# taz.de -- Regelschule vs. Sonderschule: Inklusion tut weh | |
> Auf Rügen sollen alle Kinder gemeinsam lernen. In Berlin gibt es | |
> weiterhin Sonderschulen. Was ist besser für die Kinder? Und wer | |
> entscheidet das? | |
Bild: In Justins Klasse auf Rügen | |
Alexander, der schmächtige Junge mit blonden Haaren, sieht nicht so aus, | |
als würde er gleich eine Bastelschere aus der Federmappe nehmen und damit | |
auf seine Mitschüler losgehen. Vor zwei Jahren war das so. Alexander war | |
damals in der dritten Klasse einer ganz normalen Grundschule. Die | |
Bastelschere war seine Waffe gegen Lehrer, die ihn überforderten, und | |
Mitschüler, die ihn ausgrenzten, weil er der Seltsame war, der Langsame, | |
der Idiot. | |
An einem Donnerstagmorgen im Juni sitzt Alexander, der in Wirklichkeit | |
anders heißt, zwischen seinen Mitschülern und schreibt mit Bleistift in | |
sein Rechenheft. Er achtet darauf, dass die Zahlen ordentlich | |
untereinanderstehen und er beim Radieren nicht schmiert. Was ist 11 plus 8? | |
Was ist 25 geteilt durch 5? Alexander weiß es. „Wir sind weit gekommen“, | |
sagt seine Lehrerin Pamela Nonn und lässt den Blick über die Bankreihen | |
wandern. Das Klassenzimmer wirkt ungewöhnlich leer: Alexander hat nur neun | |
Mitschüler. Die Schule am Fennpfuhl in Berlin-Lichtenberg ist eine | |
Förderschule für Lernbehinderte, die Klassen sind nicht einmal halb so groß | |
wie normale Grundschulklassen. Alexander geht heute also auf eine Schule, | |
die es eigentlich gar nicht mehr geben dürfte: eine Sonderschule. | |
Seit 2009 gilt in Deutschland die UN-Behindertenrechtskonvention. Das | |
heißt: Die Regelschulen sind für alle Kinder zuständig und dürfen niemanden | |
aufgrund seiner Behinderung ausschließen. Traditionell wurden Kinder, die | |
nicht ins Lernschema passten, in Deutschland in Sonderschulen unterrichtet | |
– die Blinden an der Sehschwachenschule, die Stotterer an der | |
Sprachförderschule, die Langsamen an der Lernförderschule. Aber dieses | |
Sonderschulsystem hat inzwischen einen schlechten Ruf. Nicht nur, weil es | |
gehandicapte Kinder von den „Normalos“ trennt, sondern auch, weil es ihnen | |
schlechtere Chancen zuteilt: Mehr als drei Viertel der Kinder an den | |
Förderschulen für Lernbehinderte erreichten 2014 keinen | |
Hauptschulabschluss. Kein Abschluss, keine Lehrstelle, kein Job – die Kette | |
lässt sich leicht ergänzen. | |
Deshalb soll nun inkludiert werden. Jedes Kind soll die Chance haben, an | |
einer Regelschule nach seinen Bedürfnissen gefördert zu werden. In Berlin | |
sind die Politiker stolz auf eine hohe Inklusionsquote: Zwei Drittel der | |
Grundschüler mit diagnostiziertem Förderbedarf gehen inzwischen an ganz | |
normale Grundschulen. | |
Hört man sich aber in Berliner Lehrerzimmern um, ist da vor allem Frust: | |
darüber, die meiste Zeit allein vor 24 Kindern zu stehen, von denen fünf | |
verhaltensauffällig sind. Darüber, dass man am Ende keinem Kind gerecht | |
wird. | |
Nachdem lange die Sonderschule kritisiert worden ist, wird jetzt vielerorts | |
die Kritik an der Inklusion immer lauter. In Nordrhein-Westfalen ist | |
zuletzt die rot-grüne Regierung an dem Plan gescheitert, die inklusive | |
Schule zur Regel zu machen. Nach vier Jahren klagten selbst diejenigen, die | |
Inklusion für eine sinnvolle Sache hielten, über zu große Klassen und zu | |
wenige Sonderpädagogen – SPD und Grüne wurden abgewählt. | |
Ist Inklusion vor allem eine hübsche Vision? Ein Menschenrecht auf dem | |
Papier, aber nicht alltagstauglich? | |
Pamela Nonn, Alexanders Lehrerin in Berlin-Lichtenberg, würde dem | |
zustimmen. Ihre Schüler waren an den Regelschulen untergegangen, bevor sie | |
zu ihr kamen. Die meisten konnten nur mithilfe ihrer Finger rechnen. Die | |
Hälfte der Kinder konnte nicht lesen. „Nach zwei Jahren in der Grundschule, | |
wohlgemerkt“, sagt Nonn. „Dass wir die Kinder erst in der dritten Klasse | |
bekommen, bedeutet für die meisten von ihnen zwei verschenkte Jahre.“ | |
Nachdem Nonn das Einmaleins abgefragt hat, klassischer Frontalunterricht, | |
steht „Wochenplan“ auf dem Programm – in dieser Zeit dürfen die Kinder f… | |
arbeiten, eine Stunde pro Tag in ihrem eigenen Tempo: Deutsch, Mathe, | |
Sachkunde. Jeder kann selbst entscheiden, ob er lieber erst mal einen | |
Aufsatz über die Katze als Haustier schreiben möchte oder am | |
Jahreszeitenkalender weiterbastelt – Hauptsache, am Freitag sind alle mit | |
allem fertig. | |
## Kleine Klassen, kein Kind wird übersehen | |
Wenn Nonn, die blonden Haare zu einem strengen Pferdeschwanz gebunden, mit | |
den Kindern redet, tut sie das auf eine sehr klare Art. Eine gehobene | |
Augenbraue und ein mahnender Satz reichen – „Na komm, nur noch ein | |
Kapitel!“ – und der zaghafte Protest eines Jungen, der keine Lust hat, sein | |
Tierbuch zu lesen, fällt in sich zusammen. Die Kinder wollen die | |
Erwartungen ihrer Lehrerin erfüllen. Die Abwehrhaltung, die Schere in der | |
Hand von Alexander, ist verschwunden. | |
Seit acht Jahren setzt sich das Land Berlin für Inklusion ein, aber die | |
Nachfrage nach Förderschulen ist immer noch groß: Es mangele nicht an | |
Anmeldungen, lässt die Rektorin aus Lichtenberg wissen. Dabei hat ihre | |
Schule kein ausgefallenes pädagogisches Konzept, es gibt Noten und | |
Hausaufgaben. Was die Eltern interessiert, ist etwas anderes: die kleinen | |
Klassen und eine Sonderpädagogin wie Nonn als Klassenlehrerin – eine | |
Expertin, die immer da ist und nicht nur ab und zu wie an den Regelschulen. | |
Die Eltern denken, wenn alle in einem Tempo und auf einem Level lernen, | |
wird ihr Kind weder überfordert noch übersehen. | |
Der Anteil der Schüler im Sonderschulsystem ist bundesweit seit 2009 | |
ziemlich konstant. Es gibt immer noch rund 3.000 Sonderschulen – nur etwa | |
300 weniger als vor acht Jahren. Werden Förderschulen also doch noch als | |
Auffangbecken gebraucht? | |
Auf Rügen wird ausprobiert, was passiert, wenn es diese Auffangbecken nicht | |
gibt. Ab 2010 wurden dort keine Kinder mehr auf Förderschulen für | |
Lernbehinderte und Verhaltensauffällige eingeschult. Die ganz normalen | |
Grundschulen sind jetzt für diese Kinder zuständig. Rügen ist ein | |
Inklusionslabor, das wissenschaftlich überwacht wird. | |
Silke Wolff leitet die Grundschule bei Gager, im Südosten von Rügen. Als | |
sie und ihre Kollegen darüber informiert wurden, dass nun alle Kinder | |
zusammen lernen sollten, habe ihr dieser Schritt eingeleuchtet, sagt sie. | |
„Wir müssen die Kinder mit Schwierigkeiten dann nicht mehr wegschicken. Das | |
hat uns gefallen.“ | |
Wolffs Schule ist ein Traum: reetgedeckt und gleich hinterm Deich. 83 | |
Kinder lernen hier. Im Erdgeschoss hat Justin gerade Mathe, er ist einer | |
von 24 zumeist blonden und braungebrannten Schülern der Klasse 4. Zum | |
Wachwerden spielen die Kinder zu zweit ein Würfelspiel: Ein Blatt mit | |
Rechenaufgaben liegt zwischen Justin und Nora. Wer eine Fünf würfelt, darf | |
eine Aufgabe lösen. Justin kaut auf seinem Stift herum, überlegt: 20 mal 9? | |
Nora reißt ihm das Blatt weg – sie hat schon wieder eine Fünf. Justin | |
verdreht die Augen, würfelt, zögert aber den Würfel fallen zu lassen. „20 | |
mal 9“, sagt er und überlegt noch immer. Die meisten Ergebnisse stehen am | |
Ende in Noras Schrift auf dem Papier. | |
Justins Mathelehrerin hat drei Ablagen auf dem Parkett vor der Tafel | |
abgestellt. Drei Schwierigkeitsgrade, drei Kennzeichnungen: Feder, Waage, | |
harte Nuss. Zuerst darf Justin nach vorn gehen. Er nimmt sich Blätter aus | |
der Feder-Ablage, die leichten Aufgaben. Danach stehen die Kinder auf, die | |
sich aus der Waage-Ablage bedienen. Auch Nora ist dabei. Wer darf die | |
harten Nüsse knacken? Ein Junge erklärt: „Wir rechnen besonders gut und | |
dürfen jeden Mittwoch in den Kunstraum.“ Gut in Mathe zu sein ist ganz klar | |
etwas sehr Erstrebenswertes. | |
12 öffentliche Grundschulen gibt es auf Rügen. Alle arbeiten nach dem | |
gleichen Konzept: Kinder, die sich zu Förderschülern entwickeln könnten, | |
werden von Anfang an identifiziert und gezielt unterstützt. | |
Silke Wolff, die Schulleiterin, übt in der zweiten Stunde mit zwei | |
Erstklässlern Lesen. „Kann eine Regenkapuze rot sein?“, liest ein Mädchen | |
flüssig vor. Sie hat Probleme beim Hören und deshalb später Lesen gelernt. | |
Im Grunde sei die Kleine kein Fall für eine Förderklasse, sagt Wolff. „Was | |
wir hier machen ist eher präventiv.“ | |
## Justin rechnet 5 mal 5. Nora rechnet 100 mal 10.000 | |
In der großen Pause spielen die Kinder auf dem Schulhof, der nach dem | |
nächtlichen Regen einer großen Pfütze gleicht. Im Lehrerzimmer hört man sie | |
nur gedämpft. Silke Wolff hat eine Platte mit Wurst- und Käsebrötchen | |
aufgetischt. Die Kollegen greifen zu. Einige unterrichten schon seit den | |
achtziger Jahren hier. Sie sei am Anfang nicht überzeugt gewesen von der | |
Inklusion, gibt die Kollegin neben Wolff zu. „Wieso sollte plötzlich falsch | |
sein, was 40 Jahre lang richtig war?“ Dann habe sie sich aber eines | |
Besseren belehren lassen. „Weil wir die Erfolge sehen.“ | |
Auch die Wissenschaftler an der Uni Rostock, die das Inklusionsprojekt auf | |
Rügen begleitet und mit strukturell ähnlichen Klassen in Stralsund | |
verglichen haben, sehen die Erfolge: Die Grundschüler ohne Förderbedarf in | |
Rügen liegen in ihren Leistungen nicht hinter denen in Stralsund zurück und | |
die mit Förderbedarf lernen schneller – Inklusion schadet also niemandem. | |
Die Lehrer auf Rügen ließen sich zum Teil auch deshalb von diesem | |
Inklusionsmodell überzeugen, weil es der Schule in der DDR ähnelt. Es ist | |
effizienz- und leistungsorientiert. Sitzenbleiben und Zensuren gibt es | |
weiterhin ab Klasse 2. Hinzu kommen monatliche Tests ab der vierten | |
Schulwoche, die Schüler nach einem Ampelsystem bewerten und in | |
Förderkategorien einteilen: Grün geht klar, wer auf Gelb oder Rot steht, | |
bekommt extra Aufmerksamkeit. Und dann sind da noch die Weißen, die | |
besonders Schlauen – auch sie bekommen spezielle Aufgaben. Der Unterricht, | |
so die Idee, die aus den USA stammt, soll laufend an die Leistungen und | |
Voraussetzungen jedes Kindes angepasst werden. | |
Silke Wolff weiß über alle Kinder an ihrer Schule Bescheid, die | |
Schülerakten mit Testergebnissen und Fördermaßnahmen zieren die Schränke | |
des Lehrerzimmers. Bei der monatlichen Teambesprechung beugen sich | |
Schulleiterin, Klassenlehrer und die Sonderpädagogen über die Akten, | |
tauschen sich über die Lernfortschritte aus und besprechen wie es | |
weitergeht – so ist das an jeder Rügener Grundschule, egal ob sie 80 oder | |
280 Schüler hat. | |
„Der Ansatz ist ein pragmatischer“, sagt Bodo Hartke von der Uni Rostock. | |
Er hat das Rügener Inklusionsmodell entworfen. „Wir wollten mit diesem | |
System der Aussonderung aufhören, ohne die Schule vollständig | |
umzukrempeln.“ | |
Justin rechnet 5 mal 5. Nora rechnet 100 mal 10.000. Die Lehrerin lobt ihn: | |
„Alles richtig, und so schnell!“ Justin ist erst seit einem Jahr in der | |
Klasse. Vorher wohnte er mit seiner Mutter und seinem Bruder auf dem | |
mecklenburgischen Festland. Dort ging er auf eine Förderschule, wo er kaum | |
Fortschritte machte. „Meister war der im Ausdenken von Krankheiten“, sagt | |
seine Mutter. Sie musste ihn oft früher abholen. Nicht selten weigerte er | |
sich aber auch schon morgens, in die Schule zu gehen. Wenn es in den Pausen | |
Prügeleien gab, war er mittendrin. „Justin war früher so“, sagt seine | |
Mutter und hebt die geballten Fäuste. Alle in seiner Klasse waren so. | |
Als Justins Familie nach Rügen zog, gab es keine Förderschule, auf die er | |
gehen konnte. Die waren auf der Insel ja abgeschafft. Also ging er auf | |
Silke Wolffs Grundschule, die Klassenlehrerin versprach: Justin würde im | |
Unterricht mitkommen, er bekommt eigene Aufgaben und wird anders benotet. | |
Inzwischen kann er lesen. Und er geht wieder gern zur Schule. „Den | |
Leistungsstand, auf dem er heute ist, den hätte ich mir nicht träumen | |
lassen“, sagt seine Mutter. Auch Justins Klassenlehrerin findet, er habe | |
riesige Fortschritte gemacht. Sie sagt aber auch: „Justin fängt jetzt an | |
sich zu genieren, wenn er die leichteren Aufgaben bekommt.“ | |
An der Sonderschule war Justin Gleicher unter Gleichen. Das Einmaleins | |
lernte er nicht. In der Regelschule ist er der langsamste Rechner. Aber er | |
kann jetzt multiplizieren. | |
Ist es Kindern zuzumuten, von klein auf die Erfahrung zu machen: Ich bin | |
dümmer? Ist es nicht nachvollziehbar, dass Eltern, die entscheiden sollen, | |
ob ihr Kind eine behütete Kindheit haben soll oder bessere Chancen in der | |
Leistungsgesellschaft, sich für Ersteres entscheiden? Förderschulen, wie | |
die in Berlin-Lichtenberg mit den kleineren Klassen, mit dem langsamen | |
Lerntempo, sind Schutzräume. Hier dürfen auch nicht so schnelle Kinder mal | |
die Erfahrung machen: Ich bin der Beste. | |
„Aber wir leben nun mal in einer Leistungsgesellschaft“, sagt Michael | |
Kossow. Er ist als Schulrat zuständig für das Rügener Inklusionsmodell. Er | |
ist durch Turnhallen und Aulen getourt, hat vor Eltern und Lehrern | |
gesprochen, um sie zu überzeugen. Kossow ist ausgebildeter Sonderpädagoge, | |
heute findet er falsch, worum es jahrelang hauptsächlich ging: dass es den | |
Kindern gutgeht. „Wir neigen dazu, Kinder in der Sonderschule zu | |
unterfordern.“ Oft hätten diese am Ende ihrer Schulzeit das Gefühl, sie | |
seien doch ganz gute Schüler. „Dieses falsche Selbstbild bricht spätestens | |
in der Berufsschule. Und das ist dann richtig schmerzhaft.“ Kinder müssten | |
lernen, ihr Leistungsvermögen von Anfang an richtig einzuschätzen und auch | |
Misserfolge zu verkraften, sagt er. | |
## Wer entscheidet, Eltern oder Pädagogen? | |
Kossows Haltung und das Rügener Inklusionsmodell sind gerade bei | |
Reformpädagogen umstritten. Standardisierte Tests und Trainings lehnen wir | |
ab, sagt die stellvertretende Leiterin der Laborschule Bielefeld, an der | |
schon seit 40 Jahren auch behinderte Kinder aufgenommen werden. Bei der | |
Inklusion geht es doch darum, anzuerkennen, dass Kinder unterschiedlich | |
sind und auch so behandelt werden müssen. In der reformpädagogischen Schule | |
sieht Inklusion deshalb so aus: Eltern-Lehrer-Gespräche statt Zensuren, | |
selbstgesteckte Lernziele statt Lehrplan, Wettkämpfe sind selbst im Sport | |
verpönt. | |
Der totale Gegenentwurf zum Rügener Modell, scheint es. Aber es gibt | |
durchaus Gemeinsamkeiten: Jedes Kind wird individuell betrachtet – was kann | |
es, was braucht es? Teams entscheiden, der Lehrer als Einzelkämpfer vor der | |
Klasse ist passé. | |
An Alexanders Förderschule in Berlin-Lichtenberg gibt es ein Projekt, das | |
versucht, verhaltensauffällige Kinder fit für die normale Grundschule zu | |
machen: die Beiboot-Klasse. Ein Schulhelfer und ein Lehrer kümmern sich um | |
vier Kinder, die schon in der Kita auffällig wurden. Zwei Jahre lang geht | |
es im Beiboot dann vor allem darum, die Voraussetzung dafür zu schaffen, | |
dass Lernen überhaupt stattfinden kann. | |
Vier Kinder, zwei Pädagogen, zwei Jahre lang – das zeigt auch, wie naiv es | |
ist zu glauben, Inklusion erledige man als Lehrerin in einer normalen | |
Grundschulklasse mal so nebenbei. Etwa zwei der vier Kinder schaffen der | |
Erfahrung der Schulleitung nach den Sprung in die Regelschule. | |
Auch in Mecklenburg-Vorpommern, dem Bundesland mit der größten | |
Exklusionsquote – einer von 17 Schülern besucht eine Sonderschule –, gibt | |
es solche Klassen, Diagnoseförderklassen heißen sie. Die Grundschüler haben | |
für die erste und zweite Klasse ein Jahr länger Zeit. 2006 aber rückten | |
Bodo Hartke und sein Team von der Uni Rostock an. Sie prüften die | |
Diagnoseförderklassen und stellen fest: Sie leisteten nicht, was sie | |
sollten. Die schwachen Schüler verschlechtern sich sogar, ihr Verhalten | |
wird auffälliger – trotz kleinerer Klassen und mehr Zeit. Als das Rügener | |
Modell entworfen wurden, hat man sich deshalb für die Inklusion und gegen | |
jede Art von Sonderklassen entschieden. | |
Politiker wie die Berliner Bildungssenatorin Sandra Scheeres von der SPD | |
betonen stets, dass der Elternwille bei der Inklusion wichtig sei: Eltern | |
sollen die Wahl haben, zwischen Sonderschule und der normalen Grundschule | |
von nebenan. Versteckt sich die Politik hinter dem Elternwillen, weil sie | |
nicht den Mut hat, harte Entscheidungen zu fällen? Sucht sie den Kompromiss | |
– und macht es am Ende doch niemandem recht? | |
## „Das Kind hat eine Bindungsstörung, das braucht Zeit“ | |
In Nordrhein-Westfalen wollte die rot-grüne Regierung zweigleisig fahren: | |
Sie machte die Schulen inklusiv und behielt das System der Sonderschulen | |
bei. So sollte der Frieden mit der CDU gewahrt werden. Die Eltern sollten | |
über die Schule ihres Kindes entscheiden. Aber zwei Systeme zu finanzieren, | |
ist zu teuer. Wenn Inklusion funktionieren soll, müssen die Ressourcen weg | |
von den Sonderschulen und hin zu den Regelschulen verlagert werden – und | |
zwar konsequent. | |
Auch in Berlin drückt man sich um diese Entscheidung, die Sonderpädagogen | |
arbeiten dort an beiden Schulformen. An den Regelschulen sind sie aber oft | |
Lückenfüller: Etwa 40 Prozent des Vertretungsunterrichts in Berlin geht | |
zulasten des Förderunterrichts, hat eine Initiative von Eltern und | |
Pädagogen errechnet. | |
Wenn man alle Sonderpädagogen den Regelschulen zuteilt, geht der | |
Schutzraum Förderschule verloren. Aber es wäre konsequent, wenn man | |
Inklusion wirklich will. Konsequent wäre auch, nicht am Budget für die | |
Schulhelfer zu sparen, die es den Lehrern oft erst ermöglichen, Unterricht | |
überhaupt stattfinden zu lassen – weil sie mit dem Kind im Rollstuhl zur | |
Toilette gehen oder sich um den ausrastenden Verhaltensauffälligen kümmern. | |
Alexander aus der 4a in der Förderschule in Berlin-Lichtenberg hat auch | |
eine Schulhelferin, sie ist drei Tage in der Woche mit im Unterricht und | |
sitzt ganz hinten im Klassenzimmer. „Es ist ruhig heute“, sagt sie und | |
macht sich Notizen darüber, was ihr an Alexander auffällt, was sie mit der | |
Klassenlehrerin später noch besprechen will. Es habe ein Dreivierteljahr | |
gedauert, bis Alexander etwas anderes gesagt habe als „Nein!“, sagt die | |
junge Frau, die nicht namentlich genannt werden will. „Das Kind hat eine | |
Bindungsstörung, das braucht Zeit. Das macht man nicht nebenbei.“ | |
## Den einen wegnehmen und den anderen geben | |
Inzwischen braucht Alexander nicht mehr ihre ganze Aufmerksamkeit, wichtig | |
ist die Schulhelferin trotzdem. Die Heilpraktikerin mit Schwerpunkt | |
Psychotherapie assistiert bei den Aufgaben, bei denen die Kinder nicht | |
weiterkommen. Sie ist da, wo die Lehrerin gerade nicht sein kann. Den | |
Kindern hilft das, der Lehrerin auch. Es bringt Ruhe in die Klasse. | |
Gern würde Alexanders Schulhelferin auch im nächsten Jahr mit ihm | |
weiterarbeiten. Aber ihr Vertrag läuft immer nur über ein Jahr. „Was bei | |
der Inklusion zu kurz kommt, ist das Kind“, ist sie inzwischen überzeugt. | |
Sie sagt: „Ich habe das Gefühl, sie scheitert.“ | |
Inklusion ist, wenn man sie zu Ende denkt, unangenehm und schmerzhaft. | |
Weil man einigen etwas wegnehmen muss, um anderen mehr zu geben. | |
Will man eine funktionierende Förderschule wie die in Berlin-Lichtenberg | |
schließen, um eine inklusiv arbeitende Schule besserzustellen? Bloß nicht, | |
sagen die Lichtenberger Lehrer. Und fragen: Was ist gerecht an einem | |
Schulsystem, das in der Theorie eine schöne Idee ist, aber in der Praxis | |
für viele Kinder einfach nicht funktioniert? Die eine Schule, die alle | |
glücklich macht, die gibt es ohnehin nicht. | |
Die Schulleiterinnen auf Rügen sagen: Auf Dauer werden sich beide Systeme | |
nicht halten lassen. Wir brauchen das Personal der Sonderschulen jetzt bei | |
uns, wenn das mit der Inklusion klappen soll. | |
Die Sonderpädagogen haben auf Rügen keine eigenen Klassen mehr. Ihre | |
Stellen wurden den Grundschulen zugeschlagen, sie arbeiten im mobilen | |
Dienst – das heißt, sie pendeln zwischen mehreren Schulen. Die politische | |
Vorgabe lautete: Inklusion darf keine zusätzlichen Stellen kosten. | |
Auf Rügen wurden deshalb alle Lehrer dazu verdonnert, freitags und samstags | |
die Schulbank zu drücken, um sich fortzubilden – zusätzlich zu ihren 27 | |
Wochenstunden. „Inklusion wurde auf dem Rücken der Lehrer gemacht“, | |
schimpft deshalb eine Rügener Lehrerin, die demnächst in Rente geht. | |
Die ersten Jahre seien sehr hart gewesen, das gibt Wolff zu. „Aber jetzt | |
läuft es.“ Schulrat Kossow sagt, dass jetzt sogar Eltern von geistig | |
Behinderten ihre Kinder am liebsten auf die ganz normalen Rügener | |
Grundschulen schicken würden. | |
Am Ende von Justins Mathe-stunde spielt die Klasse wieder ein Rechenspiel. | |
Zwei Mannschaften treten gegeneinander an, zwei Schüler stehen vor der | |
Tafel und wählen abwechselnd die Teams, so wie im Sport. Justin wird als | |
Letzter gewählt. Das tut weh. | |
Zurück an die Förderschule will er trotzdem nicht. | |
22 Jul 2017 | |
## AUTOREN | |
Anna Klöpper | |
Anna Lehmann | |
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