| # taz.de -- „Legende“ am Thalia Theater in Hamburg: Es stürmt und es polte… | |
| > Der exilierte Theatermann Kirill Serebrennikov nimmt sich in Hamburg das | |
| > Leben eines anderen Gegängelten vor, des Filmemachers Sergey Paradjanov. | |
| Bild: Gewalt, Kunst und Freiheit: Falk Rockstroh, die Irgendwie-Hauptfigur Para… | |
| Hamburg taz | Falk Rockstroh stemmt sich gegen den Sturm. Aus den | |
| Windmaschinen bläst es, dass die Kunstschneeflocken nur so über die | |
| Theaterbühne wirbeln. Rockstroh spielt den vom Narren hartnäckig | |
| verfolgten, an sich und der Welt verzweifelnden König Lear – allerdings | |
| steht nicht [1][Shakespeares] gleichnamiges Stück auf dem Programm, sondern | |
| Kirill Serebrennikovs jüngstes, deutscher Titel: „Legende“. | |
| Der russische Autor und Regisseur im Exil produziert damit sein viertes und | |
| voraussichtlich letztes Stück als Artist in Residence in Hamburg. Bis zum | |
| Jahr 2021 Leiter des Gogol Center in Moskau, musste er das Land aus | |
| politischen Gründen verlassen. | |
| In Deutschland inszenierte er bereits an der Hamburgischen Staatsoper, am | |
| Deutschen Theater Berlin und, wie nun auch „Legende“, am Thalia-Theater. | |
| Die Koproduktion mit der [2][Ruhrtriennale] ist eine Hommage an den | |
| sowjetischen [3][Filmregisseur Sergey Paradjanov (1924–1990)] – aber alles | |
| andere als eine konventionelle Biografie. | |
| Vielmehr erzählt Serebrennikov von fiktiven Königen, Dichtern und | |
| Künstlern; von Menschen also, deren Leben auf der Bühne überhöht wird, | |
| kurz: die zu Legenden werden. Immer bezieht sich das auf Paradjanov, der | |
| für seinen poetisch-surrealen Stil in der Sowjetunion bekannt war, aber | |
| auch Repression ausgesetzt. | |
| Der Sohn armenischer Eltern, geboren in Georgien, wurde verfolgt, er durfte | |
| nicht arbeiten und wurde ins Gefängnis gesteckt. Der Westen hat ihn kaum | |
| beachtet, der Dissident ist hier bis heute ausschließlich Eingeweihten ein | |
| Begriff. | |
| Neben Lear lässt Serebrennikov auf schwarzhumorige Weise auch [4][Goethes | |
| Werther] auftreten: Der Urvater aller Herzschmerzjünglinge, jedes Mal immer | |
| von einem anderen Schauspieler dargestellt, kommt wiederholt auf die Bühne | |
| und erschießt sich ein-, zwei-, dreimal, wieder und immer wieder. Mal | |
| feuert ihn der Chor dabei an, manchmal ist er ganz auf sich allein | |
| gestellt. Jedes Mal spritzt Blut in Gestalt roter Blütenblätter in den | |
| Raum. | |
| In einer ähnlich makabren Reprise einer Legende, der vom Wunschbaum, wird | |
| ein junger Sänger (Campbell Caspary) von der Menschenmeute erst entkleidet, | |
| dann gehäutet, während er hoffnungsvoll [5][Leonard Cohens] „Halleluja“ | |
| anstimmt. Seine Kleider und seine Haut dienen der Masse dazu, sie an den | |
| Wunschbaum zu hängen. Denn wer einen Stoff- oder Hautfetzen in seinen | |
| Zweigen befestigt, dessen Wünsche werden erhört, so heißt es. | |
| Ohne Vorwissen erschließt sich nicht, wie die in Szene gesetzten Legenden | |
| zusammengehören und in welcher Verbindung sie wiederum mit Paradjanov | |
| stehen. Sie reihen sich eher lose aneinander, Serebrennikov arrangiert ein | |
| Kaleidoskop aus Gewalt, Kunst und Freiheit. Darin scheint dann manchmal | |
| sehr konkret das Leben Paradjanovs auf. | |
| So muss er auf offener Bühne ein erpresstes Schuldgeständnis | |
| unterschreiben: „Homosexualität, Perversion, Gewalt“, das sind demnach | |
| seine Vergehen; dafür wurde Paradjanov 1974 in Kiew zu Lagerhaft | |
| verurteilt. Dieselben Vorwürfe nimmt nun Nikita Kukushkin als | |
| Bühnen-Paradjanov resigniert auf sich. Und ganz ähnliche Bezichtigungen | |
| haben auch Regisseur Serebrennikov selbst aus dem längst nicht mehr | |
| sowjetischen Russland fliehen lassen. | |
| Das Stück überzeugt durch Bildgewalt und den passgenauen Einsatz von Musik | |
| (Daniil Orlov). In beeindruckender Geschwindigkeit fallen auf der Bühne | |
| Mauern, weichen Häuser Gräben. Ein riesiger Kopf mit einem zur Fratze | |
| verzerrten Gesicht schwebt von der Decke herab. Dann wieder stürmt es und | |
| poltert und jedes noch so kleine Detail wird genutzt. Die Kostüme, | |
| ebenfalls von Serebrennikov verantwortet, sind bunt, aufbauschend und | |
| überdreht im besten Sinne. | |
| Musikalisch ist von Giuseppe Verdi bis zum erwähnten Leonard Cohen allerlei | |
| dabei. Karin Neuhäusers „Guten Abend, gute Nacht“ bleibt im Kopf, wie zur | |
| Verstärkung der düsteren Stimmung geht ihr rauer Gesang zunehmend im Lärm | |
| auf der Bühne unter. | |
| Die Mehrheit des Ensembles besteht aus russischen Gästen, die an diesem | |
| Abend nicht nur ihr schauspielerisches Können unter Beweis stellen, sondern | |
| auch akrobatisches, tänzerisches, musikalisches. Wer unter den vielen die | |
| eine, die titelgebende Legende sein soll, bleibt offen. Ist es Paradjanov, | |
| ist es Serebrennikov – oder sind es alle, die da auf der Bühne die Kunst | |
| und die Freiheit feiern? | |
| 3 Jan 2025 | |
| ## LINKS | |
| [1] /William-Shakespeare/!t5247105 | |
| [2] /Ruhrtriennale/!t5032749 | |
| [3] /!s=Paradjanov/ | |
| [4] /Theater-um-Werthers-Leiden/!6043945 | |
| [5] /Leonard-Cohen/!t5352661 | |
| ## AUTOREN | |
| Frida Schubert | |
| ## TAGS | |
| Theater | |
| Hamburg | |
| Russland | |
| Exil | |
| Repression | |
| Russland | |
| Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
| Thalia-Theater | |
| Kirill Serebrennikov | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Kirill Serebrennikov in Salzburg: Der Schlitten fährt sich fest | |
| Kirill Serebrennikov überzeugt bei den Salzburger Festspielen mit „Der | |
| Schneesturm“ nach Vladimir Sorokin. Das Stück versöhnt mit einem | |
| durchwachsenen Jahrgang. | |
| „Gogol-Center“ in Moskau: „Das ist ordinärer Mord“ | |
| Auf behördliche Weisung wird das kritische Theater „Gogol-Center“ in Moskau | |
| umbenannt. Ein neuer Intendant soll es auf Kreml-Kurs bringen. | |
| Kirill Serebrennikov am Hamburger Thalia-Theater: Der Regisseur der Freiheit | |
| Kirill Serebrennikov darf am Thalia-Theater persönlich inszenieren. In | |
| Russland war er Schikanen ausgesetzt – auch wegen seines Schwulseins. | |
| Russischer Regisseur verurteilt: Ich bereue nichts. Ihr tut mir leid | |
| Nach mehreren Prozessen wurde Kirill Serebrennikov am 26. Juni in Moskau | |
| schuldig gesprochen. Der Regisseur hat eine Verteidigungsrede verfasst. |