# taz.de -- Regierungsbildung in den Niederlanden: Experiment mit vielen Fragez… | |
> Die niederländische Rechtskoalition will die Asylpolitik verschärfen und | |
> neue AKWs bauen. Vage bleiben Ideen für ein „extraparlamentarisches“ | |
> Kabinett. | |
Bild: Vorstellung des Grundsatzprogramms: Geert Wilders (PVV), Dilan Yeşilgöz… | |
„Sehr vieles wird sich ändern.“ Mit diesen Worten trat Geert Wilders | |
Donnerstag vor die Kameras, um den Koalitionsvertrag der künftigen | |
Regierung zu präsentieren – der umstrittensten der niederländischen | |
Geschichte. Was vor allem an Wilders’ rechtsextremer PVV (Partij voor de | |
Vrijheid – Partei für die Freiheit) liegt, die bei den Parlamentswahlen im | |
November einen Erdrutschsieg landete. Ihre Juniorpartnerinnen: die | |
liberal-rechte VVD (Volkspartij voor Vrijheid en Democratie – Volkspartei | |
für Freiheit und Demokratie), die bislang mit Mark Rutte den | |
Premierminister stellte, der sozial-konservative NSC (Nieuw Sociaal | |
Contract – Neuer Sozialvertrag) sowie die [1][BBB (BoerBurgerBeweging – | |
Bauer-Bürger-Bewegung]). | |
Nach monatelangen, turbulent verlaufenen Verhandlungen hatten sich die | |
Unterhändler am Mittwoch auf ein Abkommen verständigt, das Wilders | |
„historisch“ nannte. Mit der Zustimmung der jeweiligen Parlamentsfraktionen | |
ist nun der Weg frei für, so die Tageszeitung Volkskrant, „das rechteste | |
Kabinett jemals“. Was das inhaltlich bedeutet, steht in dem 26-seitigen | |
Grundsatzprogramm, das nach niederländischem Brauch ein Motto trägt: | |
„Hoffnung, Mut, Stolz“. Gleich zu Beginn wird angekündigt, „einen neuen | |
Weg“ einzuschlagen, wobei man den Menschen „Halt und Unterstützung“ biet… | |
werde. | |
Formulierungen wie diese knüpfen an ein Thema an, das im Wahlkampf eine | |
besonders große Rolle spielte: die Existenzsicherung. Vor allem der NSC | |
will damit den wachsenden Bevölkerungsschichten gerecht werden, die von | |
jahrzehntelanger neoliberaler Politik und mehrfachen Krisen ausgezehrt | |
sind. Auch BBB und PVV stellen sich gerne als deren Anwälte dar. | |
Eine der ersten Maßnahmen, die die neue Regierung in Angriff nehmen will, | |
betrifft die weithin verhasste Eigenbeteiligung an der Krankenversicherung, | |
die ab 2027 halbiert werden soll. Weiterhin will man die Einkommensteuern | |
senken, die Hilfsprogramme für Verschuldete verbessern und Kitas „für | |
arbeitende Eltern beinahe gratis“ machen. Der Wohnungsnot will man mit | |
jährlich 100.000 neuen Wohnungen zu Leibe rücken. | |
Einschnitte wurden dagegen beim Beamt*innenapparat und der | |
Entwicklungshilfe angekündigt. Auch erneuerbare Energien sollen | |
zurückgefahren werden. Stattdessen will die neue Regierung vier neue | |
Atomkraftwerke bauen – ein Plan, für den es auch bereits eine | |
Parlamentsmehrheit gibt. Abstand genommen hat die PVV offenbar von ihrem im | |
Wahlkampf vertretenen Ziel, [2][jegliche Klimagesetze dem Schredder zu | |
übergeben]. Allerdings sollen weniger Kohlenstoffemissionen eingespart | |
werden als bisher geplant, und auf niederländischen Autobahnen soll wieder | |
130 statt 100 Kilometer pro Stunde gefahren werden dürfen. | |
Im Zentrum des Grundsatzprogramms, das in vielen Details noch konkretisiert | |
werden muss, steht eine Vorgabe mit Superlativen: die strengste | |
Asylpolitik, die es jemals gab, soll eingeführt, die Zuwanderung stark | |
eingeschränkt werden. Von Anfang an war dieses Ziel ein verbindendes | |
Element in den überaus holprigen Koalitionsverhandlungen zwischen den vier | |
Parteien. Ein deutliches Zeichen dafür, dass der rabiate | |
[3][Anti-Zuwanderungs-Standpunkt der PVV bis weit in die Mitte der | |
niederländischen Gesellschaft] hinein salonfähig geworden ist. | |
Während über das mit Spannung erwartete Grundsatzprogramm nun Klarheit | |
herrscht, liegt über einer anderen essenziellen Frage dichter Nebel: Wer | |
wird diese Agenda im Namen der beteiligten Parteien ausführen? Über die | |
Besetzung der Posten der Ministerinnen und Staatssekretäre nämlich muss in | |
den kommenden Tagen und Wochen erst noch verhandelt werden. Deutlich ist | |
bislang nur, dass es um ein sogenanntes „extraparlamentarisches Kabinett“ | |
von Fachleuten gehen soll. | |
NSC-Chef Pieter Omtzigt hatte diese Formel bereits im Wahlkampf | |
vorgeschlagen, um die Stellung des Parlaments gegenüber der Regierung zu | |
verstärken. Im Lauf der Koalitionsgespräche entschied man sich dafür nicht | |
zuletzt, weil der zweifelnden Basis von NSC und VVD eine Zusammenarbeit mit | |
der PVV schmackhaft gemacht wird, wenn deren Protagonisten nicht Teil der | |
Regierung sind, sondern Volksvertreter*innen bleiben werden. | |
Wie unabhängig die Kabinettsmitglieder künftig agieren werden und wie ihre | |
Beziehung zu den jeweiligen Parteien, die sie nominieren, sein wird, lässt | |
sich erst nach der Vereidigung der Regierung sagen, die voraussichtlich | |
Mitte Juni stattfinden soll. In jedem Fall betritt die niederländische | |
Demokratie mit diesem Modell vollkommenes Neuland. Es ist ein Experiment | |
mit vielen Fragezeichen. Von seinem Funktionieren wird auch die Stabilität | |
der Regierung abhängen. Ein schnelles Scheitern gehört dabei genauso zu den | |
Optionen wie eine Vorbildfunktion für andere europäische Länder. | |
Einzig bei der Position des künftigen Premiers gibt es deutliche Anzeichen | |
für eine Einigung: beste Karten dafür hat der Sozialdemokrat Ronald | |
Plasterk. Niederländische Medien berichteten das in der Nacht zu Donnerstag | |
übereinstimmend, bislang gibt es aber noch keine offizielle Bestätigung. | |
Plasterk war für seine PvdA (Partij van de Arbeid – Partei der Arbeit) | |
sowohl Bildungs- als auch Innenminister. | |
Gänzlich untypisch für einen bekannten PvdA-Politiker ist, dass er eine | |
Kolumne in der rechten Boulevardzeitung De Telegraaf hat. Im Winter leitete | |
er zwischenzeitlich die Koalitionsgespräche. Mit der komplexen internen | |
Chemie der künftigen Rechtsregierung ist er daher bestens vertraut. Wie er | |
sich als Premier bei der Ausführung von deren Agenda macht, wird eine | |
andere Frage. | |
16 May 2024 | |
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## AUTOREN | |
Tobias Müller | |
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