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# taz.de -- Regelschule vs. Sonderschule: Inklusion tut weh
> Auf Rügen sollen alle Kinder gemeinsam lernen. In Berlin gibt es
> weiterhin Sonderschulen. Was ist besser für die Kinder? Und wer
> entscheidet das?
Bild: In Justins Klasse auf Rügen
Alexander, der schmächtige Junge mit blonden Haaren, sieht nicht so aus,
als würde er gleich eine Bastelschere aus der Federmappe nehmen und damit
auf seine Mitschüler losgehen. Vor zwei Jahren war das so. Alexander war
damals in der dritten Klasse einer ganz normalen Grundschule. Die
Bastelschere war seine Waffe gegen Lehrer, die ihn überforderten, und
Mitschüler, die ihn ausgrenzten, weil er der Seltsame war, der Langsame,
der Idiot.
An einem Donnerstagmorgen im Juni sitzt Alexander, der in Wirklichkeit
anders heißt, zwischen seinen Mitschülern und schreibt mit Bleistift in
sein Rechenheft. Er achtet darauf, dass die Zahlen ordentlich
untereinanderstehen und er beim Radieren nicht schmiert. Was ist 11 plus 8?
Was ist 25 geteilt durch 5? Alexander weiß es. „Wir sind weit gekommen“,
sagt seine Lehrerin Pamela Nonn und lässt den Blick über die Bankreihen
wandern. Das Klassenzimmer wirkt ungewöhnlich leer: Alexander hat nur neun
Mitschüler. Die Schule am Fennpfuhl in Berlin-Lichtenberg ist eine
Förderschule für Lernbehinderte, die Klassen sind nicht einmal halb so groß
wie normale Grundschulklassen. Alexander geht heute also auf eine Schule,
die es eigentlich gar nicht mehr geben dürfte: eine Sonderschule.
Seit 2009 gilt in Deutschland die UN-Behindertenrechtskonvention. Das
heißt: Die Regelschulen sind für alle Kinder zuständig und dürfen niemanden
aufgrund seiner Behinderung ausschließen. Traditionell wurden Kinder, die
nicht ins Lernschema passten, in Deutschland in Sonderschulen unterrichtet
– die Blinden an der Sehschwachenschule, die Stotterer an der
Sprachförderschule, die Langsamen an der Lernförderschule. Aber dieses
Sonderschulsystem hat inzwischen einen schlechten Ruf. Nicht nur, weil es
gehandicapte Kinder von den „Normalos“ trennt, sondern auch, weil es ihnen
schlechtere Chancen zuteilt: Mehr als drei Viertel der Kinder an den
Förderschulen für Lernbehinderte erreichten 2014 keinen
Hauptschulabschluss. Kein Abschluss, keine Lehrstelle, kein Job – die Kette
lässt sich leicht ergänzen.
Deshalb soll nun inkludiert werden. Jedes Kind soll die Chance haben, an
einer Regelschule nach seinen Bedürfnissen gefördert zu werden. In Berlin
sind die Politiker stolz auf eine hohe Inklusionsquote: Zwei Drittel der
Grundschüler mit diagnostiziertem Förderbedarf gehen inzwischen an ganz
normale Grundschulen.
Hört man sich aber in Berliner Lehrerzimmern um, ist da vor allem Frust:
darüber, die meiste Zeit allein vor 24 Kindern zu stehen, von denen fünf
verhaltensauffällig sind. Darüber, dass man am Ende keinem Kind gerecht
wird.
Nachdem lange die Sonderschule kritisiert worden ist, wird jetzt vielerorts
die Kritik an der Inklusion immer lauter. In Nordrhein-Westfalen ist
zuletzt die rot-grüne Regierung an dem Plan gescheitert, die inklusive
Schule zur Regel zu machen. Nach vier Jahren klagten selbst diejenigen, die
Inklusion für eine sinnvolle Sache hielten, über zu große Klassen und zu
wenige Sonderpädagogen – SPD und Grüne wurden abgewählt.
Ist Inklusion vor allem eine hübsche Vision? Ein Menschenrecht auf dem
Papier, aber nicht alltagstauglich?
Pamela Nonn, Alexanders Lehrerin in Berlin-Lichtenberg, würde dem
zustimmen. Ihre Schüler waren an den Regelschulen untergegangen, bevor sie
zu ihr kamen. Die meisten konnten nur mithilfe ihrer Finger rechnen. Die
Hälfte der Kinder konnte nicht lesen. „Nach zwei Jahren in der Grundschule,
wohlgemerkt“, sagt Nonn. „Dass wir die Kinder erst in der dritten Klasse
bekommen, bedeutet für die meisten von ihnen zwei verschenkte Jahre.“
Nachdem Nonn das Einmaleins abgefragt hat, klassischer Frontalunterricht,
steht „Wochenplan“ auf dem Programm – in dieser Zeit dürfen die Kinder f…
arbeiten, eine Stunde pro Tag in ihrem eigenen Tempo: Deutsch, Mathe,
Sachkunde. Jeder kann selbst entscheiden, ob er lieber erst mal einen
Aufsatz über die Katze als Haustier schreiben möchte oder am
Jahreszeitenkalender weiterbastelt – Hauptsache, am Freitag sind alle mit
allem fertig.
## Kleine Klassen, kein Kind wird übersehen
Wenn Nonn, die blonden Haare zu einem strengen Pferdeschwanz gebunden, mit
den Kindern redet, tut sie das auf eine sehr klare Art. Eine gehobene
Augenbraue und ein mahnender Satz reichen – „Na komm, nur noch ein
Kapitel!“ – und der zaghafte Protest eines Jungen, der keine Lust hat, sein
Tierbuch zu lesen, fällt in sich zusammen. Die Kinder wollen die
Erwartungen ihrer Lehrerin erfüllen. Die Abwehrhaltung, die Schere in der
Hand von Alexander, ist verschwunden.
Seit acht Jahren setzt sich das Land Berlin für Inklusion ein, aber die
Nachfrage nach Förderschulen ist immer noch groß: Es mangele nicht an
Anmeldungen, lässt die Rektorin aus Lichtenberg wissen. Dabei hat ihre
Schule kein ausgefallenes pädagogisches Konzept, es gibt Noten und
Hausaufgaben. Was die Eltern interessiert, ist etwas anderes: die kleinen
Klassen und eine Sonderpädagogin wie Nonn als Klassenlehrerin – eine
Expertin, die immer da ist und nicht nur ab und zu wie an den Regelschulen.
Die Eltern denken, wenn alle in einem Tempo und auf einem Level lernen,
wird ihr Kind weder überfordert noch übersehen.
Der Anteil der Schüler im Sonderschulsystem ist bundesweit seit 2009
ziemlich konstant. Es gibt immer noch rund 3.000 Sonderschulen – nur etwa
300 weniger als vor acht Jahren. Werden Förderschulen also doch noch als
Auffangbecken gebraucht?
Auf Rügen wird ausprobiert, was passiert, wenn es diese Auffangbecken nicht
gibt. Ab 2010 wurden dort keine Kinder mehr auf Förderschulen für
Lernbehinderte und Verhaltensauffällige eingeschult. Die ganz normalen
Grundschulen sind jetzt für diese Kinder zuständig. Rügen ist ein
Inklusionslabor, das wissenschaftlich überwacht wird.
Silke Wolff leitet die Grundschule bei Gager, im Südosten von Rügen. Als
sie und ihre Kollegen darüber informiert wurden, dass nun alle Kinder
zusammen lernen sollten, habe ihr dieser Schritt eingeleuchtet, sagt sie.
„Wir müssen die Kinder mit Schwierigkeiten dann nicht mehr wegschicken. Das
hat uns gefallen.“
Wolffs Schule ist ein Traum: reetgedeckt und gleich hinterm Deich. 83
Kinder lernen hier. Im Erdgeschoss hat Justin gerade Mathe, er ist einer
von 24 zumeist blonden und braungebrannten Schülern der Klasse 4. Zum
Wachwerden spielen die Kinder zu zweit ein Würfelspiel: Ein Blatt mit
Rechenaufgaben liegt zwischen Justin und Nora. Wer eine Fünf würfelt, darf
eine Aufgabe lösen. Justin kaut auf seinem Stift herum, überlegt: 20 mal 9?
Nora reißt ihm das Blatt weg – sie hat schon wieder eine Fünf. Justin
verdreht die Augen, würfelt, zögert aber den Würfel fallen zu lassen. „20
mal 9“, sagt er und überlegt noch immer. Die meisten Ergebnisse stehen am
Ende in Noras Schrift auf dem Papier.
Justins Mathelehrerin hat drei Ablagen auf dem Parkett vor der Tafel
abgestellt. Drei Schwierigkeitsgrade, drei Kennzeichnungen: Feder, Waage,
harte Nuss. Zuerst darf Justin nach vorn gehen. Er nimmt sich Blätter aus
der Feder-Ablage, die leichten Aufgaben. Danach stehen die Kinder auf, die
sich aus der Waage-Ablage bedienen. Auch Nora ist dabei. Wer darf die
harten Nüsse knacken? Ein Junge erklärt: „Wir rechnen besonders gut und
dürfen jeden Mittwoch in den Kunstraum.“ Gut in Mathe zu sein ist ganz klar
etwas sehr Erstrebenswertes.
12 öffentliche Grundschulen gibt es auf Rügen. Alle arbeiten nach dem
gleichen Konzept: Kinder, die sich zu Förderschülern entwickeln könnten,
werden von Anfang an identifiziert und gezielt unterstützt.
Silke Wolff, die Schulleiterin, übt in der zweiten Stunde mit zwei
Erstklässlern Lesen. „Kann eine Regenkapuze rot sein?“, liest ein Mädchen
flüssig vor. Sie hat Probleme beim Hören und deshalb später Lesen gelernt.
Im Grunde sei die Kleine kein Fall für eine Förderklasse, sagt Wolff. „Was
wir hier machen ist eher präventiv.“
## Justin rechnet 5 mal 5. Nora rechnet 100 mal 10.000
In der großen Pause spielen die Kinder auf dem Schulhof, der nach dem
nächtlichen Regen einer großen Pfütze gleicht. Im Lehrerzimmer hört man sie
nur gedämpft. Silke Wolff hat eine Platte mit Wurst- und Käsebrötchen
aufgetischt. Die Kollegen greifen zu. Einige unterrichten schon seit den
achtziger Jahren hier. Sie sei am Anfang nicht überzeugt gewesen von der
Inklusion, gibt die Kollegin neben Wolff zu. „Wieso sollte plötzlich falsch
sein, was 40 Jahre lang richtig war?“ Dann habe sie sich aber eines
Besseren belehren lassen. „Weil wir die Erfolge sehen.“
Auch die Wissenschaftler an der Uni Rostock, die das Inklusionsprojekt auf
Rügen begleitet und mit strukturell ähnlichen Klassen in Stralsund
verglichen haben, sehen die Erfolge: Die Grundschüler ohne Förderbedarf in
Rügen liegen in ihren Leistungen nicht hinter denen in Stralsund zurück und
die mit Förderbedarf lernen schneller – Inklusion schadet also niemandem.
Die Lehrer auf Rügen ließen sich zum Teil auch deshalb von diesem
Inklusionsmodell überzeugen, weil es der Schule in der DDR ähnelt. Es ist
effizienz- und leistungsorientiert. Sitzenbleiben und Zensuren gibt es
weiterhin ab Klasse 2. Hinzu kommen monatliche Tests ab der vierten
Schulwoche, die Schüler nach einem Ampelsystem bewerten und in
Förderkategorien einteilen: Grün geht klar, wer auf Gelb oder Rot steht,
bekommt extra Aufmerksamkeit. Und dann sind da noch die Weißen, die
besonders Schlauen – auch sie bekommen spezielle Aufgaben. Der Unterricht,
so die Idee, die aus den USA stammt, soll laufend an die Leistungen und
Voraussetzungen jedes Kindes angepasst werden.
Silke Wolff weiß über alle Kinder an ihrer Schule Bescheid, die
Schülerakten mit Testergebnissen und Fördermaßnahmen zieren die Schränke
des Lehrerzimmers. Bei der monatlichen Teambesprechung beugen sich
Schulleiterin, Klassenlehrer und die Sonderpädagogen über die Akten,
tauschen sich über die Lernfortschritte aus und besprechen wie es
weitergeht – so ist das an jeder Rügener Grundschule, egal ob sie 80 oder
280 Schüler hat.
„Der Ansatz ist ein pragmatischer“, sagt Bodo Hartke von der Uni Rostock.
Er hat das Rügener Inklusionsmodell entworfen. „Wir wollten mit diesem
System der Aussonderung aufhören, ohne die Schule vollständig
umzukrempeln.“
Justin rechnet 5 mal 5. Nora rechnet 100 mal 10.000. Die Lehrerin lobt ihn:
„Alles richtig, und so schnell!“ Justin ist erst seit einem Jahr in der
Klasse. Vorher wohnte er mit seiner Mutter und seinem Bruder auf dem
mecklenburgischen Festland. Dort ging er auf eine Förderschule, wo er kaum
Fortschritte machte. „Meister war der im Ausdenken von Krankheiten“, sagt
seine Mutter. Sie musste ihn oft früher abholen. Nicht selten weigerte er
sich aber auch schon morgens, in die Schule zu gehen. Wenn es in den Pausen
Prügeleien gab, war er mittendrin. „Justin war früher so“, sagt seine
Mutter und hebt die geballten Fäuste. Alle in seiner Klasse waren so.
Als Justins Familie nach Rügen zog, gab es keine Förderschule, auf die er
gehen konnte. Die waren auf der Insel ja abgeschafft. Also ging er auf
Silke Wolffs Grundschule, die Klassenlehrerin versprach: Justin würde im
Unterricht mitkommen, er bekommt eigene Aufgaben und wird anders benotet.
Inzwischen kann er lesen. Und er geht wieder gern zur Schule. „Den
Leistungsstand, auf dem er heute ist, den hätte ich mir nicht träumen
lassen“, sagt seine Mutter. Auch Justins Klassenlehrerin findet, er habe
riesige Fortschritte gemacht. Sie sagt aber auch: „Justin fängt jetzt an
sich zu genieren, wenn er die leichteren Aufgaben bekommt.“
An der Sonderschule war Justin Gleicher unter Gleichen. Das Einmaleins
lernte er nicht. In der Regelschule ist er der langsamste Rechner. Aber er
kann jetzt multiplizieren.
Ist es Kindern zuzumuten, von klein auf die Erfahrung zu machen: Ich bin
dümmer? Ist es nicht nachvollziehbar, dass Eltern, die entscheiden sollen,
ob ihr Kind eine behütete Kindheit haben soll oder bessere Chancen in der
Leistungsgesellschaft, sich für Ersteres entscheiden? Förderschulen, wie
die in Berlin-Lichtenberg mit den kleineren Klassen, mit dem langsamen
Lerntempo, sind Schutzräume. Hier dürfen auch nicht so schnelle Kinder mal
die Erfahrung machen: Ich bin der Beste.
„Aber wir leben nun mal in einer Leistungsgesellschaft“, sagt Michael
Kossow. Er ist als Schulrat zuständig für das Rügener Inklusionsmodell. Er
ist durch Turnhallen und Aulen getourt, hat vor Eltern und Lehrern
gesprochen, um sie zu überzeugen. Kossow ist ausgebildeter Sonderpädagoge,
heute findet er falsch, worum es jahrelang hauptsächlich ging: dass es den
Kindern gutgeht. „Wir neigen dazu, Kinder in der Sonderschule zu
unterfordern.“ Oft hätten diese am Ende ihrer Schulzeit das Gefühl, sie
seien doch ganz gute Schüler. „Dieses falsche Selbstbild bricht spätestens
in der Berufsschule. Und das ist dann richtig schmerzhaft.“ Kinder müssten
lernen, ihr Leistungsvermögen von Anfang an richtig einzuschätzen und auch
Misserfolge zu verkraften, sagt er.
## Wer entscheidet, Eltern oder Pädagogen?
Kossows Haltung und das Rügener Inklusionsmodell sind gerade bei
Reformpädagogen umstritten. Standardisierte Tests und Trainings lehnen wir
ab, sagt die stellvertretende Leiterin der Laborschule Bielefeld, an der
schon seit 40 Jahren auch behinderte Kinder aufgenommen werden. Bei der
Inklusion geht es doch darum, anzuerkennen, dass Kinder unterschiedlich
sind und auch so behandelt werden müssen. In der reformpädagogischen Schule
sieht Inklusion deshalb so aus: Eltern-Lehrer-Gespräche statt Zensuren,
selbstgesteckte Lernziele statt Lehrplan, Wettkämpfe sind selbst im Sport
verpönt.
Der totale Gegenentwurf zum Rügener Modell, scheint es. Aber es gibt
durchaus Gemeinsamkeiten: Jedes Kind wird individuell betrachtet – was kann
es, was braucht es? Teams entscheiden, der Lehrer als Einzelkämpfer vor der
Klasse ist passé.
An Alexanders Förderschule in Berlin-Lichtenberg gibt es ein Projekt, das
versucht, verhaltensauffällige Kinder fit für die normale Grundschule zu
machen: die Beiboot-Klasse. Ein Schulhelfer und ein Lehrer kümmern sich um
vier Kinder, die schon in der Kita auffällig wurden. Zwei Jahre lang geht
es im Beiboot dann vor allem darum, die Voraussetzung dafür zu schaffen,
dass Lernen überhaupt stattfinden kann.
Vier Kinder, zwei Pädagogen, zwei Jahre lang – das zeigt auch, wie naiv es
ist zu glauben, Inklusion erledige man als Lehrerin in einer normalen
Grundschulklasse mal so nebenbei. Etwa zwei der vier Kinder schaffen der
Erfahrung der Schulleitung nach den Sprung in die Regelschule.
Auch in Mecklenburg-Vorpommern, dem Bundesland mit der größten
Exklusionsquote – einer von 17 Schülern besucht eine Sonderschule –, gibt
es solche Klassen, Diagnoseförderklassen heißen sie. Die Grundschüler haben
für die erste und zweite Klasse ein Jahr länger Zeit. 2006 aber rückten
Bodo Hartke und sein Team von der Uni Rostock an. Sie prüften die
Diagnoseförderklassen und stellen fest: Sie leisteten nicht, was sie
sollten. Die schwachen Schüler verschlechtern sich sogar, ihr Verhalten
wird auffälliger – trotz kleinerer Klassen und mehr Zeit. Als das Rügener
Modell entworfen wurden, hat man sich deshalb für die Inklusion und gegen
jede Art von Sonderklassen entschieden.
Politiker wie die Berliner Bildungssenatorin Sandra Scheeres von der SPD
betonen stets, dass der Elternwille bei der Inklusion wichtig sei: Eltern
sollen die Wahl haben, zwischen Sonderschule und der normalen Grundschule
von nebenan. Versteckt sich die Politik hinter dem Elternwillen, weil sie
nicht den Mut hat, harte Entscheidungen zu fällen? Sucht sie den Kompromiss
– und macht es am Ende doch niemandem recht?
## „Das Kind hat eine Bindungsstörung, das braucht Zeit“
In Nordrhein-Westfalen wollte die rot-grüne Regierung zweigleisig fahren:
Sie machte die Schulen inklusiv und behielt das System der Sonderschulen
bei. So sollte der Frieden mit der CDU gewahrt werden. Die Eltern sollten
über die Schule ihres Kindes entscheiden. Aber zwei Systeme zu finanzieren,
ist zu teuer. Wenn Inklusion funktionieren soll, müssen die Ressourcen weg
von den Sonderschulen und hin zu den Regelschulen verlagert werden – und
zwar konsequent.
Auch in Berlin drückt man sich um diese Entscheidung, die Sonderpädagogen
arbeiten dort an beiden Schulformen. An den Regelschulen sind sie aber oft
Lückenfüller: Etwa 40 Prozent des Vertretungsunterrichts in Berlin geht
zulasten des Förderunterrichts, hat eine Initiative von Eltern und
Pädagogen errechnet.
Wenn man alle Sonderpädagogen den Regelschulen zuteilt, geht der
Schutzraum Förderschule verloren. Aber es wäre konsequent, wenn man
Inklusion wirklich will. Konsequent wäre auch, nicht am Budget für die
Schulhelfer zu sparen, die es den Lehrern oft erst ermöglichen, Unterricht
überhaupt stattfinden zu lassen – weil sie mit dem Kind im Rollstuhl zur
Toilette gehen oder sich um den ausrastenden Verhaltensauffälligen kümmern.
Alexander aus der 4a in der Förderschule in Berlin-Lichtenberg hat auch
eine Schulhelferin, sie ist drei Tage in der Woche mit im Unterricht und
sitzt ganz hinten im Klassenzimmer. „Es ist ruhig heute“, sagt sie und
macht sich Notizen darüber, was ihr an Alexander auffällt, was sie mit der
Klassenlehrerin später noch besprechen will. Es habe ein Dreivierteljahr
gedauert, bis Alexander etwas anderes gesagt habe als „Nein!“, sagt die
junge Frau, die nicht namentlich genannt werden will. „Das Kind hat eine
Bindungsstörung, das braucht Zeit. Das macht man nicht nebenbei.“
## Den einen wegnehmen und den anderen geben
Inzwischen braucht Alexander nicht mehr ihre ganze Aufmerksamkeit, wichtig
ist die Schulhelferin trotzdem. Die Heilpraktikerin mit Schwerpunkt
Psychotherapie assistiert bei den Aufgaben, bei denen die Kinder nicht
weiterkommen. Sie ist da, wo die Lehrerin gerade nicht sein kann. Den
Kindern hilft das, der Lehrerin auch. Es bringt Ruhe in die Klasse.
Gern würde Alexanders Schulhelferin auch im nächsten Jahr mit ihm
weiterarbeiten. Aber ihr Vertrag läuft immer nur über ein Jahr. „Was bei
der Inklusion zu kurz kommt, ist das Kind“, ist sie inzwischen überzeugt.
Sie sagt: „Ich habe das Gefühl, sie scheitert.“
Inklusion ist, wenn man sie zu Ende denkt, unangenehm und schmerzhaft.
Weil man einigen etwas wegnehmen muss, um anderen mehr zu geben.
Will man eine funktionierende Förderschule wie die in Berlin-Lichtenberg
schließen, um eine inklusiv arbeitende Schule besserzustellen? Bloß nicht,
sagen die Lichtenberger Lehrer. Und fragen: Was ist gerecht an einem
Schulsystem, das in der Theorie eine schöne Idee ist, aber in der Praxis
für viele Kinder einfach nicht funktioniert? Die eine Schule, die alle
glücklich macht, die gibt es ohnehin nicht.
Die Schulleiterinnen auf Rügen sagen: Auf Dauer werden sich beide Systeme
nicht halten lassen. Wir brauchen das Personal der Sonderschulen jetzt bei
uns, wenn das mit der Inklusion klappen soll.
Die Sonderpädagogen haben auf Rügen keine eigenen Klassen mehr. Ihre
Stellen wurden den Grundschulen zugeschlagen, sie arbeiten im mobilen
Dienst – das heißt, sie pendeln zwischen mehreren Schulen. Die politische
Vorgabe lautete: Inklusion darf keine zusätzlichen Stellen kosten.
Auf Rügen wurden deshalb alle Lehrer dazu verdonnert, freitags und samstags
die Schulbank zu drücken, um sich fortzubilden – zusätzlich zu ihren 27
Wochenstunden. „Inklusion wurde auf dem Rücken der Lehrer gemacht“,
schimpft deshalb eine Rügener Lehrerin, die demnächst in Rente geht.
Die ersten Jahre seien sehr hart gewesen, das gibt Wolff zu. „Aber jetzt
läuft es.“ Schulrat Kossow sagt, dass jetzt sogar Eltern von geistig
Behinderten ihre Kinder am liebsten auf die ganz normalen Rügener
Grundschulen schicken würden.
Am Ende von Justins Mathe-stunde spielt die Klasse wieder ein Rechenspiel.
Zwei Mannschaften treten gegeneinander an, zwei Schüler stehen vor der
Tafel und wählen abwechselnd die Teams, so wie im Sport. Justin wird als
Letzter gewählt. Das tut weh.
Zurück an die Förderschule will er trotzdem nicht.
22 Jul 2017
## AUTOREN
Anna Klöpper
Anna Lehmann
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