# taz.de -- Podcaster über „Wohlstand für alle“: „Kapitalismus ist pure… | |
> Der Podcast „Wohlstand für Alle“ dekonstruiert Wirtschaftsmythen. Ein | |
> Gespräch mit den Machern über die Inflation und die Aktualität von Marx. | |
Bild: Kritisieren die dominanten Wirtschaftsmythen mit viel Idealismus: Ole Nym… | |
taz: Herr Schmitt, Herr Nymoen, warum machen Sie einen Podcast über | |
Wirtschaft? | |
Wolfgang M. Schmitt: Wirtschaftliche Themen sind im linken Spektrum | |
vollkommen unterrepräsentiert. Es wird über Identitätspolitik gestritten, | |
statt den Fokus auf die Wirtschaft zu legen. Dabei strukturiert sie die | |
Gesellschaft und sorgt für Ungleichheit im höchsten Maße.Wir wollen die | |
Hegemonie der neoklassischen Ökonomen angreifen, die in den bürgerlichen | |
Medien dominant ist. | |
Ole Nymoen: Wir wollen auch ein Gegengewicht zu den neoliberalen Ökonomen | |
bilden, die bei Youtube als paranoide Propheten den großen Crash | |
voraussagen und damit sechsstellige Klickzahlen einfahren. | |
„Wohlstand für Alle“ soll ein Gesprächs-, kein Laberpodcast sein. | |
WMS: Man kann ein komplexes wirtschaftliches Thema in 25 oder 30 Minuten | |
erklären, aber da darf man nicht ins Labern kommen. Deswegen strukturieren | |
wir das Ganze und greifen auch auf ein Skript zurück. Die Recherche dauert | |
viele Stunden, manchmal Tage. | |
In der ersten Folge sagen Sie: Der Podcast soll mit Mythen und Ammenmärchen | |
über Wirtschaft aufräumen. Welche? | |
WMS: Viele Menschen tun immer noch so, als seien Wirtschaftswissenschaften | |
Naturwissenschaften. Es sind aber Gesellschaftswissenschaften, eher wie die | |
Soziologie. | |
ON: Das größte Problem ist, dass die neoklassische Volkswirtschaftslehre | |
(VWL) [1][den Kapitalismus enthistorisiert] und naturalisiert. Da hat der | |
eine Kapital und der andere bietet seine Arbeitskraft an, und das wird als | |
das Natürlichste von der Welt dargestellt. Doch das ist pure Ideologie. | |
WMS: Und wenn man, wie wir, im Podcast auf die Historie blickt und sagt, na | |
ja, es hat schon mal andere Formen des Wirtschaftens gegeben, dann sieht | |
man eben: Wirtschaft verändert sich. | |
Warum ist es aus Ihrer Sicht ein Problem, wie in Deutschland über Geld und | |
Wirtschaft gesprochen wird? | |
ON: Der Diskurs hier ist besonders eigenartig. Der Ökonom Hans-Werner Sinn | |
ist ein gutes Beispiel: Er vertritt immer die Meinung der Kapitalseite, und | |
die, die dem sogenannten Wirtschaftsstandort Deutschland helfen würde. Das | |
ist immer nationalistisch gedacht, weswegen wir glauben, dass der Diskurs | |
in Deutschland gefährlich ist. | |
WMS: Ein Trick der herrschenden Meinung ist außerdem: Man tut so, als sei | |
Wirtschaft sehr komplex. Das ist aber gar nicht so. Ja, Staatsanleihen und | |
die Europäische Zentralbank kann man nicht in 30 Sekunden erklären. Aber | |
sehr viele Zusammenhänge sind relativ leicht zu verstehen, wenn man mit | |
wirklichem Erkenntnisinteresse daran geht. | |
Bei der Formulierung „herrschende Meinung“ liegt die Assoziation zur | |
Verschwörungstheorie nicht fern. Sind Sie Verschwörungstheoretiker? | |
WMS: Weil sie die herrschenden Verhältnisse infrage stellt und aufzeigt, | |
dass es auch anders gehen könnte. Selbstverständlich gibt es Interessen. | |
Die spiegeln sich auch darin wider, wer zum Beispiel die Möglichkeit hat, | |
die Bundesregierung zu beraten. Das sind in der Regel keine | |
Wirtschaftswissenschaftler, die auch ihren Marx gelesen haben. Das hat aber | |
nichts mit Verschwörungstheorie zu tun. Doch wenn man dem ökonomischen | |
Mainstream widerspricht, wird gerne so getan, als sei man | |
Verschwörungstheoretiker. | |
ON: Wir erleben zum Beispiel seit zehn Jahren, dass immer wieder gesagt | |
wird: Bald [2][kommt die Inflation] – doch sie kommt nicht. Da muss man | |
irgendwann mal sagen können: An dieser Theorie scheint irgendwas wirklich | |
faktisch falsch zu sein. | |
Was hat die Coronapandemie im Sprechen über Wirtschaft verändert? | |
WMS: Die Bundesregierung, die bisher die schwarze Null hochgehalten hat, | |
musste erkennen: Sie kann Geld ausgeben. Da wurde dann zwar gesagt: Das | |
können wir nur, weil wir so gut gespart haben. Aber das ist | |
selbstverständlich Unsinn, ein Staat funktioniert eben nicht wie die | |
schwäbische Hausfrau, nicht so, wie ein Privatmensch, der ein Konto hat. | |
ON: Unser Podcast wurde in den letzten Monaten viel öfter angehört. Anfangs | |
dachten wir, die Leute haben wegen Corona mehr Zeit. Aber auch seit die | |
Wirtschaft wieder angelaufen ist, bemerken wir steigende Zugriffszahlen. | |
Seit Kurzem beschäftigen Sie sich mit dem Philosophen und Ökonomen Karl | |
Marx. Was reizt Sie an ihm? | |
ON: Er zertrümmert Ideologien und versucht, das wirtschaftliche Geschehen | |
zu historisieren und die Verhältnisse kritisch zu hinterfragen. Der Podcast | |
hat ähnliche Motivationen. Was nicht heißt, dass wir ihn heiligsprechen – | |
in der Folge zum Klassenparadigma haben wir zum Beispiel die feministische | |
Kritik an Marx erklärt, und die lässt sich nicht einfach leugnen. Dennoch | |
gibt er uns gute Anhaltspunkte, wie wir auch [3][heute noch Ideologiekritik | |
üben] können. | |
WMS: Es gibt auch da wieder einen Mythos, dass Marx unverständlich ist. | |
Nein, er ist zwar ein komplizierter Autor, aber er hat auch viele Schriften | |
verfasst, die sehr einfach zu verstehen sind und mit denen man aktuell in | |
ökonomischen Debatten viel machen kann. Wir wollen dazu motivieren, sich | |
auch mit dem Werk von Marx auseinanderzusetzen, einfach mal „Das Kapital“ | |
aufzuschlagen und anfangen zu lesen. Man wird dort vieles entdecken, das | |
verblüfft, weil es bereits vor mehr als 150 Jahren gedacht worden ist. | |
17 Oct 2020 | |
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## AUTOREN | |
Benjamin Weber | |
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