# taz.de -- Ermordeter Journalist Peter R. De Vries: Die Niederlande, ein Narco… | |
> Der Prozess um den Mord am Journalisten Peter R. De Vries konfrontiert | |
> die Niederlande mit den tiefen Abgründen der Unterwanderung des | |
> Rechtsstaats. | |
Bild: Vor Prozessbeginn am Hochsicherheitsgericht in Amsterdam, Niederlande, 27… | |
AMSTERDAM taz | Wie glaubwürdig ist das Bedauern eines vermeintlichen | |
Mordmaklers? „Ihr sollt wissen, dass ich dies nicht gewollt habe“, sagte | |
der Verdächtige Krystian M. während der letzten Sitzung Ende Januar zu | |
Kelly und Royce, den Kindern des Ermordeten. „Ich habe unter Druck Berichte | |
weitergeleitet. Es wurden sehr heftige Dinge zu mir gesagt, die ich nicht | |
wiederholen möchte. Wenn ich etwas anders machen könnte, ich würde es tun. | |
Es tut mir leid.“ | |
Vier Wochen später zeigt sich die Staatsanwaltschaft davon unbeeindruckt. | |
Es ist eines der letzten Male, dass das Gericht im sogenannten Bunker, | |
einem extra gesicherten Gebäude ganz im Westen Amsterdams, zusammenkommt, | |
um über den [1][Mord am Journalisten Peter R. De Vries] im Juli 2021 zu | |
sprechen. Krystian M. sei freiwillig einer kriminellen Vereinigung, die | |
[2][Mordaufträge] ausführte, beigetreten, so die Anklage. Sie sieht M. | |
nicht als „wehrloses Opfer“, sondern als „Mordmakler“ und Koordinator d… | |
Tat, der genau wie der Schütze und sein Chauffeur lebenslänglich hinter | |
Gitter soll. | |
Mordmakler ist eines der Wörter, an die man sich in den Niederlanden in den | |
letzten Jahren gewöhnt hat. Nicht zuletzt durch diesen Prozess gegen die | |
neun Verdächtigen, denen der Anschlag auf den bekannten Crime-Journalisten | |
an einem Juliabend mitten in Amsterdam zur Last gelegt wird. | |
## Berater des Kronzeugen | |
Zur Zielscheibe gemacht hatte De Vries seine Rolle in einem anderen | |
Verfahren: Im sogenannten Marengo-Prozess beriet er den Kronzeugen Nabil B. | |
17 Verdächtige der sogenannten Mocro-Mafia standen seit Ende 2018 vor | |
demselben Gericht, darunter Ridouan Taghi, Chef eines Kartells, das | |
zeitweise ein Drittel des [3][europäischen Kokainmarkts] beherrscht haben | |
soll. Bei dem „Jahrhundertprozess“, wie niederländische Medien ihn nannten, | |
ging es um sechs Morde zwischen 2015 und 2017. Er brachte das Vertrauen in | |
den Rechtsstaat ins Wanken wie keiner zuvor. | |
Kronzeuge Nabil B. spielte dabei eine zentrale Rolle: 2018 wurde sein | |
Bruder in Amsterdam ermordet, 2019 sein Anwalt Derk Wiersum. Es war der | |
Moment, als die Bewohner*innen der Stadt merkten, dass die regelmäßigen | |
Morde in Außenbezirken sich eben nicht wie gedacht auf das „kriminelle | |
Milieu“ beschränkten. Der Mord am überaus beliebten De Vries mitten im | |
touristischen Trubel war das Ausrufezeichen hinter dieser schockierenden | |
Erkenntnis. | |
Wie eng beide Prozesse verwoben sind, zeigt sich, als sie sich Ende Februar | |
auch zeitlich überschneiden. Einen Tag bevor im Prozess De Vries die letzte | |
Sitzung beginnt, werden die Urteile gegen die Marengo-Verdächtigen | |
verkündet. Das Gebiet um den „Bunker“ ist nahezu abgeriegelt, an jeder | |
Straßenecke stehen Polizisten in schwarzen Uniformen, mit Gesichtsbedeckung | |
und Automatikwaffen im Anschlag. Ein Hubschrauber kreist über dem Gebäude, | |
etwas höher steht eine Drohne in der Luft. Autos mit dunklen Scheiben | |
preschen vor, fahren in einen Seitenflügel des Gerichts, wo die | |
Verdächtigen in Sekundenschnelle nach drinnen bugsiert werden. | |
Kartellboss Taghi wird an diesem Morgen zu lebenslanger Haft verurteilt, | |
ebenfalls seine vermeintliche rechte Hand Said R. und Mario R., ein | |
weiterer Angeklagter. Beide wollen dagegen in Berufung gehen. Die anderen | |
müssen für knapp zwei bis gut 29 Jahre ins Gefängnis, zehn Jahre der | |
Kronzeuge Nabil B. „Ein wichtiger Moment“, postet Justizministerin Dilan | |
Yeşilgöz auf X. „Das organisierte Verbrechen ist in den letzten Jahren zu | |
einer immer größeren Bedrohung für die Sicherheit von uns allen geworden.“ | |
## Kalkulierter Schockeffekt | |
Details und Ausmaße davon werden einen Tag später auf der Zielgeraden des | |
De-Vries-Verfahrens deutlich. Die Staatsanwaltschaft erklärt noch einmal, | |
warum sie erstmals einen Mord im Kontext des organisierten Verbrechens als | |
terroristische Tat sieht. „Es war die Absicht, der Bevölkerung große Angst | |
einzujagen.“ Davon zeugten nicht nur der öffentliche Tatort, sondern auch | |
die beiden Männer, die den niedergeschossenen Journalisten filmten und die | |
Aufnahmen auf Social-Media-Kanälen verbreiteten. | |
Zweifellos hatte der Mord an De Vries – eine Mischung aus hard-boiled | |
detective mit Celebrity-Faktor und Anwalt, der sich unerbittlich für | |
Menschen einsetzt – einen massiven Schockeffekt auf diese Gesellschaft. | |
Ähnlich war es nach dem Mord an Anwalt Derk Wiersum, als dessen Amtskollege | |
Willem Jan Ausma beschloss, keine Kronzeugenfälle mehr anzunehmen, weil er | |
„das Leben schöner als meinen Beruf“ fand – oder im Herbst 2022, als | |
Berichte über eine drohende Entführung von Premier Rutte oder | |
Kronprinzessin Amalia durch die Mafia die Runde machten. | |
Das Image des „Narco-Staats“ Niederlande hatte sich damals längst | |
verbreitet. Auf den Punkt brachte es 2021 ein Spiegel-Titelbild, das in | |
seiner stereotypen Verkürzung ikonisch wurde: Frau Antje mit Kleidertracht | |
und Joint im Mundwinkel, in der rechten Hand eine Kalaschnikow, in der | |
linken einen Gouda mit versteckten Kokainsäckchen. „Wie die Niederlande mit | |
naiver Drogenpolitik die Mafia groß machten“ hieß die zugehörige | |
Titelstory. | |
Nicht zum ersten Mal wurde damit das Image einer Gesellschaft | |
dekonstruiert, die vor nicht allzu langer Zeit noch als Vorbild von | |
Offenheit und Liberalismus galt. Seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert waren | |
die Niederlande nicht nur Motor einer progressiven Soft-drugs-Politik, | |
sondern wurden auch als Beweis dafür gesehen, dass es möglich ist, | |
Cannabiserwerb und -konsum vom kriminellen Milieu zu trennen. Das „High | |
sein, frei sein“-Image Amsterdams lief der Stadt überall voraus, der | |
Coffeeshop war lange eine weltweit bewunderte Errungenschaft. | |
## Liberale Drogenpolitik | |
Der Geburtsfehler der 1976 eingeführten Duldungspolitik – Cannabis war | |
demnach nie legal, sondern lediglich der Verkauf und Kauf geringer Mengen | |
sowie der Konsum von der Strafverfolgung ausgenommen – war die sogenannte | |
illegale Hintertür der Coffeeshops. Deren Einkauf blieb genauso verboten | |
wie die Produktion. Der so geschaffene illegale Markt hatte umso enormere | |
Gewinnmargen, je populärer das Modell unter Besucher*innen aus der | |
ganzen Welt wurde. Der spätere Kokainboss Taghi stieg in den 1990ern ins | |
Haschischgeschäft ein. | |
Inzwischen hat sich der Markt diversifiziert, und die Niederlande sind ein | |
wichtiger Standort für die Produktion synthetischer Drogen geworden. 105 | |
Labore wurden 2022 ausgehoben, vor allem die Crystal-Meth-Produktion | |
steigt, Zahlen für 2023 liegen noch nicht vor. In der Regel spielt sich | |
dieser Prozess in dünn besiedelten, peripheren Gebieten ab. Ende Januar | |
jedoch ereignete sich eine Explosion in einer Garage unter einem | |
Rotterdamer Wohnhaus, bei der es drei Todesopfer gab. Offenbar war hier ein | |
Labor für chemische Drogen untergebracht. | |
Die entsetzten Reaktionen ähneln denjenigen nach den Morden an Wiersum und | |
De Vries. Einmal mehr wird deutlich, wie weit sich die Strukturen des | |
klandestinen Markts von den vermeintlichen Rändern bis in die Mitte der | |
Gesellschaft ausgedehnt haben. Eigentlich können die | |
Niederländer*innen dies auch täglich in den Nachrichten sehen, oder, | |
je nach Wohnort, hören: seit Monaten nimmt die Zahl der nächtlichen | |
Explosionen an Wohnungsfassaden zu. 378 waren es offiziell 2023, die | |
meisten in Rotterdam, gefolgt von Amsterdam. | |
Die Hintergründe sind unklar, angenommen werden milieuinterne Abrechnungen | |
und Einschüchterungen, die freilich ganze Nachbarschaften in Gefahr | |
bringen. Bislang ist es bei Sachschaden geblieben. Kurz bevor im Bunker die | |
letzte Sitzung im De-Vries-Prozess beginnt, meldet der lokale Sender AT5, | |
dass es in der Nacht in Amsterdam vier Explosionen gab. Drei sollen in | |
Verbindung mit einem am Wochenende erschossenen Rapper stehen, an zwei | |
Tatorten fand man das Wort „war“ auf eine Mauer gesprüht. | |
Femke Halsema, Amsterdams Bürgermeisterin, schlägt angesichts dieser | |
Zustände Alarm. Zu Jahresbeginn publizierte sie einen Essay im Guardian, | |
der international viel Beachtung fand. „Wir sind stolz auf unsere | |
gesundheitsorientierte Drogenpolitik, aber der globale Anstieg illegalen | |
Drogenhandels bedeutet, dass wir internationale Lösungen brauchen“, schrieb | |
Halsema. Ohne einen anderen Ansatz seien die Niederlande auf dem Weg zum | |
Narkostaat. | |
Wenige Wochen später empfing sie bei einer Konferenz aktuelle und ehemalige | |
Kolleg*innen, unter anderem aus Bogotá und Kapstadt. Sie diskutieren über | |
eine Regulierung – „keine Legalisierung!“ – von Drogen wie Kokain oder | |
Ecstasy, um die Auswirkungen des illegalen Markts zu bekämpfen. Der War on | |
drugs, so Halsema, sei eine Sackgasse und löse das Problem nicht, sondern | |
verschwende öffentliche Mittel, während Kriminelle weiter enorme Profite | |
machten. | |
Im Bunker am Rand der Stadt bekommen diese Worte ihre eigene Dimension. | |
Jahrelang dröhnten hier an Sitzungstagen Polizeihubschrauber, gepanzerte | |
Fahrzeuge fuhren vor und wieder weg, die Sicherheitsoperationen, an denen | |
sich zeitweise auch die Armee beteiligte, waren die größten in der | |
niederländischen Justizgeschichte. Im Juni werden, diese Schlüsse lässt die | |
Beweislage zu, auch die Verdächtigen im De-Vries-Prozess zu langen | |
Haftstrafen verurteilt. Das Berufsbild des Mordmaklers gehört damit noch | |
nicht der Vergangenheit an. | |
7 Mar 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Mord-an-Journalist-Peter-de-Vries/!5987908 | |
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## AUTOREN | |
Tobias Müller | |
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