| # taz.de -- Wahlanalyse Nordrhein-Westfalen: Sieben unangenehme Fragen | |
| > Die SPD setzt auf soziale Gerechtigkeit. Rot-Grün stand für Inklusion an | |
| > Schulen, für eine liberale Flüchtlingspolitik. Ist das noch haltbar? | |
| Bild: Die NRW-Landtagswahlen sorgen für Wirbel in der Landeshauptstadt Düssel… | |
| 1. Ist soziale Gerechtigkeit im Wahlkampf ein Loser-Thema? | |
| Kommt drauf an, wie man den Begriff benutzt. Der Begriff der „sozialen | |
| Gerechtigkeit“ ist kein Markenname mehr, mit dem allein sich Politik an die | |
| WählerIn bringen lässt. Dafür ist der Begriff zu schwammig geworden, weil | |
| es neuerdings beim Thema „Gerechtigkeit“ nicht mehr vor allem um soziale | |
| „Sicherung“, sondern auch um „Entlastung“ geht. | |
| Auch die SPD redet über die angeblich zu hohe Abgabenbelastung der | |
| Mittelschicht. Mehr Gerechtigkeit bedeutet danach mehr Entlastung von | |
| Abgaben, Steuern, Gebühren. Aber nicht jeder muss es als gerecht empfinden, | |
| wenn auch Wohlhabende keinerlei Gebühren mehr für Kitas zahlen sollen, ein | |
| Vorschlag, mit dem die SPD in den Wahlkampf zieht. | |
| Wenn man – wie CDU und SPD – darüber spricht, dass ein Angestellter mit | |
| 5.000 Euro brutto im Monat weniger Einkommenssteuer zahlen und nicht mehr | |
| in den Spitzensteuersatz rutschen soll, damit es gerechter zugeht in | |
| Deutschland, ergeben sich auch daraus heikle Anschlussfragen. Wenn am Ende | |
| nur Höchstverdiener mit sehr hohen Steuersätzen herangezogen werden sollen, | |
| führt das zu einer Debatte über die angebliche Gefährdung von | |
| Arbeitsplätzen, denn die Unternehmenssteuern müssten ja auch entsprechend | |
| steigen. | |
| SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz hat „mehr Gerechtigkeit“ in Aussicht | |
| gestellt, ohne den Begriff bislang inhaltlich zu unterfüttern. Das macht | |
| ihn zum potenziellen Loser. Am Thema selbst liegt das nicht. Barbara | |
| Dribbusch | |
| 2. Wünschen auch linke Wähler eine strengere Flüchtlingspolitik? | |
| Nicht unbedingt. Dass es wegen der Flüchtlinge „unsicherer“ werde in | |
| Deutschland, glauben 43 Prozent der CDU-Wähler, aber nur 29 Prozent der | |
| SPD-Wähler, heißt es in einer von der [1][Rosa-Luxemburg-Stiftung | |
| verbreiteten Wahlanalyse]. Wenn es aber um die Frage der Beschränkung des | |
| Zuzugs geht, ist die SPD-Wählerschaft nicht weit von der der Union | |
| entfernt. Zu Zeiten des größten Flüchtlingsandrangs im Herbst 2015 waren | |
| sowohl Unions- als auch SPD-Anhänger zu etwa 60 Prozent der Ansicht, es | |
| müsse eine Beschränkung für den Flüchtlingszuzug geben. | |
| Nach einer noch älteren Studie der Freien Universität Berlin von Anfang | |
| 2015 waren damals nur etwa ein Drittel der CDU-, SPD- oder | |
| Linkspartei-Wähler der Meinung, Deutschland solle alle Schutzsuchenden | |
| aufnehmen. Nur bei den Grünen betrug dieser Anteil zwei Drittel der | |
| Wählerschaft. SPD-WählerInnen und Linksparteianhänger zeigten sich in der | |
| Frage der Aufnahme von Flüchtlingen bisher also kaum großzügiger als die | |
| Union. | |
| Das bedeutet, dass die SPD auf Bundesebene mit dem Thema Flüchtlingspolitik | |
| kaum punkten kann. Rechts ist die Union kaum zu überholen und von links | |
| mehr zu bieten als die Union würde von den WählerInnen vielleicht gar nicht | |
| wertgeschätzt. | |
| In Nordrhein-Westfalen zeigten sich laut infratest dimap im April 2017 58 | |
| Prozent der Wahlberechtigten mit der Arbeit der rot-grünen Regierung zur | |
| Unterbringung und Versorgung der Flüchtlinge zufrieden. Mit der | |
| Kriminalitätsbekämpfung waren hingegen nur 38 Prozent, mit der | |
| Bildungspolitik und Straßensanierung nur 29 beziehungsweise 27 Prozent der | |
| Wahlberechtigten einverstanden. Dies scheinen die größeren Baustellen zu | |
| sein. Barbara Dribbusch | |
| 3. Lehnen auch linke Eltern Inklusion an Schulen ab? | |
| Rot-Grün wollte das gemeinsame Lernen von Kindern mit und ohne Behinderung | |
| landesweit umsetzen. Daher hatte die Düsseldorfer Koalition im Jahr 2013 | |
| einen Rechtsanspruch auf den Besuch einer allgemeinen Schule beschlossen. | |
| 1,2 Milliarden Euro steckte das Land in die Inklusion, über 40 Prozent der | |
| Kinder mit Förderbedarf werden in Regelklassen unterrichtet. | |
| Gleichzeitig brach die Regierung jedoch mit sämtlichen Erfahrungen, wonach | |
| Lehrer und Sonderpädagogen stets zu zweit in einer Klasse unterrichten, in | |
| der zudem maximal ein Fünftel der Schüler besondere Förderung benötigen | |
| sollten. Das wäre zu teuer geworden und es fehlte an Personal. Denn | |
| parallel zur Inklusion blieb die Sonderschulinfrastruktur bestehen. | |
| Fakt ist: Bildung war in Nordrhein-Westfalen das wahlentscheidende Thema, | |
| und am Ende trauten die Wähler der CDU auf diesem Politikfeld mehr zu als | |
| der SPD. | |
| Doch das heißt nicht, dass alle Eltern nun prinzipiell gegen Inklusion | |
| sind. Die große Mehrheit – über 80 Prozent – der Elternvertreter steht dem | |
| gemeinsamen Lernen positiv gegenüber, wie eine Umfrage der FDP vor zwei | |
| Jahren zeigte. Allerdings müssten die Bedingungen stimmen. CDU und FDP | |
| wollen das Tempo aus der Inklusion rausnehmen. | |
| „Schwarz-Gelb wird vor den gleichen Problemen stehen“, prognostiziert | |
| Eva-Maria Thoms vom Verein mittendrin, den Eltern behinderter Kinder vor | |
| gut 10 Jahren ins Leben riefen, „ein kaputtgespartes Bildungssystem, eine | |
| veraltete Pädagogik und eine fehlende Bewusstseinsbildung für Inklusion.“ | |
| Außerdem sei da ja noch der Rechtsanspruch, der sich aus der | |
| UN-Behindertenrechtskonvention ableitet. Diesen stellen auch CDU und FDP | |
| nicht infrage. Anna Lehmann | |
| 4. Ist linke Politik chancenlos, weil es uns einfach zu gut geht? | |
| Die Arbeitslosigkeit ist gesunken, auch in Nordrhein-Westfalen. Die | |
| Konjunktur brummt. Das müssten eigentlich gute Zeiten sein, um sich mehr | |
| mit sozialem Ausgleich zu beschäftigen. Die Erfahrungen früherer | |
| Bundestageswahlen zeigen allerdings, dass die Bürger sich von der Union | |
| mehr wirtschaftliche Sicherheit versprechen, es sei denn, ein SPD-Kandidat | |
| inszeniert sich direkt als „Wirtschaftskanzler“, so wie es Gerhard Schröder | |
| Ende der 90er Jahre tat. | |
| Auch in Nordrhein-Westfalen attestieren die Wahlberechtigten der CDU eine | |
| höhere Kompetenz in Sachen Wirtschaft. Laut vom Umfrageinstitut infratest | |
| dimap einen Monat vor der Wahl erhobenen Zahlen lag die SPD bei den | |
| Politikfeldern soziale Gerechtigkeit (42 zu 21 Prozent ) und | |
| Armutsbekämpfung (38 zu 23 Prozent ) vor der CDU. | |
| Dazu passt, dass die SPD in NRW bei den Arbeitslosen sogar leicht an | |
| Stimmen gewann. In den Politikfeldern Arbeitsplatzschaffung und -sicherung | |
| (35 zu 38 Prozent), Schul- und Bildungspolitik (30 zu 35 Prozent) und | |
| Wirtschaftspolitik (27 zu 44 Prozent) erhielt die oppositionelle CDU | |
| hingegen höhere Kompetenzwerte als die SPD. | |
| Die Union und nicht die SPD mit einer guten Arbeitssituation in Verbindung | |
| zu bringen, ist allerdings nicht unbedingt fair. Schließlich war es die | |
| SPD, die für die Einführung des Mindestlohns kämpfte. Barbara Dribbusch | |
| 5. Hat sich die AfD mit dem Einzug in den nordrhein-westfälischen Landtag | |
| etabliert? | |
| Ja, das hat sie. Zwar bleiben die Rechtspopulisten in NRW deutlich hinter | |
| ihrem Ziel, zweistellig zu werden, aber mit 7,4 Prozent liegen sie klar | |
| über der Fünfprozenthürde und sind damit souverän in den 13. Landtag in | |
| Folge eingezogen. Das bedeutet nicht nur 16 neue Landtagsabgeordnete, | |
| sondern auch zahlreiche neue Mitarbeiterstellen und andere Ressourcen, die | |
| die Struktur der Partei weiter festigen werden. | |
| Der Höhenflug der AfD, der eng mit der sogenannten Flüchtlingskrise | |
| verbunden war, ist derzeit zwar vorbei, ein Teil der Protestwähler hat sich | |
| wieder anders orientiert. Vieles deutet aber darauf hin, dass sich die | |
| Partei bundesweit derzeit bei einer Zustimmung von 6 bis 8 Prozent | |
| stabilisiert. | |
| Das zeigen auch die vergangenen zwei Landtagswahlen im Saarland und in | |
| Schleswig-Holstein, bei denen die Ausgangsbedingungen weit schlechter waren | |
| als in NRW. In Schleswig-Holstein zum Beispiel war die AfD in der Fläche | |
| nicht wirklich präsent, ein Gericht hat dem Spitzenkandidaten bescheinigt, | |
| als Landesvorsitzender nicht ordnungsgemäß im Amt zu sein. Hinzu kam die | |
| Flaute bei dem zentralen Thema der AfD – den Flüchtlingen – und der Streit | |
| in der Bundesspitze. Dennoch holten die Rechtspopulisten 5,9 Prozent. | |
| Man muss deshalb davon ausgehen, dass die Partei – jenseits des Protests – | |
| sich anschickt, dauerhaft eine Lücke im Parteienspektrum zu füllen, die vor | |
| allem durch die Modernisierung der CDU rechts von dieser entstanden ist. | |
| Die Wahl- und Umfrageergebnisse in den vergangenen Jahren zeigen aber, dass | |
| das Potenzial – je nach Erregungskurve in der Bevölkerung – weit größer … | |
| die Hemmschwelle gesunken ist, rechtspopulistisch zu wählen. | |
| Durch einen erneuten Anstieg der Flüchtlingszahlen, einen weiteren | |
| islamistischen Terroranschlag oder ein Ereignis vergleichbar mit der Kölner | |
| Silvesternacht könnten die Wahlergebnisse der AfD wieder in die Höhe | |
| schnellen. Sabine am Orde | |
| 6. Darf man die Sicherheit auf den Straßen der CDU überlassen? | |
| Als SPD-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft nach der Silvesternacht 2015 | |
| trotz aller Angriffe fest zu ihrem SPD-Innenminister Ralf Jäger hielt, sah | |
| der CDU-Mann Armin Laschet seine Stunde gekommen. „Frau Kraft hält Herrn | |
| Jäger für großartig, wir halten ihn für ein Sicherheitsrisiko“, wiederhol… | |
| Laschet, wo er nur konnte. Um sich später als Law-and-Order-Mann zu | |
| präsentieren: mehr Polizei auf den Straßen, mehr Videoüberwachung. Sein | |
| Credo: eine „Null-Toleranz-Politik gegenüber Kriminellen“. | |
| Das kam gut an bei den Menschen. Die Silvester-Massengrapscherei vor dem | |
| Kölner Hauptbahnhof, vor allem von migrantischen Männern an | |
| nichtmigrantischen Frauen, hatte das Land und insbesondere die KölnerInnen | |
| tief verunsichert. Wie kann es sein, dass die Polizei nicht rechtzeitig und | |
| heftig genug eingegriffen hat? Warum waren so wenig Beamte vor Ort? Jedes | |
| Fußballspiel ist doch stärker bewacht. | |
| Ein Silvester später war der Platz vor dem Kölner Bahnhof gesichert wie ein | |
| Besuch des US-Präsidenten – unter anderem auf Geheiß der SPD-geführten | |
| Innenministeriums. Das hat gewirkt: keine massenhaften sexuellen | |
| Übergriffe, auch ansonsten keine nennenswerten Vorfälle. Dafür wurde dem – | |
| von allen Seiten ausgeweiteten – Polizeieinsatz ein neuer Vorwurf gemacht: | |
| Racial Profiling. Migrantisch aussehende Männer wurden kontrolliert und zum | |
| Teil stundenlang festgehalten. Das hätte die CDU nicht besser machen | |
| können. Simone Schmollack | |
| 7. Ist Armin Laschet ein liberalerer Ministerpräsident als Hannelore Kraft? | |
| Als Armin Laschet 2005 in der damaligen schwarz-gelben Koalition in | |
| Düsseldorf der bundesweit erste Gleichstellungs- und Integrationsminister | |
| wurde, jubelten diejenigen, die ein solches Amt schon lange forderten. Und | |
| dann bekam den Posten auch noch ein Mann: endlich real gelebte | |
| Gleichstellungs- und Integrationspolitik. Laschet wurde mit Etiketten | |
| versehen wie „Ausländerversteher“ und „Türken-Armin“. | |
| Diese liberale, menschelnde Seite konnte LGBTI-Menschen allerdings nicht | |
| beschwichtigen. Sie fühlen sich von Laschet nicht vertreten, denn der | |
| kommende Ministerpräsident in Nordrhein-Westfalen ist kein Freund der | |
| Homo-Ehe. Die Wahlverliererin Hannelore Kraft (SPD) hingegen spricht sich | |
| für die rechtliche Gleichstellung von Lesben und Schwulen aus. | |
| Und sonst? Laschet will mehr Kitaplätze, bessere Bildung, weniger | |
| Kinderarmut. Das wollte Kraft auch. Aber das haben sie und ihre SPD nicht | |
| geschafft, findet Laschet. Der Katholik gilt als jemand, der | |
| Ungerechtigkeit nur schwer ertragen kann. Kraft hat versucht, Gerechtigkeit | |
| den Leuten im Gespräch an der Haustür zu vermitteln. Das ist ihr nicht | |
| gelungen, auch nicht mit volksnahen „dat und wat“. Simone Schmollack | |
| 15 May 2017 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Themen/wahlanalysen/WNB_N… | |
| ## TAGS | |
| Lesestück Meinung und Analyse | |
| Landtagswahl Nordrhein-Westfalen | |
| Schwerpunkt AfD | |
| Inklusion | |
| Soziale Gerechtigkeit | |
| Inklusion | |
| Bildungspolitik | |
| Martin Schulz | |
| Landtagswahl Nordrhein-Westfalen | |
| Martin Schulz | |
| Landtagswahl Nordrhein-Westfalen | |
| Landtagswahl Nordrhein-Westfalen | |
| Landtagswahl Nordrhein-Westfalen | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Regelschule vs. Sonderschule: Inklusion tut weh | |
| Auf Rügen sollen alle Kinder gemeinsam lernen. In Berlin gibt es weiterhin | |
| Sonderschulen. Was ist besser für die Kinder? Und wer entscheidet das? | |
| Bildungspolitik der SPD: Schulz' Schule soll Spaß machen | |
| Milliardeninvestionen in Schulen und Kitas: Deutschland soll das weltweit | |
| stärkste Land in der Bildung werden, fordert SPD-Kanzlerkandidat Schulz. | |
| Nach der Wahl in Nordrhein-Westfalen: Schulz' Plan für morgen | |
| Nach der NRW-Wahlniederlage kündigt Martin Schulz einen „Zukunftsplan“ an. | |
| Darin will er den Vorwurf zurückweisen, er habe inhaltlich nichts zu | |
| bieten. | |
| Nach der Wahl in Nordrhein-Westfalen: SPD will nicht groß koalieren | |
| Die SPD will die Bundestagswahl nicht abschreiben. Eine große Koalition | |
| lehnt sie in NRW deshalb ab. Jetzt streiten sich CDU und FDP. | |
| Die SPD nach der NRW-Wahl: In der Gerechtigkeitsfalle | |
| Nach der NRW-Wahl hat die SPD eine Gratwanderung vor sich: Zu wenig | |
| Gerechtigkeit vergrault Stammwähler, zu viel vertreibt Wechselwähler. | |
| Grüne nach der NRW-Wahl: Zumindest mehr als fünf Prozent | |
| Nach den großen Stimmenverlusten im Land steht jetzt auch eine | |
| parteiinterne Debatte über den Wahlkampfkurs im Bund an. | |
| Bundes-SPD nach der NRW-Wahl: Schulz gets the Blues | |
| Für die Bundes-SPD ist das Abschneiden in Nordrheinwestfalen eine | |
| Katastrophe. Kann Martin Schulz schon jetzt einpacken? | |
| Kommentar SPD nach der NRW-Wahl: Hochmut, Fehler, Fall | |
| Nichts ist unmöglich: Viel wird im Bundestagswahlkampf davon abhängen, wie | |
| die Schulz-SPD auf das Ergebnis in NRW reagiert. |