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# taz.de -- Russischer Regisseur verurteilt: Ich bereue nichts. Ihr tut mir leid
> Nach mehreren Prozessen wurde Kirill Serebrennikov am 26. Juni in Moskau
> schuldig gesprochen. Der Regisseur hat eine Verteidigungsrede verfasst.
Bild: Nach zwanzig Monaten Hausarrest nun zu drei Jahren auf Bewährung verurte…
Am Freitag, 26. Juni, wurde der russische Regisseur Kirill Serebrennikov,
der in Moskau das populäre Gogol-Zentrum leitet, [1][zu drei Jahren auf
Bewährung verurteilt] . Ob dabei seine zwanzig Monate Hausarrest
angerechnet werden, ist noch nicht entschieden. Der Prozess wurde in Moskau
und international von Protesten begleitet. Die Rede, die Kirill
Serebrennikov am Montag, 22. Juni, zu seiner Verteidigung vor dem Gericht
in Moskau gehalten hat, wurde uns vom Deutschen Theater in Berlin
weitergeleitet. Dort hatte im März, kurz vor dem Shutdown, seine
[2][großartige Inszenierung „Decamerone“] Premiere.
Die ersten Lettern jedes Absatzes ergeben im russischen Original folgende
Aussage: ICH BEREUE NICHTS. IHR TUT MIR LEID. Die Übersetzung aus dem
Englischen besorgte Birgit Lengers, Dramaturgin am Deutschen Theater in
Berlin. Wie dokumentieren sie in einer gekürzten Fassung.
„Wahrscheinlich ist es notwendig zu sagen, warum „Platforma“ ein wichtiges
und relevantes Projekt nicht nur in der russischen zeitgenössischen Kunst
wurde, sondern auch im Leben der Menschen, die es schufen, realisierten und
daran teilnahmen.
Die Idee von „Platforma“ ist die Idee der Freiheit der künstlerischen
Äußerung, die Idee der Vielfalt der Lebensformen, die Bekräftigung der
Komplexität der Welt, ihrer Vielfalt, ihrer Jugend und des Charmes, den
diese Vielfalt hervorruft. Es geht um die Hoffnung auf Veränderung.
Woran dachte ich, als ich dem neuen Präsidenten Russlands, der einen
Schwerpunkt auf „Modernisierung“ und „Innovation“ ankündigte, die Idee
dieses komplexen Multi-Genre-Projekts vorschlug?
Verdammt! Ich dachte, dass vielleicht zumindest jetzt eine große Anzahl
aufgeweckter, talentierter, eigensinniger junger Menschen, die ich
persönlich kenne und die in den traditionellen in der Sowjetunion
gegründeten Institutionen keinen Platz für sich finden können, dass also
vielleicht diese jungen Menschen, die immer öfter in Europa Arbeit und
Stipendien erhalten, hier Anerkennung und Erfolg finden und vielleicht
mithilfe staatlicher Unterstützung endlich die Chance bekommen, sich in
ihrem Heimatland zu verwirklichen statt gedemütigt in das Getto eines
unnötigen „Experiments“ eingeschlossen zu werden. Das habe ich mir
gedacht.
Haben sich die drei Jahre, in denen „Platforma“ bestand, gelohnt, wenn
ihnen drei Jahre Verhaftungen, falsche Anklagen und juristische
Auseinandersetzungen folgten? Das ist die Frage, die ich mir immer öfter
stelle.
## Die Kosten der Experimente
Sind die 340 Veranstaltungen, die wir in drei Jahren durchgeführt haben,
eine Menge? Die meisten von ihnen waren originell, einzigartig, komplex und
involvierten viele darstellende Künstler, Musiker, Regisseure, Tänzer und
Komponisten. Das ist eine Menge. Wirklich sehr viel. Jede Person mit
minimalen Kenntnissen in Theater, Musik, modernen Medien und
zeitgenössischem Tanz wird Ihnen das sagen. Diese Menschen, Spezialisten
und Experten, waren bereits vor Gericht und haben über sich selbst, ihre
Arbeit, darüber, was sie von 2011 bis 2014 im Weißen Saal von „Vinzavod“
erlebt haben, Zeugnis abgelegt. Die Behauptungen des Kulturministeriums und
der Staatsanwaltschaft, wir hätten mit dem uns gewährten staatlichen
Zuschuss etwas falsch gemacht, sind lächerlich.
Zweifellos verstehen wir jetzt klar und deutlich das Prinzip, das der
ehemalige Kulturminister, der Alexander Awdejew ablöste, der seinerseits
„Platforma“ ins Leben gerufen hatte, formuliert hat: Das Prinzip, nach dem
dieser Minister, der jetzt Ex-Minister ist, beschloss, mit der
zeitgenössischen Kunst zu verfahren: „Alle Experimente sind auf eigene
Kosten durchzuführen.“ Das sagte er in vielen seiner öffentlichen Reden.
Und nun ist klar, dass er von „Platforma“ sprach. Und diese „Kosten“
implizieren die drei Jahre der Verhaftungen, Anklagen, Verleumdungen und
absurden Anschuldigungen und Prozesse.
Es gibt verschiedene Mutmaßungen, warum „der Theaterfall“ auftrat, von den
absurdesten bis hin zu komplexen und verschwörerischen. Eines Tages wird
alles klar werden, die Archive des Geheimdienstes werden geöffnet werden,
und wir werden verstehen, wer die Befehle gegeben hat, wer diesen Fall
erfunden hat, wer ihn inszeniert und wer uns verraten hat.
## Eine toxische Institution
Jetzt ist es unwichtig, wichtig ist, dass wir „Platforma“ mit all seiner
Komplexität, dem freien Übergang der Genres, seinem ungewöhnlichen,
strahlenden und besonderen Charakter gemacht haben, und es erwies sich als
dem System der Bürokratie und der Kultur der Loyalität fremd. Jetzt ist
klar, dass das „geschädigte“ Ministerium eine toxische Institution ist, die
einen in jeder Situation verraten und hereinlegen wird.
Tut es mir leid, dass ich die „Platforma“ genauso gemacht habe, wie sie
war, einen Ort völliger künstlerischer Freiheit, einen Ort, an dem viele
kreative Menschen sich selbst verwirklichen konnten? Nein. Tut es mir leid,
dass die Buchhaltung der „Platforma“, die Gegenstand eines
Gerichtsverfahrens und einer Untersuchung ist, auf so schreckliche Weise
organisiert wurde?
Natürlich tut es mir leid. Aber leider konnte ich sie dann nicht in
irgendeiner Weise beeinflussen oder verändern, denn ich verstehe nichts von
Buchhaltung. Ich war damit beschäftigt, verschiedene Veranstaltungen
vorzubereiten und zu lancieren. Ich habe mich nicht mit finanziellen Fragen
beschäftigt. Es ist absolut offensichtlich, dass „Platforma“ nicht nur die
Buchhaltungsabteilung ist, sondern vor allem das, was in „Vinzavod“ gemacht
wurde, die 340 Veranstaltungen, Tausende von Zuschauern, die von uns
geschult wurden, Dutzende von jungen Profis, die bei unserem Projekt ihren
Erfolg hatten und ihre Fähigkeiten weiterentwickelt haben. Ich bin empört
über die Versuche, die Bedeutung von „Platforma“ zu leugnen, ich bin empö…
über falsche Behauptungen, dass wir etwas nicht oder mit dem falschen Geld
getan haben. Die Staatsanwaltschaft lügt, sie schützt ihre eigenen Jobs und
diejenigen, die diesen Fall begonnen haben.
Die Leute, die mit uns bei „Platforma“ zusammengearbeitet haben, sind vor
Gericht gekommen und haben zu unseren Gunsten ausgesagt, sogar die Zeugen
der Staatsanwaltschaft haben dies getan. Der „Theaterfall“ hat keine
Beweise, keinen einzigen Beweis für mein unehrliches Verhalten, für mein
illegales Verhalten oder für meinen Versuch, mit dem für das Projekt
bewilligten Geld reich zu werden.
Es besteht kein Zweifel daran, dass das künstlerische Leben der
„Platforma“, für das ich verantwortlich war, das Ergebnis der gemeinsamen
Anstrengung ehrlicher, kluger und talentierter Menschen einer Generation
war, der wunderbaren Menschen, für die ich es geschaffen habe. Und ich bin
sicher, dass sie stolz auf die 340 Veranstaltungen sind, die in der
„Platforma“ organisiert wurden.
## Unter Druck gelogen
Die bittere Ironie unserer Situation ist, dass sich die Anklage auf die
Aussagen der Buchhalter und ihrer Bekannten stützt, die das Geld der
„Platforma“ in Bargeld umgewandelt haben. Die Untersuchungs-beamten
setzten sie unter Druck, und sie hatten Angst um sich selbst, sodass sie
falsch gegen uns aussagten. Sie haben Lügen erzählt. Auf der Grundlage
ihrer Lügen erfanden der Untersuchungsbeamte Lawrow und sein Team den
„Theaterfall“. Die Leute, die das Geld kassiert haben, sind die besten
Freunde der Untersuchungsbeamten. Traurig, aber wahr, das ist das
Paradoxon.
Der Unterschied der „zeitgenössischen Kunst“ zu einer staatlichen Doktrin
oder Propaganda besteht darin, dass sie auf das zeitgenössische Leben in
einer scharfen, kritischen und widersprüchlichen Weise reagiert, sie
reagiert mit den Mitteln der zeitgenössischen Medien, der ehrlichen und
unmissverständlichen Diskussion, mit den Mitteln der freien Reflexion, mit
den Mitteln der Kunst. Dennoch erhalten wir als Reaktion auf unsere Arbeit
Anklagen, Prozesse und Verhaftungen. In diesem Sinne veranschaulichen
sowohl das Projekt „Platforma“ als auch die drei Jahre Gerichtsverfahren
gegen die Personen, die es gemacht haben, auf sehr präzise Weise, was mit
uns allen geschieht, und in diesem Sinne ist das Projekt natürlich immer
noch lebendig, es behält die aktuelle Zeit im Auge und legt dar, wie die
Dinge wirklich sind.
Ich werde das Gefühl der Ungerechtigkeit in der Zeit, in der der
„Theaterfall“ andauert, nicht los, es schien mir, dass wir alle zusammen
und ich im Besonderen durch die Schaffung des Projekts „Platforma“ etwas
Wahres und Wichtiges für unser Land geschaffen haben, es wurde zu einer der
Brücken zwischen Russland und der Welt, es war ein Instrument zur
Beteiligung der russischen Kultur an zeitgenössischen Prozessen, die sich
in der Weltkunst abspielen. Das ist der Grund, weshalb es geschaffen wurde,
nicht um Geld zu verdienen. Diejenigen, die diesen Fall erfunden haben und
uns abscheuliche Dinge vorwerfen, sorgen dafür, dass Russland heute zu
einem Ort geworden ist, an dem es möglich ist, Menschen drei Jahre lang zu
schikanieren und sie zu beschuldigen, ohne einen Beweis zu haben.
## Die Rechtfertigungen schwacher Menschen
Schwache Menschen haben wunderbare Rechtfertigungen für ihre eigene
Schwäche, die sie in Russland auswendig gelernt haben: „Uns wurde gesagt,
dass wir das tun sollen“ – „Wir haben es nicht selbst entschieden“ – …
verstehen, wie es ist! Es ist die „Banalität des Bösen“. Das
„Platforma“-Projekt lehrte alle, sowohl die Zuschauer als auch die
Teilnehmer, sich gegen diese erlernte Hilflosigkeit zu wehren,
Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen, zu handeln und zu
gestalten. In diesem Sinne trage ich die volle Verantwortung für das
künstlerische Programm von „Platforma“, für all die „Experimente“, die
meine Begleiter und ich bei diesem Prozess zu verantworten haben.
Die Jugend entscheidet sich immer für die Freiheit und nicht für einen
„Stall“ oder eine „Herde“. In diesem Sinne gab „Platforma“ Künstle…
Zuschauern die Hoffnung, dass die Idee der Freiheit eines Tages zur
Grundlage unseres Seins werden würde. Ich bin sicher, dass dies eine der
Lehren von „Platforma“ ist, die für diejenigen wertvoll ist, die ihr Leben
ändern wollen, und dies ist der Grund für die aggressiven und heftigen
Angriffe derjenigen, die mit dem heutigen Stand der Dinge zufrieden sind.
Es tut mir sehr leid, dass „Platforma“ zu einem fatalen Moment im Leben
meiner Begleiter in diesem Gerichtsverfahren geworden ist. Ich bedaure
nicht, dass ich Jahre meines Lebens der Entwicklung der Kunst in Russland
gewidmet habe, obwohl sie mit Schwierigkeiten, Strafverfolgungen und
Verleumdungen verbunden sind. Ich habe niemals irgendeinem Lebewesen
Schaden zugefügt, ich habe niemals unehrliche Handlungen begangen. Ich habe
viele Jahre in Moskau, in Russland, gearbeitet, ich habe viele
Theaterstücke produziert, ich habe mehrere Filme gedreht, ich habe
versucht, den Menschen in meinem Land von Nutzen zu sein.
Ich bin stolz auf jeden Tag, den ich meiner Arbeit in Russland gewidmet
habe. Einschließlich der Tage, an denen ich das Projekt „Platforma“ gemacht
habe.“
28 Jun 2020
## LINKS
[1] /Verurteilung-von-Kirill-Serebrennikow/!5692763
[2] /Kirill-Serebrennikovs-Stueck-fuer-Berlin/!5667194
## AUTOREN
Kirill Serebrennikov
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