keinen Widerstand mehr entgegenzusetzen vermochte. Normalerweise | |
soll die Dokumentation jeden Sachverhalt, jede Zahl, jeden Namen auf | |
Richtigkeit überprüfen. Gegen Fehler und Verzerrungen, insbesondere bei | |
Geschichten aus dem Ausland, ist sie allerdings nie gefeit. | |
Für hochdekorierte Reporter war der Check ohnehin stets eine eher lästige | |
Sache. [8][„Der Dokumentar beim Spiegel ist des Journalisten natürlicher | |
Feind“], notierte im Dezember der designierte Chefredakteur Ullrich | |
Fichtner über die Nachkontrolle. Auf Augenhöhe fand diese aber nie statt. | |
Welcher Dokumentar will schon, wenn der Autor nur selbstbewusst genug | |
auftritt, das Zitat eines kriegsversehrten Jungen in Mossul nachprüfen, wer | |
soll erahnen, was Martin Walser bewegt, wenn er erfährt, dass Elfriede | |
Jelinek den Literatur-Nobelpreis bekommt, oder was Uli Hoeneß durch den | |
Kopf schießt, wenn er sich zu Vertragsverhandlungen mit Pep Guardiola | |
trifft? | |
## Keine kritische Aufarbeitung | |
Dass der Dokumentation Fehler unterlaufen, kam immer wieder vor. Die | |
Spiegel-Berichterstattung zum angeblichen Hufeisenplan im Kosovo war | |
fragwürdig, die Visaaffäre von Joschka Fischer beschäftigte sogar einen | |
Bundestags-Untersuchungsausschuss. Kritisch aufgearbeitet wurden die | |
Schnitzer in der Redaktion nie. | |
Und es ist auch viel mehr als ein Spiegel-Problem. Während die Reportage im | |
deutschen Journalismus eine enorme Aufwertung erfuhr, wurde die Aufklärung | |
vernachlässigt: Das Erforschen und Beschreiben von Ist-Zuständen, das | |
Aufdecken von Problemen, die nicht gleich Skandale sind, das Aufspüren | |
gesellschaftlicher Fehlentwicklungen, von Unzulänglichkeiten in | |
Institutionen und Ministerien – nicht nur beim Spiegel, sondern überall in | |
der Branche wurde es kleingeschrumpft. | |
Man hätte den Wandel beobachten können – wenn man es denn gewollt hätte. | |
Während im Jahr 2002 beim Spiegel an die 20 Kolleginnen und Kollegen (ohne | |
Führungskräfte und Reporter) die deutsche Innenpolitik beobachteten, sind | |
es heute laut Impressum noch 10. Während im politischen Berlin sämtliche | |
Pressestellen aufgerüstet haben, wurde vielen Büros der Zeitungen und | |
Zeitschriften systematisch das Personal entzogen – auch dem Hauptstadtbüro | |
des Spiegel. | |
Ministerien wie die für Forschung oder Entwicklungszusammenarbeit werden | |
nur noch sporadisch beobachtet, Ressorts wie Umwelt, Verkehr oder auch die | |
Bahn nur noch gelegentlich begleitet. Wo sich der Journalismus in seiner | |
Rolle als Wächter politischer Prozesse bewähren soll, werden die Lücken | |
immer größer. Kannte einst in Bonn der Redakteur für Verteidigung noch | |
jeden Piloten der Flugbereitschaft und nahezu jeden General persönlich und | |
stützte einen Großteil seiner Geschichten auf Dokumente aus den | |
Ministerien, werden heute Schlagzeilen mit Politikerzitaten oder Kleinen | |
Anfragen generiert. Die journalistische Leistung ist in beiden Fällen | |
bescheiden. | |
Entlarvend ist da eine kleine Lästerei, die einem Berliner Spitzenbeamten | |
dieser Tage im Hintergrundgespräch entglitt: „Die Journalisten wissen | |
nichts mehr. Wir halten Lehrstunden ab, wenn wir uns zu Hintergrundrunden | |
mit ihnen zusammensetzen.“ Der Mann ist entspannt: „Für uns macht es das | |
Leben natürlich einfacher.“ | |
Und diese tiefen Lücken, die der Abbau des Journalismus reißt, versucht man | |
zu füllen. Mit Pomp. Und Schönschreiberei. Und wer wusste derweil vorab | |
Bescheid, dass das Bundesverkehrsministerium im Oktober 2020 die | |
Autobahnmaut einführen will? Niemand. | |
28 May 2019 | |
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