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# taz.de -- Probenbesuch bei Kirill Serebrennikov: Das Knurren der Rentnerinnen
> Kirill Serebrennikov darf Moskau nicht verlassen. Also probt er im
> Gogolcenter in Moskau „Decamerone“ mit dem Deutschen Theater aus Berlin.
Bild: Kirill Serebrennikov mit den Schauspielern Fillip Avdeev und Georgiy Kudr…
Moskau taz | „Ja tebja net“, schreit Aleksandra Revenko. „Sag es auf
Deutsch. Ich brauch das jetzt“, entgegnet Jeremy Mockridge ihr. Aleksandra
Revenko reagiert zunehmend aggressiver: „Ich dich nicht.“ Revenko ist
Schauspielerin am Gogol-Center in Moskau. Jeremy Mockridge spielt am
Deutschen Theater in Berlin. Gemeinsam proben sie im Gogol-Center
„Decamerone“ in der Regie von Kirill Serebrennikov.
„Decamerone“ wird am 8. März am Deutschen Theater in Berlin Premiere haben.
Aber der Regisseur der Inszenierung hat keinen Pass. Seit 2017 läuft in
Russland ein Gerichtsverfahren gegen ihn, zuerst stand er unter Hausarrest,
jetzt kann er wieder in seinem Theater arbeiten, aber er kann nicht aus
Russland raus. Das [1][Deutsche Theater, das die Inszenierung mit ihm schon
vor seiner Festsetzung verabredet hatte], wollte den Premieren-Termin nicht
noch weiter verschieben und hat sich für eine kreativ-pragmatische Lösung
entschieden: Wenn der Regisseur nicht zu den SchauspielerInnen reisen kann,
fliegen sie eben zu ihm.
Da Serebrennikov vier von seinen SchauspielerInnen mit ins Team nimmt,
kommt es zu immer wieder zu zweisprachigen Szenen. Im Juni wird die
Inszenierung auch in Moskau gezeigt.
Zehn Novellen wählte er aus Giovanni Boccaccios „Decamerone“ aus und ordnet
sie den vier Jahreszeiten zu. „ICHDICHNICHT“ spiegelt den Herbst in der
Liebe. Die Rache ist hier groß an jemandem, der eine große Liebe nicht
erwidert. Serebrennikov hält sich nah an Boccaccios Vorlage. Liest man im
Decamerone die 8. Geschichte des 5. Tages, erfährt man von einem sehr
reichen Mann, der unerwidert eine adelige Frau liebt und sie doch zur Frau
bekommt. Er „bekehrt“ sie, indem er ihr das Schicksal einer anderen
vorführt, die nach ihrem Tod in einer unendlichen Wiederholung von einem
Reiter gejagt und von Hunden zerfleischt wird.
## Im Probenraum ist es voll
Bei Serebrennikov werden die Hunde von fünf Moskauer Rentnerinnen gespielt.
Sie sitzen auf Stühlen und knurren. Mittendrin der junge Schauspieler
Marcel Kohler, der über das Mikrofon die Situation markiert: „Störe nicht
den, der nicht gestört werden will.“ Vor ihnen jagt Georgiy Kudrenko mit
langen Stäben die Schauspielerin Yang Ge. Evgeny Kulagin, der Choreograf,
sieht sich vom Bühnenrand aufmerksam bei seiner Choregrafie zu. Kudrenko
hebt Yang Ge mit den Stäben an, hat sie in seiner Gewalt, zwingt sie zu
Boden und stößt zum Finale die Stäbe senkrecht nach unten.
Im Proberaum stehen ziemlich viele Stühle eng nebeneinander, denn es ist
ein ungewöhnlich großes Team. Neben Serebrennikov sitzen sein Choreograf,
Birgit Lengers vom DT, die Dramaturgin, jeweils eine Berliner und eine
Moskauer Regieassistentin, die Kostümbildnerin Tatjana Dolmatovskaja, die
Soufleuse vom DT und die Dolmetscherin, die jede Regieanweisung simultan
übersetzt. Vor der anderen Wand haben die MusikerInnen mit ihren
Instrumenten ihren Platz. Als vor drei Jahren die Planungen für diese
Inszenierung begannen, stand fest, dass Daniel Freitag die Musik dazu
komponiert und dass sie live performt wird.
Für [2][Georgette Dee, Sängerin und Schauspielerin], hat Freitag vier
Gedichte ausgewählt und vertont. An diesem Probentag singt sie das
Herbstlied, eine Vertonung von Rainer Maria Rilkes Gedicht: „Das ist die
Sehnsucht“. Sie spricht den Text mehr, als dass sie ihn singt. Begleitet
vom Cello ist in ihrer Stimme Weisheit und Trauer.
## Persönliche Liebes- und Lebensgeschichten
Die fünf Damen im fortgeschrittenen Alter, die wie Hunde knurren und sonst
auf der Bühne von Almut Zilcher, ein Star vom Deutschen Theater, in
Gymnastik trainiert werden, singen alle in einem Rentnerinnen-Chor und sind
von Serebrennikov persönlich gecastet. Die jüngste ist 68, die älteste 85
Jahre alt. Beim Casting musste jede etwas ganz Persönliches aus ihrem
Liebesleben erzählen, denn genau das steht am Schluss der Inszenierung:
diese fünf wahren Geschichten. In Deutschen Theater werden es fünf Berliner
Liebes- und Lebensgeschichten sein.
Das Gogol-Center in der Nähe des Kursker Bahnhofs ist eigentlich ein
ehemaliges Eisenbahndepot. Anfang der 1930er Jahre wurde es zum Theater
umgebaut. Aus der Zeit stammt die Stuck-Kassettendecke, die man über sich
hat, wenn man die Treppe zur Probebühne hochgeht. Sie leuchtet in einem
dunklen Blau.
Als Serebrennikov im Sommer 2012 das Gogol-Theater als Intendant übernahm,
ließ er er es für ein paar Monate schließen und von der Künstlerin Vera
Martynov umgestalten. So sind die Wände oft bis zu den Backsteinen
freigelegt. Auf dem Weg vom Theatereingang bis zur Treppe laufe ich an
Zitaten der Theateravantgarde vorbei, von Konstantin Stanislawski, Jerzy
Grotowski und Peter Brook. Im Treppenaufgang blickt mich Heiner Müller an.
Dann bin ich bei der Probebühne angekommen und passe gerade noch in die
letzte freie Ecke. Ich bin die einzige eingeladene Journalistin aus Berlin
und erlebe einen ganzen Tag lang konzentrierte und doch entspannte Proben.
Hier ziehen alle an einem Strang.
## Unfreiwillige Unmündigkeit
[3][Serebrennikovs unfreiwillige Unmündigkeit] ist der Kontext, wird aber
von niemandem explizit kommentiert. Erst recht nicht von ihm selbst. Aber
gerade in der Pest, der Ausgangssituation von Boccaccios Novellen, sieht
Serebrennikov eine Extremsituation. Ihn interessiert explizit das
menschliche Verhalten unter solchen Bedingungen. Auch dieser Probenprozess
ist eine Extremsituation beziehungsweise deren Überwindung.
Der Regisseur möchte gerade mit diesem Projekt untersuchen, ob Theater auch
verständlich sein kann, wenn man die jeweilige Sprache nicht versteht. Aus
diesem Grund gibt es zweisprachige Episoden wie „ICHDICHNICHT“. Was die
Proben betrifft, ist Serebrennikov überzeugt, dass Theaterschaffende eine
transnationale gemeinsame Sprache sprechen, mit der sie unabhängig von
Worten und deren Bedeutung kommunizieren können.
Aleksandra Revenko, die schon sein acht Jahren mit ihm zusammenarbeitet,
hat während der Proben die Erfahrung gemacht, dass, wenn die
Selbstverständlichkeit der Kommunikation wegfällt, eine andere Art von
Aufmerksamkeit entsteht. Georgette Dee beobachtet eine ungekannte
Ganzheitlichkeit im Spiel der Gogol-SchauspielerInnen. Almut Zilcher
schätzt, dass dieser Regisseur so genau weiß, was er will.
Der Probenprozess wiederum ist hochprofessionell strukturiert und
gleichzeitig verlangsamt durch die Simultanübersetzung. Den KünstlerInnen
aus Berlin fällt auf, dass es beim Proben weniger Freiräume für
SchauspielerInnen gibt. Hier wird erst das Gerüst gebaut und dann mit
Inhalt gefüllt. Serebrennikov arbeitet eben sehr effizient. Gleichzeitig
ist er überzeugt, dass Theater frei und lebendig sein muss. „Ich hasse
totalitäres Theater“, bricht es aus ihm heraus. „Warum ist Theater immer
noch Handwerk“, fragt er rhetorisch. „Weil sich Theater direkt an den
Menschen wendet – ohne Propaganda. Und das wiederum löst bei vielen
Menschen eine gewisse Art von Wachsamkeit aus, weil sie es gerne anders
hätten.“
11 Feb 2020
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## AUTOREN
Katja Kollmann
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