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# taz.de -- Proteste in Iran: Kontrollverlust des Regimes
> Lange war der Protest von Sportler:innen individuell. Nun verfestigt
> sich der Widerstand, weil die Bevölkerung ihre eigenen Nöte
> wiedererkennt.
Bild: „Wir sind nur Werkzeuge“, sagte die aus Iran geflüchtete Taekwondo…
Als Irans [1][beste Sportkletterin Elnaz Rekabi] beim Finale der
Asienmeisterschaften im Oktober mit freiem Haar antrat, wurde sie binnen
Stunden zu einer Galionsfigur der iranischen Revolutionsbewegung. Von
jubelnden Massen am Flughafen in Teheran empfangen, soll sich die
Sportlerin nach einer mutmaßlich erzwungenen Entschuldigung mittlerweile in
Hausarrest befinden.
Mit Grund nehmen Athlet:innen oft eine besondere Rolle bei
Protestbewegungen ein, von Belarus bis #BlackLivesMatter in den USA. Sie
schaffen live vor den Augen einer Weltöffentlichkeit Bilder, die sich nicht
zensieren lassen. Ihre Plattformen sind riesig, und Volksheld:innen sind
sie ohnehin schon.
Und doch ist es eine ungewöhnliche Bewegung, die sich aktuell unter
Sportler:innen in Iran formiert. „Wir sind nur Werkzeuge“, sagte die aus
Iran geflüchtete [2][Taekwondo-Athletin Kimia Alizadeh] einmal. Aber das
Regime hat die Kontrolle über seine Werkzeuge verloren.
Zurückgetreten vom Nationalteam: Taekwondo-Athletin Mahsa Sadeghi, „aus
Respekt vor den iranischen Frauen“. Zurückgetreten vom Nationalteam:
Fechter Mojtaba Abedin („die Menschen in meinem Land werden verachtet und
verprügelt“). Zurückgetreten vom Nationalteam: Saijad Esteki, der Kapitän
der Handballer. Ebenso zurückgetreten: Fereshteh Sarani, die Kapitänin der
Rugbyspielerinnen.
Es sind nicht nur die pensionierten Ikonen des Männerfußballs – Ali Karimi,
Vahid Hashemian, Ali Daei –, die sich äußern; reihenweise riskieren Aktive
in ungewöhnlicher Radikalität ihre Laufbahn. Soroush Rafiei vom Spitzenklub
FC Persepolis erklärte, sein Team hätte kein Interesse mehr, über Fußball
zu reden oder überhaupt zu spielen. „Wer seid ihr, dass ihr mir sagen
wollt, wie meine Frau sich anziehen soll?“ Das ist ein nie dagewesener Ton.
Man riskiert ihn, wenn man glaubt, dass eine Diktatur ihrem Ende
entgegengeht.
Dutzende Spitzensportler:innen sollen in Iran in Haft sein. Eine
Gruppe iranischer Sportler:innen fordert die Fifa auf, Iran von der
Männer-WM im November in Katar auszuschließen. Auch die Teams sind offenbar
sehr polarisiert, nicht jede:r ist kritisch. Zugleich schildert der
geflüchtete Ex-Ringer Sardar Pashaei: „Viele Leute sehen das Nationalteam
nicht als ihres, sondern als das Team der Islamischen Republik. […] Und
viele Athlet:innen sehen das genauso.“
Diese Entfremdung sagt viel über die gesellschaftliche Stimmung aus. Denn
die Rolle von Sportler:innen in Herrschaftssystemen, ob Kapitalismus
oder Staatsdiktatur, ist ambivalent: Sie sind bei ihrer Laufbahn massiv auf
Gelder und Wohlwollen angewiesen; sie wachsen in staatlichen
Leistungssystemen auf, sie sind auch Trophäen von Staatsführung und
Regierung.
## Globale Helden sind andere
Die Rolle von Athlet:innen hat sich verändert. Durch den zunehmend
globalisierten Sport, durch Social Media und einen stetig wachsenden
Starkult erhalten Einzelne, vor allem in den USA, enorme Reichweiten. Der
Footballer [3][Colin Kaepernick, die Tennisspielerin Naomi Osaka oder die
Fußballerin Megan Rapinoe]: In progressiven Milieus gelten sie als globale
Menschenrechtsikonen gegen Rassismus, sexualisierte Gewalt oder
Polizeigewalt.
Zugleich sind sie Nischenfiguren: Für die große Mehrheit der
Weltöffentlichkeit sind die Helden andere – exemplarisch dafür ist der
Fußballer Ronaldo: hypermännlich, hyperneoliberal, reich und
konsumorientiert, abgeschottet. Einzelne Leuchttürme eines politisierten
Sports können darüber hinwegtäuschen, dass es in dieser konservativen
Parallelgesellschaft mit Systemkritik nicht allzu weit her ist. Die hohe
persönliche Risikobereitschaft der iranischen Athlet:innen fällt im
globalen Kontext auf.
Das hat Gründe. Stärker als anderswo ist Sport in Iran der
Regierungskontrolle unterworfen. Die islamischen Geistlichen haben dabei
ihre Strategien gegenüber Sport oft ändern müssen. Den abenteuerlichen
Balanceakt zeigt ein Statement [4][des Ajatollah Chameini] 2013 gegenüber
dem iranischen Olympiateam: Angesichts der Diskriminierung muslimischer
Frauen im Westen sei es „wirklich wichtig und fantastisch, dass unsere
Frauen mit Hidschab Sport treiben“.
Herrschaftssysteme profitieren davon, dass man es sich im Privaten
gemütlich einrichten kann. Viele Bürger:innen tolerieren erstaunlich
bereitwillig politische Schrecken, solange es sie selbst nicht trifft.
Diese Möglichkeit gab es aber selbst für privilegierte Sportler:innen
kaum. Die Drangsalierung der Körper und die persönliche Unfreiheit waren
mutmaßlich einer der größten Fehler des Regimes. So zieht man Widerstand
heran.
## Der Widerstand bleibt im Land
Der Kanute Saeid Fazloula wurde mit der Todesstrafe bedroht, weil er auf
einer Auswärtsreise den Mailänder Dom fotografiert hatte, ein christliches
Bauwerk. Er floh. Die Schach-Schiedsrichterin Shohreh Bayat wurde bedroht,
weil ihr Kopftuch zu locker gesessen habe. Sie legte das Kopftuch ab und
kehrte nie zurück. Dass Sport politisch ist, muss man solchen mutigen
Athlet:innen nicht erst erzählen.
In den alltäglichen Nöten der Sport-Protagonist:innen erkennt die
Bevölkerung sich selbst. Und schon vor der Kletterin Elnaz Rekabi legten
Sportlerinnen im Wettkampf das Kopftuch ab: die damals erst 19-jährige
Schachspielerin Dorsa Derakhshani, die Schachkollegin Mitra Hejazipour oder
die erste Boxerin seit der Islamischen Revolution, Sadaf Khadem. Alle sind
ins Ausland geflüchtet.
Und das ist vielleicht der größte Unterschied zur Gegenwart: Über Jahre
mussten Einzelne fliehen. Gesellschaftlich bewirkten sie nur isolierte
Kampagnen. Nun aber bleiben viele, nun geht es um alles. Ihr Status schützt
sie ein wenig mehr vor Gefängnis, das macht ihre Stimmen machtvoller. Und
war ein abgelegtes Kopftuch zuvor ein kleiner Akt des Widerstands, fällt es
jetzt wie Zunder ins lodernde gesellschaftliche Feuer.
1 Nov 2022
## LINKS
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## AUTOREN
Alina Schwermer
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