# taz.de -- Pilotprojekt Grundeinkommen: Ohne Druck | |
> In Sarah Bäckers Leben ist gerade vieles ungewiss. Zum Glück bekommt sie | |
> 1.200 Euro monatlich geschenkt. Wie lebt es sich mit einem | |
> Grundeinkommen? | |
Bild: Sarah Bäcker in ihrer Berliner Wohnung: hoffnungsvoll dank monatlicher F… | |
Der großzügige Raum der Einzimmerwohnung ist ziemlich leer. Rechts an der | |
gespachtelten Wand lehnen die Teile des ehemaligen Hochbetts, ein | |
Lattenrost, graublaue Bretter. Neben dem Sofa steht hochkant die Matratze, | |
ein paar Kisten sind gestapelt. Die Architektin Sarah Bäcker baut ihr Heim | |
um. Es stehen große Dinge bevor. „Ich bin gerade erst fertig geworden, für | |
heute.“ Sie lacht und schnauft ein bisschen. | |
Mittlerweile ist ein gutes halbes Jahr vergangen, seit das Pilotprojekt | |
Grundeinkommen startete. 122 Leute erhalten drei Jahre lang 1.200 Euro | |
monatlich ohne Bedingungen und zusätzlich zu ihren normalen Einkommen. | |
Bäcker und zwei weitere TeilnehmerInnen besuchen wir regelmäßig. Wir wollen | |
herausfinden, wie das Grundeinkommen wirkt. Die experimentelle, | |
spendenfinanzierte Sozialleistung ist das Gegenteil von Hartz IV. Seit | |
dessen Einführung Mitte der 2000er Jahre läuft die Debatte über ein | |
Sozialmodell, das nicht auf Druck, Zwang und Strafen beruhen sollte. | |
Erstmals wird nun in Deutschland wissenschaftlich untersucht, welche | |
Auswirkungen so etwas in der Praxis haben könnte. | |
Bäcker, grün kariertes Hemd, Ponyfrisur, setzt sich auf einen der | |
50er-Jahre-Stühle am Esstisch nahe der Balkontür, wo kürzlich noch ihr | |
Hochbett stand. Sie lehnt sich zurück, legt die rechte Hand auf den Bauch, | |
atmet durch. Drei Stockwerke tiefer rumpelt die Straßenbahn vorbei – | |
Friedrichshain, ein angesagter Stadtteil Berlins mit vielen Bars und | |
Restaurants im ehemaligen Ostteil der Stadt. | |
Gegenüber vom Tisch steht schon die weiße Wickelkommode. Heute ist der | |
erste Tag des Mutterschutzes. Im März wird ihr Kind zur Welt kommen. | |
Schwanger wurde Bäcker im Juni, dem Monat der ersten Auszahlung des | |
Grundeinkommens. „Es ist ein absolut nicht geplantes Kind“, sagt die | |
40-Jährige, „und eine noch viel größere Überraschung, als für das | |
Grundeinkommen ausgewählt worden zu sein.“ | |
Lässt sich sagen, dass das Grundeinkommen zur Schwangerschaft beitrug? In | |
dem Sinne, dass eine neue Entspannung in ihrem Leben eintrat? Nein, so will | |
Sarah Bäcker es nicht formulieren. „Ich habe immer sehr intensiv | |
gearbeitet, viele Wochenende auch.“ Einerseits hat sie eine halbe feste | |
Stelle in einem Architekturbüro, andererseits betreibt sie eine eigene | |
Agentur als Ausstellungsmacherin – eine anspruchsvolle Tätigkeit, die sich | |
nicht immer rechnet. Viel mehr Energie sei „in den Job geflossen als in die | |
Partnerschaftssuche. Dabei habe ich vielleicht das Zeitfenster verpasst“. | |
Früher war ihre Stimmung: „Kein Drama“, wenn sie kinderlos bliebe, „wobei | |
ich das auch hinterfragte. Nun denke ich: Ein Kind war durchaus Teil meines | |
Lebenswunschs“. | |
Und alles sei „ein bisschen schicksalhaft“. Weil es das Leben gut mit ihr | |
meint. Denn einer Wirkung des Grundeinkommens ist Bäcker sich gewiss: Es | |
macht vieles leichter. Normalerweise erhielte sie nun auf Basis ihrer | |
halben Stelle nur 800 Euro Elterngeld. „Das wäre ziemlich sportlich.“ Dann | |
würde sie wieder auf studentischem Finanzniveau leben. Nun aber kommen die | |
1.200 Euro regelmäßig dazu. Mit 2.000 Euro monatlich kann sie gut | |
haushalten. „Wenn das nicht wäre, würde ich mich unglaublich stressen.“ | |
Das zusätzliche Geld bietet Sicherheit, es eröffnet Optionen, und es | |
bedeutet Autonomie. Der Papa des Kinds ist zwar vorhanden, er wird sich | |
auch kümmern. Die beiden leben aber nicht in einer festen Beziehung, Bäcker | |
begreift sich eher alleinerziehend. „Dennoch fühle ich mich unabhängig und | |
frei.“ | |
Beispielsweise bestehe keine Notwendigkeit, „nach sechs Monaten unbedingt | |
eine Tagesmutter finden zu müssen – und dann eine Kita, in der sich das | |
Kind wohlfühlt“. Bäcker kann sich etwas mehr Zeit lassen. Sie muss auch | |
nicht unbedingt so schnell wie möglich in den Job zurück, um Geld zu | |
verdienen. Wobei sie selbstredend bald wieder arbeiten wolle. Sie geht | |
davon aus, dass sie nach einem Jahr per Teilzeit allmählich wieder | |
einsteigt. „Es fühlt sich nicht so belastend an, ich verspüre keinen | |
Druck“, sagt sie, „ich kann das Tempo gehen, das gut für mich ist.“ | |
Sie denkt an ihre Mutter, die in den 1980er Jahren ihren Beruf aufgab, um | |
die Kinder zu erziehen. Der Vater bestritt den finanziellen | |
Lebensunterhalt. Selbst nach der Trennung der Eltern ist die Mutter | |
finanziell abhängig von ihrem Ex-Partner, weil ihre Rente nicht reicht. | |
Auch dank des Grundeinkommens „stecke ich mit Kind nicht in dieser | |
Abhängigkeitsfalle“. Sie müsse „niemanden um Hilfe bitten“. | |
[1][Jürgen Schupp] leitet den wissenschaftlichen Teil des Pilotprojekts. Er | |
bringt die potenziellen Wirkungen einer solchen Sozialleistung auf diesen | |
Nenner: „Sie kann helfen, knappes Humankapital optimal auszuschöpfen.“ Der | |
Satz klingt kälter als gemeint. Schupp ist Soziologie-Professor an der | |
Freien Universität Berlin und Arbeitsmarktexperte des Deutschen Instituts | |
für Wirtschaftsforschung, man kennt es abgekürzt als DIW. Er kritisiert das | |
hartherzige Hartz-IV-Regime und möchte einen Sozialstaat mit mehr | |
individueller Selbstbestimmung auf den Weg bringen. | |
Was er sagen will: Weil die geburtenstarken Jahrgänge der 1960er Jahre | |
allmählich in Rente gehen, nimmt der Mangel an Arbeitskräften zu. Da | |
scheint es geboten, dass möglichst viele Leute möglichst lange tätig | |
bleiben. Das aber geht nur, wenn ihr Arbeitsleben so angenehm wie irgend | |
machbar verläuft. Heißt: Wer selbstbestimmt und entspannt arbeitet, bleibt | |
körperlich und psychisch gesund. Wer Optionen wahrnehmen kann wie Bäcker, | |
anstatt nur auf der Galeere der Lohnarbeit zu rudern, ist produktiver, | |
länger in Arbeit und eher für die Gemeinschaft engagiert. „Deshalb ist ein | |
Grundeinkommen vernünftig“, sagt Schupp. | |
Aber wäre das, heute flächendeckend eingeführt, nicht [2][total teuer]? Ein | |
Rechenbeispiel: Erhielten 80 Millionen Bundesbürger:innen jeweils | |
10.000 Euro pro Jahr, kostete das die Gesellschaft 800 Milliarden Euro – | |
eine utopische Größenordnung. | |
Realistisch wäre dagegen eine Art Mini-Grundeinkommen. Alle | |
Einwohner:innen könnten das Recht bekommen, einmal im Leben 10.000 Euro | |
zusätzlich vom Staat zu erhalten, um ein Jahr freizunehmen, sich ums Kind | |
zu kümmern, eine Fortbildung zu buchen, eine Firma aufzumachen – egal was, | |
ohne Bedingungen. Als Arbeitsministerin hat Andrea Nahles (SPD) so etwas | |
Ähnliches mal vorgeschlagen. Unter dem Stichwort „Grunderbe“ ist die Idee | |
derzeit in der Diskussion. Das ließe sich mit niedrigen zweistelligen | |
Milliardenbeträgen pro Jahr finanzieren. | |
Ein anderes Vorhaben, das laut Schupp in eine vergleichbare Richtung gehen | |
könnte, steht schon im Koalitionsvertrag der Ampel-Regierung: [3][das | |
Klimageld]. Alle Bürger:innen bekämen pro Kopf Jahr für Jahr eine | |
identische Summe ausgezahlt als Ausgleich für die steigenden Energiekosten | |
zur Senkung des Kohlendioxidausstoßes. | |
Alles noch unklar, Sarah Bäckers nächster Schritt ist konkret. Sie wird das | |
Kinderbett aufstellen – vielleicht kommt es dahin, wo sie jetzt am Esstisch | |
sitzt. Oder soll dort das Sofa stehen? Ein paar Wochen Zeit sind noch. | |
28 Feb 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://www.diw.de/de/diw_01.c.10926.de/personen/schupp__juergen.html | |
[2] /Bedingungsloses-Grundeinkommen/!5813944 | |
[3] /Neue-Studie-zu-Klimageld/!5831678 | |
## AUTOREN | |
Hannes Koch | |
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