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# taz.de -- Hänsel und Gretel aus Kigali – mit Lücke
> Der russische Regisseur Kirill Serebrennikow sitzt in Moskau im
> Hausarrest. Seine Inszenierung der Oper „Hänsel und Gretel“ kommt am
> Sonntag in Stuttgart deshalb mit demonstrativen Leerstellen auf die Bühne
Bild: Filmstill aus „Hänsel und Gretel“. Serebrennikow hatte für die Stut…
Von Benno Stieber
Ein Junge, ein Mädchen, Armut in Ruanda. Auf geheimnisvollem Weg kommen die
Kinder nach Europa, lernen den westlichen Überfluss kennen, doch der ist
das Werk einer Hexe. Der russische Regisseur Kirill Serebrennikow wollte
mit dieser Geschichten einen ganz neuen Blick auf den deutschen
Opernklassiker „Hänsel und Gretel“ von Engelbert Humperdinck werfen, der
seit Generationen das erste Opernerlebnis von Kindern ist.
Die Stuttgarter Oper hat Serebrennikow dafür aufwendige Dreharbeiten – halb
dokumentarisch, halb fiktional – in Ruanda ermöglicht. Seine Version der
Oper hätte ein Musikdrama über das Wohlstandsgefälle in der Welt, über
Afrika und unser Verhältnis zu diesem Kontinent werden sollen. Und sollte
zugleich der Versuch sein, „das Musiktheater zu erneuern“, wie Intendant
Jossi Wieler ungewohnt vollmundig angekündigt hatte. Aber kurz vor der
Premiere in Stuttgart am Sonntag redet keiner über das ungewöhnliche
Regiekonzept, den charismatischen Hänsel und die eindringliche Gretel aus
Kigali, oder welche Fragen Kirill Serebrennikow mit seiner Regiearbeit
aufwerfen möchte. Das Thema, was die Premiere in Stuttgart beherrscht, ist
die Kunstfreiheit in Russland.
Am 22. August wurde Kirill Serebrennikow mitten aus Dreharbeiten in Sankt
Petersburg gerissen und verhaftet. Angeblich soll er staatliche Gelder
unterschlagen haben. Seitdem darf er seine Moskauer Wohnung nur zwei
Stunden am Tag verlassen, hat keinen Zugang zu Telefon und Internet.
Kontakte zur Außenwelt müssen genehmigt werden und sind nur über seinen
Anwalt möglich. Der Hausarrest wurde jetzt bis Mitte Januar verlängert.
Damit sind in Stuttgart letzte Hoffnungen verflogen, dass Serebrennikow am
Wochenende bei der Premiere seiner Oper zumindest anwesend sein kann.
„Eigentlich wollten wir über Afrika reden, jetzt reden wir über die
Zustände in Russland“, sagt Dramaturgin Anne-Christin Mecke kurz vor der
Premiere etwas frustriert. „Free Kirill“ steht auf ihrem T-Shirt, es
zeigt das bärtige Konterfei des russischen Regisseurs. Noch im Frühjahr war
sie mit Serebrennikow bei Dreharbeiten in Ruanda, hat für die Produktion in
Stuttgart eng mit ihm zusammengearbeitet. Doch jetzt fehlt er. Aber Mecke,
Intendant Jossi Wieler und Chefdramaturg Sergio Morabito, haben sich dafür
entschieden, aus dem Film und den Entwürfen von Serebrennikow eine
Inszenierung zu machen, die sein Fehlen nicht verdeckt, sondern offenlegen
soll. Die Inszenierung verzichtet jetzt auf Kostüme und Bühnenbild, die der
russische Regisseur für diesen Abend ursprünglich vorgesehen hatte.
Die Lücke soll deutlich sichtbar sein, die das rigorose Vorgehen des
russischen Staats hinterlassen hat. „Es wird versucht, alles, was
Serebrennikow ausmacht, auszulöschen. Das ist tiefes Unrecht“, sagt Wieler.
„Es muss an diesem Abend um Politik gehen, nicht um die Art, wie wir auf
der Bühne damit umgehen.“
Für Wieler wie die politischen Beobachter in Moskau ist offensichtlich,
dass es in dem Verfahren gegen Kirill Serebrennikow nicht um angeblich
verschobene Millionen aus dem Kulturetat geht, sondern darum, Kunst, die
nicht in das Bild der staatlichen Selbstinszenierung passt, Grenzen
aufzuzeigen. Wer eignet sich für ein solches staatliches Exempel besser als
Serebrennikow, einer der derzeit wohl profiliertesten russischen
Regisseure. Seine Inszenierungen für Bühne und Leinwand genießen
international große Anerkennung. Seine Filme, die sich mit christlichem
Fundamentalismus und anderen gesellschaftlichen Grenzbereichen
beschäftigen, wurden in Cannes und auf anderen internationalen Festivals
gezeigt und ausgezeichnet. Das Moskauer Gogol Center, Zentrum für Theater,
Musik und Performance, dessen Chef Serebrennikow seit 2012 ist, wurde unter
seiner Führung zu einem Ort der Identifikation für eine unabhängig
denkende, junge Generation, die schon bei der letzten Wahl gegen Putin auf
die Straße gegangen war.
Ohne staatliche Unterstützung kann man in Russland weder Theater machen,
noch Filme finanzieren. Serebrennikow hatte mächtige Freunde im Kreml,
wofür er in Kunstkreisen auch Kritik einstecken musste. Diese Unterstützung
hat Serebrennikow offensichtlich vor der Präsidentschaftswahl im
kommenden Jahr verloren. Sein Filmprojekt über das Leben Peter
Tschaikowskis, das auch dessen Homosexualität nicht aussparen sollte, fand
keine Finanzierung und wurde vom russischen Kultusminister öffentlich
getadelt. Die Premiere seines Balletts über den Tänzer Rudolf Nurejew, der
1961 in den Westen floh und 1993 an Aids starb, das im Moskauer
Bolschoi-Theater uraufgeführt werden sollte, wurde nach der Generalprobe
abgesagt. Ob es zur nun angekündigten Premiere im Mai 2018 kommt, ist
offen.
Die Festnahme Serebrennikows vor der Präsidentenwahl 2018 fällt in Russland
in ein allgemeines Klima des kulturellen Rollbacks. Seit Monaten versuchen
religiös-nationalistische Kreise mit Protesten, Klagen und Brandanschlägen
die Premiere des Films „Matilda“ des Regisseurs Alexej Utschitel zu
verhindern, der die Liebesbeziehung des letzten russischen Zaren Nikolaus
in den Mittelpunkt stellt. Besonders die orthodoxe Kirche macht Front gegen
die Darstellung des letzten Romanows auf dem Zarenthron, der im Jahr 2000
heilig gesprochen worden ist. „Alles was Legenden in einem anderen Licht
zeigt, sieht man in Russland im Moment nicht gern“, sagt Jossi Wieler der
taz. „Man möchte das freie Denken kappen.“
Während sich internationale Künstler mit einem Brief an die Bundeskanzlerin
für Serebrennikow einsetzen, geht es Jossi Wieler darum, die Aufmerksamkeit
für Serebrennikow über den Premierentag hinaus aufrechtzuerhalten. Deshalb
hält das Haus dem inhaftierten Künstler ganz demonstrativ den Regiestuhl
frei: Serebrennikows „Hänsel und Gretel“ gebe es in Stuttgart erst zu
sehen, wenn der Regisseur wieder in Freiheit sei, verspricht Wieler. Dessen
Amtszeit als Intendant in Stuttgart endet im Sommer. Keiner weiß, ob der
russische Staat bis dahin ein Einsehen hat. Aber die Einladung gelte
selbstverständlich auch für die Zeit danach, sagt Wieler.
Hänsel und Gretel,Premiere in der Stuttgarter Staatsoper: Sonntag, 18 Uhr
21 Oct 2017
## AUTOREN
Benno Stieber
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