# taz.de -- Eine Vermessung der Niederlande: Die abgehängte Provinz | |
> Der Wahlerfolg der Bauern-Bürger-Bewegung hat gezeigt, wie gespalten die | |
> Niederlande sind. Der Riss verläuft zwischen Ost und West, Provinz und | |
> Stadt. | |
Bild: Tubbergen ist stark agrarisch geprägt. Die BBB holte hier am 15. März k… | |
DOETINCHEM/TUBBERGEN UND WINSCHOTEN taz | Harma Kempinga, eine große Frau | |
mit kurzen, rot gefärbten Haaren und auffallend blauen Augen, ist gerade | |
von ihrer Runde als Briefträgerin zurückgekehrt. Mit ihrem Mann Arie, einem | |
Taxifahrer, wohnt sie in einem schmucklosen Reihenhaus in einer | |
Backsteinsiedlung am Stadtrand von Winschoten, 30 Kilometer östlich von | |
Groningen, nahe der deutschen Grenze. Die drei Kinder sind aus dem Haus. In | |
der Diele hängt Kempingas orange-blaue Dienstkleidung. 12,06 Euro verdient | |
sie in der Stunde, etwas mehr als der Mindestlohn – „nach zehn Jahren im | |
Unternehmen“. | |
Manchmal denkt Harma Kempinga ans Auswandern, weil alles so teuer ist, | |
erzählt sie. Der ständige Blick auf Preise und Ausgaben ist ihr nach all | |
den Jahren zur Gewohnheit geworden. Der Großeinkauf gestern: 90 Euro. „Und | |
der Kühlschrank ist nicht mal voll“, sagt Kempinga anklagend im Tonfall der | |
Region Groningen, den man besser versteht, wenn man mit jenem drüben in | |
Ostfriesland vertraut ist. | |
Auf dem Esstisch vor der offenen Küche stehen eine Obstschale und eine | |
runde Dose mit Filzstiften. Für die Enkelkinder, die Kempinga „unsere | |
Goldblümchen“ nennt, wenn sie zu Besuch sind. Daneben steht ein Teller | |
Donuts. Ihr Mann serviert Nescafé. | |
Harma Kempinga, 44 Jahre alt und wenige Kilometer entfernt aufgewachsen, | |
gehört zu jenen Niederländer:innen, die bei den [1][Provinzwahlen im März | |
ihr Kreuz bei der BoerBurgerBeweging] (BBB, auf deutsch: | |
Bauern-Bürger-Bewegung) gemacht haben. Genau wie 32,5 Prozent der | |
Wähler:innen der Kommune Oldambt, zu der Winschoten gehört. | |
## Unter der Armutsgrenze | |
Warum? „Weil sie für Leute wie mich steht. Leute, die in Schwierigkeiten | |
stecken, nach denen aber niemand guckt. Für Bauern, für einfache Menschen, | |
nicht nur solche mit hohem Bildungsabschluss. Für Geringverdienende. Nach | |
so etwas habe ich schon sehr lange gesucht. Und ich hoffe, dass ich es | |
jetzt gefunden habe.“ | |
Die populistische BBB ist im März erstmals bei den Provinzparlamentswahlen | |
angetreten, wo die Vertreter für die zwölf niederländischen Provinzen | |
gewählt werden. Zugleich wird dort über die Zusammensetzung des | |
niederländischen Senats entschieden. Die BBB wurde auf Anhieb stärkste | |
politische Kraft, bekam 16 von 75 Sitzen im Senat. Seit der Wahl versuchen | |
Medien und Sozialwissenschaftler:innen, die Unzufriedenheit in der | |
niederländischen Gesellschaft zu erklären. Dabei landen sie schnell bei | |
Menschen wie den Kempingas. | |
Menschen, die mit wenig Mitteln ständig am Rand des Abgrunds balancieren. | |
Die zu den mehr als 200.000 Personen gehören, die in Armut leben, obwohl | |
sie Arbeit haben. Als Armutsgrenze gilt in den Niederlanden ein Betrag von | |
1.500 Euro monatlich – bei Familien um die 2.000 Euro –, der die Kosten für | |
Leben, Wohnung und Energie decken muss. | |
In Winschoten sind die Kempingas kein Einzelfall. Wenn sie als | |
Briefträgerin ihre Runde durch die 18.000-Einwohner-Stadt dreht, redet | |
Harma Kempinga viel mit den Leuten. Vertrauen in die Regierung habe niemand | |
mehr, sagt Kempinga. „Neulich sah ich an einem Haus ein Plakat. ‚Eigen volk | |
eerst‘ stand darauf.“ Sie klingt betroffen. | |
„Das eigene Volk geht vor“ – die Geschichte dieser Parole sagt einiges | |
darüber aus, wie sich die Niederlande in den vergangenen 20 Jahren | |
verändert haben. Einst hörte man diese Aussage nur in der extremen, | |
völkischen Rechten. Heute ist sie konsensfähig geworden. Aus dem Ausland | |
erscheint es dann oft, als hätte sich diese Gesellschaft mit einem Mal von | |
einem Leuchtturm der Toleranz in ein Irrlicht der Xenophobie verwandelt. | |
Was natürlich Unsinn ist, denn bei beidem handelt es sich um ein Zerrbild. | |
Sowohl die eine Strömung als auch die andere hat es immer gegeben. Doch ihr | |
Verhältnis hat sich umgekehrt. | |
Die Wende in den Niederlanden kam mit Pim Fortuyn, dem flamboyanten | |
Volkstribun, der 2001 eine Anti-Zuwanderungs-Agenda mit Kritik an der | |
multikulturellen Gesellschaft und der etablierten Politik verband. Nach | |
seiner Ermordung 2002 spitzte Geert Wilders mit seiner Partij voor de | |
Vrijheid die xenophoben Ausfälle zu. Wie Fortuyn inszenierte er sich als | |
Anwalt der kleinen Leute. Mitte der 2010er Jahre tauchte dann Forum voor | |
Democratie auf, das sich, ähnlich der AfD in Deutschland, zunächst als | |
wirtschaftsliberal-konservative Partei gab. Nach einer Radikalisierung im | |
Schnelldurchgang ist Forum heute fest im Alt-Right- und Verschwörungsmilieu | |
verwurzelt. | |
## Wut aufs Finanzamt | |
Bei Harma Kempinga zu Hause wurde früher, wie häufig im armen, | |
strukturschwachen Osten der Provinz Groningen, strikt kommunistisch | |
gewählt. Dennoch erwog auch sie vor einigen Jahren, ihre Stimme Geert | |
Wilders zu geben. Sie dachte, er setze sich für Leute wie sie ein. Sie | |
wählte ihn dann doch nicht. „Das, was er über ausländische Menschen sagt, | |
ist mir zu extrem. Er ist mir unheimlich“, sagt sie. Dass die BBB auf | |
diese Rhetorik verzichtet, macht die Partei für sie überzeugender. | |
Kempinga ist eine herzliche, lebensfrohe Frau. Überall, wo sie die Post | |
zustellt, wird sie freudig begrüßt. Die große Wut, die in Gesprächen in ihr | |
hochkocht, hat mit den Ursachen zu tun, warum ihre Familie überhaupt in | |
diese missliche Lage geriet. Mitte der Nullerjahre unterlief jemandem beim | |
niederländischen Finanzamt ein folgenschwerer Fehler. | |
Kempinga konzentrierte sich damals auf die Betreuung ihrer Kinder, vor | |
allem der Zwillinge, die wegen ihrer Hyperaktivität mehr Aufmerksamkeit | |
brauchten. Doch aus den 3.000 Euro jährlich, die sie mit Minijobs zum | |
Familieneinkommen beisteuerte, wurden durch eine Unachtsamkeit der Behörden | |
30.000 Euro – ein Finanzbeamter hängte eine Null zu viel an die Summe. | |
Die Konsequenz: Harma Kempinga sollte jahrelang empfangene Zulagen für | |
Miete und Krankenversicherung zurückzahlen. Das Paar versuchte rechtlich | |
dagegen vorzugehen, doch es scheiterte. Ein absurder Vorgang, der nur so zu | |
erklären ist, dass das Finanzamt zu jener Zeit überall Betrugsversuche von | |
Leistungsempfänger:innen witterte. | |
Mit Bußgeldern und Kosten für Gerichtsvollzieher türmten sich die | |
Forderungen schnell zu 20.000 Euro auf und wuchsen weiter an. Zehn Jahre | |
lang musste die Familie mit 80 Euro pro Woche auskommen, erzählt Kempinga. | |
Der Gang zur Tafel wurde zum Alltag. Genauso wie die Einschränkungen: Sie | |
wollten ihren Kindern Vollkornbrot geben, doch das Geld reichte nur für | |
Weißbrot. | |
„Als Familie macht dich das kaputt. Ich bin stolz darauf, dass wir noch | |
zusammen sind.“ Einzig durch das Kindergeld gab es „die Möglichkeit, mal | |
etwas Schönes mit den Kindern zu machen“, erinnert sich Harma Kempinga. Der | |
Fall der Familie schlug Wellen in den Niederlanden. | |
Was man damals nicht wusste: Das Finanzamt beschuldigte über Jahre hinweg | |
auch mehr als 20.000 Empfänger:innen von Betreuungsgeld | |
fälschlicherweise des Sozialbetrugs. Auffallend viele der vor allem | |
migrantischen Eltern hatten eine doppelte Staatsbürgerschaft. Und wie die | |
Kempingas mussten auch sie Beträge zurückzahlen, die ihre Möglichkeiten | |
weit überstiegen. | |
Zahlreiche Familien und Existenzen zerbrachen daran. [2][2021 trat die | |
Regierung deswegen zurück]. Seither wird die „Zuschlagaffäre“ immer | |
erwähnt, wenn es um Erklärungen dafür geht, dass die Regierung, die nach | |
den Wahlen in gleicher Konstellation wieder an die Macht kam, so über die | |
Maßen unbeliebt ist. | |
## Ein Denkzettel für die Regierung | |
Die Kempingas lernten schließlich über eine TV-Reportage einen Mann kennen, | |
der ihnen mit mehreren Schenkungen aus den Schulden half. Kempinga erinnert | |
sich heute vor allem an das Gefühl von Ohnmacht gegenüber den Behörden – | |
daher auch ihre Wut auf „Den Haag“. | |
Hinter dem Wunsch, der Regierung einen Denkzettel zu verpassen, steckt aber | |
oft auch ein regional verbreitetes Ressentiment. Es ist ein Aufbegehren der | |
Peripherie, jener Teile der Niederlande, die man selbst im Nachbarland | |
Deutschland kaum wahrnimmt, gegen die urbane Agglomeration im Westen – die | |
„Randstad“, wie der Ballungsraum Amsterdam, Rotterdam, Den Haag und Utrecht | |
auf Niederländisch genannt wird. | |
Hier wohnen und arbeiten die meisten Menschen, hier werden Entscheidungen | |
getroffen, hier sitzt das Geld. Wenn auf dem „platteland“, der Provinz | |
also, über „den Westen“ gesprochen wird, geschieht das oft mit dem Gefühl, | |
nicht mehr als ein Anhängsel zu sein. | |
In der Region Groningen kommt noch ein wesentlicher Faktor dazu: Seit dort | |
1959 das größte Erdgasfeld Europas entdeckt wurde, spülte das Gas mehr als | |
420 Milliarden Euro in die Staatskasse. Auch Deutschland gehörte bis vor | |
Kurzem zu den Exportländern. Vor Ort aber sorgten die Gasbohrungen für | |
zahlreiche Erdbeben. Keine Katastrophen wie in der Türkei, Syrien oder | |
Haiti, aber stark genug, um Häuser ernsthaft zu beschädigen und eine | |
permanente Unsicherheit unter jenen zu verbreiten, die hier wohnen und die | |
über die Verschleppung Zehntausender Reparaturfälle klagen. | |
Lange schenkte man dem im Westen des Landes kaum Beachtung. Wenn | |
Journalist:innen über einsturzgefährdete Häuser und die Sorgen ihrer | |
Bewohner:innen berichteten, hieß es, in Groningen dramatisiere man die | |
Sache wohl. Erst nach jahrelangen Protesten hat die Regierung den Ernst der | |
Lage erkannt und die Gasförderung weitgehend beendet. | |
Eine Enquetekommission präsentierte Anfang des Jahres einen vernichtenden | |
Report. Die Regierung, heißt es, habe die Interessen der Groninger | |
Bevölkerung systematisch negiert und die Aussicht auf Gewinne permanent | |
über die Sicherheit vor Ort gestellt. Fazit: „Ein beispielloses | |
Systemversagen.“ | |
## Hügel, Wald, Wiese | |
In Tubbergen, knapp 90 Kilometer westlich von Osnabrück, ist der Unmut | |
anders begründet. Die Kommune, eine Ansammlung von Dörfern und Weilern mit | |
insgesamt gut 20.000 Menschen, ist stark agrarisch geprägt. Hier sind die | |
Bäuer:innen die Kernklientel der BBB. Erst 20 Jahre ist es her, dass | |
Tubbergen, in der Region Twente, am Rand der Provinz Overijssel gelegen, zu | |
80 Prozent christdemokratisch wählte. Die BBB holte hier am 15. März knapp | |
59 Prozent der Stimmen, so viel wie nirgendwo sonst. | |
Am schnellsten gelangt man über die A1 nach Tubbergen. Die Autobahn, die | |
bei Amsterdam beginnt, verbindet die beiden ungleichen Teile dieses Landes, | |
den urbanen Westen und den ländlichen Osten. Auf der Strecke: Hügel, Wald, | |
Wiese. Viel Natur ist es nicht, doch in einem Land, wo man fast immer von | |
irgendwo Autos rauschen hört oder ein Zug noch die abgelegenste Szenerie | |
durchkreuzt, fühlt man sich fast, als dringe man tief in die Wildnis vor. | |
Die Gegend erinnert an ein Lied, das vor zwei Jahren überall im Radio lief | |
und mit der Zeile anfing: „Sie nennen es das Ende der Welt, doch eigentlich | |
ist es gar nicht so weit weg.“ | |
Es nieselt in Tubbergen an diesem Apriltag. Trotzdem grüßt sich freundlich, | |
wer sich in der properen Einkaufsstraße begegnet. Vor allen Geschäften | |
klingt aus Lautsprechern das Gleiche, eklektische Einkaufsradio. | |
Kirmestechno. „I love Rock ’n’ Roll“. „Three little birds“. Eine 30… | |
Bauerntochter hat BBB gewählt, weil ihr Vater einen Hof betreibt, wie sie | |
erzählt. Ein Bauarbeiter, der mit seiner Frau vom Einkaufen kommt, wollte | |
mit seiner Stimme eher „der Regierung einen Tritt geben, damit der Laden in | |
Bewegung kommt“. Das Ergebnis sei ein mehr als deutliches Signal. „Seitdem | |
haben sie wohl nicht so gut geschlafen.“ | |
Ganz hervorragend hingegen schläft in letzter Zeit Carla Evers. Die | |
Spitzenkandidatin der BBB in der Provinz Overijssel wohnt in Hezingen, | |
einem 200-Seelen-Dorf in der Nähe von Tubbergen. Carla Evers betreibt hier | |
mit ihrem Mann Erwin einen Geflügelhof. Um das Gelände zu betreten, müssen | |
Besucher:innen über Matten laufen, sodass sie keine Vogelgrippeerreger | |
hineintragen können. | |
## Verteidigung des agrarischen Sektors | |
Die Spitzenkandidatin, die in diesem Jahr 60 wird, doch um einiges jünger | |
wirkt, stieg erst vor einem Jahr in die Politik ein. Bevor sie ihren Mann | |
kennenlernte, arbeitete sie als Maklerin. Nun aber, als Bäuerin, ist sie | |
mit dem Kerngeschäft der BBB eng verbunden. Das bedeutet, den agrarischen | |
Sektor zu verteidigen gegen vermeintlich überflüssige, jedenfalls als zu | |
zahlreich wahrgenommene Regeln aus Den Haag. | |
Verschärft hat sich dieser Konflikt 2019, als die Regierung beschloss, den | |
landwirtschaftlichen Stickstoffausstoß zu senken. 2022 eskalierte er dann, | |
nachdem Den Haag ankündigte, Höfe mit hohen Emissionen aufzukaufen und | |
notfalls zu enteignen. Als die Landwirt:innen mit ihren Traktoren auf | |
die Straßen rollten, sympathisierten viele mit ihnen. | |
Worum gestritten wird, kann man von Evers’ Fenster aus sehen: Eines der | |
Naturgebiete, die laut EU-Habitat-Richtlinie vor zu viel Stickstoff | |
geschützt werden müssen, grenzt an ihr Grundstück. Die Auseinandersetzung | |
mit den Behörden darüber ist ihr bestens vertraut. | |
Irgendwann wurde die Agrar-Branchenorganisation LTO auf sie aufmerksam, | |
einige Jahre saß sie im Provinzvorstand. „Dort bekam ich den Eindruck, dass | |
die Behörden nur senden, den Menschen aber nicht richtig zuhören. Und die | |
LTO setzte sich nicht genug für die Bäuer:innen ein.“ Sie gab ihre | |
Tätigkeit auf und ging schließlich selbst in die Politik. | |
Zu dieser Zeit, 2021, nahm die BBB erstmals an Parlamentswahlen teil und | |
gewann ihren ersten Sitz in Den Haag. Zur VVD, der liberal-rechten | |
Regierungspartei, die sie früher gewählt hatte, war Evers inzwischen auf | |
Abstand gegangen. Wie eigentlich zur gesamten etablierten Politik. „Ich | |
hatte sehr stark den Eindruck, dass die Leute nicht ernst genommen werden.“ | |
Was sie besonders frustrierend fand: dass Menschen in den Städten ihrem | |
Berufsstand pauschal die Schuld an der Klimakrise geben. So nahm sie es | |
jedenfalls wahr. | |
## Wer tut was für die Umwelt? | |
„Natürlich können Bäuer:innen ihre Emissionen reduzieren. Aber manchmal | |
frage ich Leute, was sie selbst für die Umwelt tun. ‚Ich esse zweimal pro | |
Woche kein Fleisch‘, sagen sie dann. Aber sie fahren drei Mal jährlich in | |
Urlaub. Wenn ich dann frage: ‚Mit dem Fahrrad?‘, sind sie irritiert. ‚Du | |
findest also, Bauernhöfe müssen verschwinden, aber fliegst zum | |
Junggesellenabschied nach Mailand?‘, bohre ich weiter. Die Antwort ist oft: | |
‚Ist das jetzt auch schon nicht mehr möglich?‘“ | |
Was die Spitzenkandidatin hier anspricht, ist symptomatisch für die tiefe | |
Kluft, die sich durch das Land zieht. Hier der urbane Westen, dort der | |
periphere Osten, hier die internationale Ausrichtung, dort die Besinnung | |
auf den Boden der Tradition und übersichtliche Verhältnisse, gemütlich, | |
etwas behäbig, nicht ohne Selbstbewusstsein. Auf der Website der BBB | |
schreibt die Spitzenkandidatin Carla Evers, dass sie nach ihrer Ausbildung | |
in Den Haag „so schnell wie möglich wieder zurück in den Osten“ wollte. | |
Warum? „Das Dörfliche. Platz haben. Einander kennen“, sagt sie. „Der Ost… | |
ist ein Gefühl.“ | |
Wieder kommt einem dieses Lied in den Sinn. „De overkant“, so heißt es, | |
„Die andere Seite“, von einem Duo namens Suzan & Freek. Eine Ode an ein | |
Dorf, in dem es nichts zu erleben gibt, nur eine Kneipe und eine Kirche, wo | |
man jeden Nachnamen kennt, jeden Platz und das Fahrrad unabgeschlossen am | |
Weg stehen lassen kann. Der Refrain: „Es ist still hier auf der anderen | |
Seite, aber hier komm ich her.“ | |
Im Coronasommer 2021 traf das Lied den Nerv der Zeit. Selbstkritisch | |
blickten viele Niederländer auf die eigenen Konsummuster und den hektischen | |
Arbeitsalltag, sehnten sich nach Zeit und Ruhe, nach Authentizität. Urlaub | |
im eigenen Land wurde, wenn auch notgedrungen, zu einem Hype. | |
Auf das Lied angesprochen, lacht Evers. „In meiner Zeit als Maklerin war | |
der Vater von Suzan, der Sängerin, mein Kollege.“ Mit dem Text kann sie | |
sich vollkommen identifizieren. Für das, was er beschreibt, gibt es im | |
Osten der Niederlande einen Begriff, den man in der Region Twente | |
„Noaberschap“, Nachbarschaft, nennt. Der Begriff bezeichnet mehr als nur | |
zufällige räumliche Nachbarschaft, sondern darüber hinaus: füreinander | |
einzustehen, in jeder Lebenslage. „Früher war man darauf hier draußen | |
einfach angewiesen. Man schaffte etwa Maschinen zusammen an“, erklärt | |
Evers. „Als wir heirateten, nahmen sich unsere Nachbarn eine Woche Urlaub, | |
um alles vorzubereiten.“ | |
## In der Provinz rennt die BBB offene Türen ein | |
Die BBB hat dieses Prinzip zu einem ihrer Kernwerte erhoben. „Die anderen | |
sind: Menschen so zu behandeln, wie man selbst behandelt werden will, | |
Authentizität und Professionalität“, zählt Evers auf. In der Provinz, wo | |
die Infrastruktur abgebaut wird und man sich vom „Westen“ permanent | |
vernachlässigt fühlt, rennt die Partei damit offene Türen ein. Und in einer | |
Gesellschaft, deren Abstand zum politischen Establishment rasant wächst. | |
Laut einer Umfrage vom vergangenen Herbst vertrauen 67 Prozent der | |
Befragten der Politik „wenig oder sehr wenig“ – ein neuer Tiefstwert nach | |
den 61 Prozent im Vorjahr. Das Misstrauen gegenüber Premier Mark Rutte | |
stieg im gleichen Zeitraum von 56 auf 67 Prozent. | |
René Cuperus, ein bekannter Politologe, sieht all dies als Anzeichen für | |
einen Aufstand der Provinz gegen die Städte. „Es sind zwei unterschiedliche | |
Welten. Es herrscht beinahe Segregation. Genau wie der Brexit ein Aufstand | |
gegen London war und die Peripherie in Frankreich gegen Paris | |
demonstriert“, sagte er in einem Gespräch mit der wochentaz im Herbst 2022. | |
Er ist Mitverfasser der Studie „Atlas der abgehängten Niederlande“, in der | |
er die Vertrauenskrise von Politik und Regierung vor Ort untersucht. Fazit: | |
„Große Teile des Landes, gerade in der Provinz, fühlen sich nicht mehr | |
repräsentiert.“ | |
Cuperus begründet diese Entwicklung damit, dass sich der Versorgungsstaat | |
in eine Effizienzgesellschaft verwandelt habe. Wie zuletzt während der | |
Coronapandemie gesehen, habe diese keine Pufferzonen mehr. Dazu komme der | |
Abbau von Infrastruktur, Schulen und Arztpraxen, die schließen, Buslinien, | |
die gestrichen werden, und die rigorose Austeritätspolitik. | |
Untersuchungen der Plattform Follow The Money bestätigen Cuperus. Demnach | |
wurden zwischen 1997 und 2021 insgesamt 1.410 Grundschulen im Land | |
geschlossen – fast jede fünfte. In 178 Dörfern gibt es keine Grundschule | |
mehr. In der nördlichen Provinz Friesland sank die Zahl der | |
Polizeistationen seit den 80er Jahren um zwei Drittel, im dichtbevölkerten | |
Süd-Holland dagegen wurde nur gut ein Viertel der Wachen geschlossen. | |
## „Blau-Weiß-Rot, Land in Not“ | |
Die umgedrehte niederländische Fahne, die seit den Agrarprotesten im Sommer | |
2022 monatelang überall auf dem Land im Wind wehte und sich heute noch an | |
mancher Straße in der Provinz findet, war auch eine Antwort auf diese | |
Entwicklungen. Die Parole „Blau-Weiß-Rot, Land in Not“ wurde der Seefahrt | |
entlehnt, wo eine solche Fahne nach einem Unglücksfall entsprechend „Schiff | |
in Not“ bedeutete. Nun richteten sich die Proteste gegen einen Staat, der | |
sich angeblich von seinen Bürger:innen abgewandt hatte. „Die Botschaft | |
ist wie bei den Gelbwesten: ‚Wir lassen uns nicht länger verarschen!‘“, | |
konstatiert Cuperus. | |
Tatsächlich ist auch in den Niederlanden eine vage und damit politisch | |
schwer einzuordnende Protestbewegung von Menschen entstanden, die sich | |
„abgehängt“ fühlen. Insofern ähnelt sie der Gelbwesten-Bewegung, wenn au… | |
bisher mit geringerem Eskalationspotenzial. Auch an die USA lässt die | |
Spaltung denken, die nicht nur eine inhaltliche, sondern auch eine | |
geografische ist. | |
Doch die BBB ist keinesfalls eine trumpistische Partei. Fraglos ist sie | |
konservativ mit sozialer Agenda und im ländlichen Milieu verhaftet, doch | |
weder trifft man auf völkische Ideen noch auf rassistische Rhetorik. | |
Erschrockene Reaktionen in Deutschland, ob da nun urplötzlich eine Art | |
niederländische AfD entstanden wäre, sind entsprechend unbegründet. | |
In Den Haag diskutierte Anfang April das Parlament darüber, wie mit dem | |
Erdrutschsieg der BBB umzugehen ist, die Opposition sprach der Regierung | |
das Misstrauen aus. Wie lange sich die angeschlagene Koalition noch im | |
Sattel hält, steht in den Sternen. In den Provinzen, also etwa Nord-Holland | |
(Amsterdam), Limburg (Maastricht) oder Brabant (Eindhoven), wird derzeit | |
darüber verhandelt, wer dort künftig regiert. Unter Ausschluss der | |
Öffentlichkeit, doch klar ist: Die BBB drängt an die Macht. Die Provinzen | |
nehmen damit vorweg, was 2025 auch landesweit passieren könnte. | |
Damit ist die Peripherie zur politischen Arena in den Niederlanden | |
geworden, zum Ort, an dem sich die nähere Zukunft dieses Landes mit | |
entscheiden wird. Die Achterhoek zum Beispiel. Mehr Provinz passt nicht in | |
einen Namen, denn übersetzt bedeutet das so viel wie „hinterste Ecke“. | |
Genau dort liegt diese Gegend auch, die in etwa der historischen Grafschaft | |
Zutphen entspricht: zwischen Arnheim und Nordrhein-Westfalen. | |
## Die Superbauern | |
An einem frühen Freitagabend fährt dort ein Bus von Vorden, gut 7.000 | |
Einwohner:innen, nach Doetinchem, mit 55.000 Einwohner:innen das | |
Zentrum der Region. In den Weiden stehen noch die überdimensionierten | |
Wahlschilder der BBB. | |
Menschen in blau-weiß gestreifter Kleidung steigen in den Bus: Fans des | |
Fußball-Clubs BV De Graafschap, bekannt als „der Stolz der Achterhoek“, | |
oder auch als „Superboeren“, Superbauern. Der Zweitligist ist regional | |
stark verwurzelt. | |
In der Kantine der Superbauern sitzen zwei, die immer hier sind: Monique | |
Stortelder und Frank Stinissen. Beide haben vor drei Wochen die | |
Bauern-Bürger-Bewegung gewählt. Stortelder ist Ende 40. Sie arbeitet bei | |
einer Agentur, die landwirtschaftliches Personal bis über die deutsche | |
Grenze vermittelt, und ist für die Social-Media-Kanäle des Fanclubs | |
zuständig. Auf ihrem Telefon zeigt sie Fotos eines Auswärtsspiels vor zwei | |
Jahren. Damals brachten 150 Traktoren das Team bis zur Autobahn. | |
Stortelder berichtet, wie regionaler Stolz und Fußball hier | |
zueinanderfinden. Sie erzählt von einem Phänomen, das sich seit der | |
Pandemie zeigt: Immer mehr Menschen aus dem Westen der Niederlande würden | |
hier Häuser kaufen, sagt sie. „Für junge Leute von hier wird es darum sehr | |
schwer, in der Region ein Haus zu finden. Die Städter:innen überbieten | |
sie einfach.“ | |
Im Westen ist es deshalb seit ein paar Jahren kaum noch möglich, als | |
Normalverdiener:in ein Haus zu erstehen. Die Wohnungsnot im Land ist | |
dramatisch, doch der Neubau stockt, weil auch dabei Stickstoff ausgestoßen | |
wird, dessen Freisetzung das Land reduzieren muss. | |
## „Wir haben genug!“ | |
Stinissen, Anfang 50 und im Vorstand des Fanclubs, kann man als | |
Protestwähler beschreiben, dem es um menschliche Werte geht. „Es ging mir | |
nicht nur um die Bäuer:innen, sondern allgemein um die Frage, wie Menschen | |
hier behandelt werden. So etwas geht doch nicht!“, empört er sich. „Was hat | |
die Regierung nicht alles angerichtet, in Groningen oder beim | |
Kindergeldskandal! Meine Stimme war eher als Statement gedacht: Wir haben | |
genug!“ Auf seinem rechten Unterarm hat Stinissen die Namen seiner Kinder | |
tätowiert. Links, auf dem Bizeps, prangt eine große Achterhoek-Fahne mit | |
dem Club-Slogan im Dialekt: „Zusammen rangehen für immer!“ | |
Um kurz nach sechs Uhr, vor dem Anpfiff, scheint es, als sei die ganze | |
Achterhoek zusammengekommen, um die Superbauern zu unterstützen. Der | |
Spitzname des Clubs ist auch der Ehrentitel der gleichnamigen | |
Fanvereinigung. „Bauern, das ist natürlich eine Zuschreibung von außen, ein | |
negativer Ausdruck“, sagt Hans Boesberg, der Vorsitzende. „Die Leute aus | |
der Randstad beschimpfen dich so. Sie fühlen sich überlegen. Der Bauer, das | |
ist doch ein dummer Typ, der nach Scheiße stinkt. ‚Superbauern‘ ist eine | |
Reaktion darauf: ‚Kommt doch her, wenn ihr euch traut!‘“ | |
Gerade im Fußball zeigt sich die Arroganz, die dem Blick in die östliche | |
Landeshälfte oft innewohnt. Als Boeren werden Teams von dort ständig | |
bedacht. Für nicht wenige Amsterdamer beginnt das Bauernland sogar gleich | |
hinter der Stadtgrenze. | |
Hans Boesberg schlägt eine Zeitung auf, der Vereinsvorsitzende weist auf | |
zwei Artikel hin. Der erste erklärt, dass in der Hauptstadtregion auf die | |
gleiche Einwohnerzahl fünfmal mehr Polizeibeamte kommen als hier, im Osten | |
der Provinz Gelderland. Der zweite fürchtet um die beliebten Osterfeuer, | |
die wegen ihres Stickstoffausstoßes in der Diskussion sind. Er beginnt mit | |
einer Frage: „Drehen kleinliche Den Haager Regeln der geschätzten Tradition | |
im Osten und Norden des Landes den Hals um?“ | |
Boesberg sagt: „Die Leute identifizieren sich nicht mit den Bäuer:innen, | |
weil sie sie so sympathisch finden, sondern weil sie sich wehren.“ | |
Auf dem Fußballfeld ringt De Graafschap an diesem Abend Almelo, einen | |
Kleinstadtclub, nieder. Das Vijverberg-Stadion bebt. Wie es hier der Brauch | |
ist, läuft nach dem Match jemand, eine riesige Achterhoek-Fahne schwenkend, | |
über den Platz. Die Superbauern strömen in die Nahverkehrszüge, fahren | |
zurück in die Dörfer. Für den Moment sind sie stolz auf ihre Heimatregion. | |
4 Jun 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Provinzwahlen-in-den-Niederlanden/!5922426 | |
[2] /Kindergeldaffaere-in-den-Niederlanden/!5741538 | |
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Tobias Müller | |
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