# taz.de -- Psychologin über Kinder in der Pandemie: „Kein Halt mehr“ | |
> Während Corona gab es deutlich mehr Kindeswohlgefährdungen. Lidija | |
> Baumann vom Kinderschutz-Zentrum Kiel über Gewaltspiralen und | |
> Medienkonsum. | |
Bild: Ein eigenes Smartphone sollten Kinder erst nach der Grundschule haben | |
taz: Frau Baumann, Schleswig-Holstein zählte 2020 fast 30 Prozent mehr | |
Kindeswohlgefährdungen. Hat Sie das überrascht? | |
Lidija Baumann: Diese 30 Prozent schon. Aber dass die Fallzahlen während | |
Corona stiegen, war klar. Familien kamen in [1][prekäre | |
Belastungssituationen]. | |
Welche Aufgabe hat das Kinderschutz-Zentrum Kiel? | |
Wir sind eine Beratungsstelle für alle Fälle von Gewalt und | |
Vernachlässigung von Kindern und Jugendlichen, und zwar in Kiel und den | |
Kreisen Rendsburg-Eckernförde und Plön. Wir kommen mit den Familien in | |
Kontakt, wenn eine Grenze zur Gefährdung überschritten wird. | |
Was tun Sie konkret? | |
Wir machen eine Belastungsdiagnostik, das passiert bei jüngeren Kindern im | |
Spiel. Wir schauen, welche Zeichen zeigt das Kind? In welchen Bereichen | |
fühlt es sich belastet? Und dann ist unsere wichtigste Aufgabe, das Eltern | |
oder Fachkräften zu übersetzen. | |
Empfehlen Sie auch, Kinder aus Familien zu nehmen? | |
Nein. Solche Entscheidungen trifft das Familiengericht auf Antrag des | |
Jugendamtes. Aber wir werden dann als Beratungsstelle angefragt, ob die | |
elterlichen Erziehungskompetenzen für das Kind ausreichen, sodass das Kind | |
prognostisch nicht weiterhin gefährdet wird. Wir sehen hier nur Kinder, die | |
schon gefährdet sind oder etwas erlebt haben, was eben zu einer | |
Traumatisierung oder Entwicklungsgefährdung geführt hat. | |
Haben Sie diesen Fallanstieg in Ihrer Arbeit bemerkt? | |
Ja. Wir sehen Familien, die in eine Gewaltspirale gekommen sind. Wir sehen | |
eine breitere Schicht an Familien, die in Situationen kommen, die für ein | |
Kind einfach nicht gut sind. Corona hat es verstärkt. | |
Wie erklären Sie den Effekt? | |
Die Erwachsenen sind gestresster. Das gilt nicht nur Eltern, sondern auch | |
Fachkräfte in Kitas und Schulen. Sie mussten viel organisieren und mit | |
Irrungen und Wirrungen klarkommen. Dabei verrutscht der Blick. Gestresste | |
Erwachsene nehmen Kinder schneller als störend wahr. Da entwickelt sich ein | |
Teufelskreislauf: Irritierte Kinder, die nicht gleich bei den Erwachsenen | |
Halt finden, damit eher auffällig werden, was wieder die Erwachsenen mehr | |
stresst. | |
Hatten Sie Fälle von Gewalt von Fachkräften? | |
Auch das, aber das ist kein großer statistischer Wert. Wir beraten hier | |
aber Fachkräfte, die hilflos sind, weil sie nicht wissen, wie sie mit | |
auffälligen Kindern in ihrem System umgehen sollen. Wenn eine Lehrkraft ein | |
Kind frühzeitig nach Hause schickt, weil es in der Schule untragbar ist, | |
obwohl sie weiß, dass es dem Kind zu Hause nicht gut geht. Da merken wir: | |
Unsere Systeme kommen an die Grenze. | |
Also die Schule kommt unter Druck und die Eltern auch? | |
Ja. Aber wenn wir wissen, dass es einem Kind zu Hause nicht so gut geht, | |
müssen sekundäre Unterstützungssysteme greifen, wie Kita, Schule oder | |
Sportverein. Damit ein Kind dort positive Erfahrungen macht. Damit das, was | |
in Familien nicht gut läuft, kompensiert wird. | |
Setzte sich der Fall-Anstieg 2021 eigentlich fort? | |
Nach unseren Zahlen ja. Wir hatten sowohl 2020 als auch 2021 einen Anstieg | |
von zehn Prozent. Und ich rechne 2022 ehrlich gesagt auch mit diesem | |
Anstieg, wenn ich mir die Fallzahlen ansehe. | |
Obwohl die Kitas auf sind? | |
Zu Beginn der Pandemie wurden die Kinder einfach vergessen. Schule und Kita | |
sind ein Schutzsystem. Macht man die zu, lässt man Kinder zu Hause mit dem | |
Wissen, dass es manchen Kindern da vielleicht nicht gut geht. Jetzt sehen | |
die Fachkräfte die Kinder wieder und bemerken ihre Auffälligkeiten. Man | |
hatte ihre altersgemäßen Erfahrungsräume verschlossen. Ein Erwachsener | |
zwischen 40 und 42 macht keinen Entwicklungssprung. Aber ein Kind zwischen | |
drei und fünf oder fünf und sieben große. | |
Da fehlte ihnen der Raum? | |
Genau. Wir haben hier auch eine Abteilung Frühe Hilfen für Eltern mit | |
Säuglingen und Kleinkindern. Da sehen wir Zweijährige, die sozial sehr | |
ängstlich sind, weil sie nicht viel Erfahrungsraum mit anderen Menschen | |
oder Kindern hatten. Die kennen andere Menschen nur mit Maske. Kinder sind | |
ja sehr angewiesen auf nonverbale Signale. Und das fehlt ihnen. | |
Ist auch die Mediennutzung der Kinder ein Problem? | |
Es gehört zum Standard hier in der Diagnostik, Kinder erzählen zu lassen, | |
was sie so spielen und angucken. Der Medienkonsum wächst rapide. Viele | |
Eltern wissen sich nicht anders zu helfen, als Medien anzumachen und Kinder | |
an ihren Laptop oder ihr Mobiltelefon zu lassen. | |
Ist es schlimmer als früher? | |
Ja. Heute komme ich zu Hausbesuchen, da sitzen das einjährige und das | |
dreijährige Kind vor einem riesigen Fernseher und sind ganz absorbiert. | |
Noch vor zehn Jahren hätten die Eltern sofort das Gerät ausgemacht und mir | |
berichtet: „Ach, das ist jetzt nur eine Ausnahme.“ Das passiert heute nicht | |
mehr. Die Eltern lassen die Kinder Fernsehgucken oder bieten ihnen noch das | |
Handy an. Da ist die Schamgrenze gefallen. | |
Ist das Kindesgefährdung? | |
Je nachdem. Nimmt man bei den Kindern sprachliche und motorische | |
Entwicklungsdefizite wahr und weiß, sie sitzen viele Stunden vor den | |
Medien, sind wir im Bereich Verwahrlosung. | |
Was tun? | |
Ich sehe das nicht nur als Eltern-Aufgabe. Kinder bekommen heute über | |
WhatsApp ihre Hausaufgaben. Wie sollen Eltern da noch unterscheiden: Ist | |
das jetzt wichtig? Muss mein Kind an den Computer? | |
Ist das die Schattenseite der viel gelobten Digitalisierung? | |
Ja. Wir können die Schraube nicht zurückdrehen, aber Kinder brauchen auch | |
Schutz vor Digitalisierung. Vor zehn Jahren bekamen Kinder mit zwölf ein | |
Handy. Heute haben Zweitklässler ihr Gerät. Ich denke, Kinder sollten erst | |
nach der Grundschule daran geführt werden. Und vielleicht brauchen wir ein | |
Schulfach dafür. | |
Was kann die Politik tun, damit Sie nicht jedes Jahr zehn Prozent mehr | |
Fälle haben? | |
Das frage ich mich auch. Denn wir haben nicht jedes Jahr zehn Prozent mehr | |
Stellen. Und so leicht findet man keine Psychologen, die im Kinderschutz | |
arbeiten möchten. Ich denke, hier müssen sich Menschen aus allen Richtungen | |
Gedanken machen. | |
19 Apr 2022 | |
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## AUTOREN | |
Kaija Kutter | |
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